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Claude Chabrol – Ein Interview

„Ich war nie Kommunist. Ich war nur Sympathisant“

| Daniel Kothenschulte |

Vor fünfzig Jahren inszenierte er mit „Le Beau Serge seinen ersten Film, zuletzt brachte Claude Chabrol seinen „Thriller La Fille coupée en deux“ ins Kino, eine neuerliche Variation seines Lebensthemas über die Macht des bürgerlichen Establishments, das in diesem Fall eine junge Fernsehansagerin unter ihre unseligen Fittiche nimmt. Dabei skizzierte der französische Filmemacher die eigentliche Intrige einer tragischen Schönheit zwischen zwei Männern nur sehr grob und blieb manche psychologische Erklärungen schuldig. Umso schärfer beobachtete er jedoch das äußere Erscheinungsbild einer Gesellschaft, die allein um Statusfragen kreist. Fragen der dramaturgischen Logik oder der Psychologie verlieren in den jüngeren Filmen des mittlerweile 78-jährigen Chabrol auf interessante Weise an Bedeutung, während Details messerscharf hervortreten. Wie verhält sich das Berufsethos des Filmemachers zu dem des jungen Kritikers, der Hitchcock leidenschaftlich verehrte und am Kanon des Autorenkinos mitschrieb? Wie treu sich der kritische Geist der Nouvelle Vague nach einem halben Jahrhundert Filmarbeit und der Protagonist des politischen Kinos der Zeit um 1968 geblieben ist, wollten wir in dem folgenden ausführlichen Gespräch erfahren.

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Lieber Herr Chabrol, Sie antworten mir auf Französisch, wie haben Sie eigentlich damals mit Hitchcock kommuniziert?
Ich habe damals mit Hitchcock englisch gesprochen. Aber ich habe gemerkt, dass man  Sprache – im Gegenteil zum Fahrradfahren – durchaus verlernen kann. Seit dreißig Jahren habe ich schon nicht mehr englisch gesprochen. Um nicht Blödsinn zu erzählen und allzu lang nach den richtigen Worten suchen zu müssen, spreche ich lieber französisch.

Man hat heute fast vergessen, dass Sie ja der Erste waren, der mit Hitchcock ein umfassendes Interview geführt haben. Truffaut, Ihr Mitstreiter bei der Nouvelle Vague, hat es ja erst nachgemacht. Gab es da keine Eifersucht?
Nein, nein, im Gegenteil, ich finde Truffauts Arbeit wunderbar. Ich muss sogar gestehen, dass mir die Idee, einen Monat mit Hitchcock zu verbringen, nicht gekommen wäre. Das hätte mich wohl gelangweilt. Sein Buch über Hitchcock ist zweifellos eins der besten übers Kino. Nein, ich bin absolut nicht eifersüchtig auf Truffaut.

Wie Ihre Freunde Godard, Rohmer und Rivette kamen Sie als Kritiker zum Film. Würden Sie zustimmen, dass die Filmkritik damals ein höheres Ansehen genoss?
Aber ja, das hat sich verändert, und es gibt auch einen Grund dafür. Wir haben uns damals für Intellektuelle gehalten. Man hat uns ernst genommen. Unsere Generation hatte ein besonderes Privileg: Während des Krieges konnte man keine amerikanischen Filme sehen, und auf einmal, innerhalb von anderthalb Jahren, schwappten vier Jahre amerikanisches Kino nach Europa. Das hat uns stark beeinflusst. Unsere Arbeit als Kritiker hat uns sehr gut getan.

Warum hat die Kritik dieses Ansehen denn heute eingebüßt?
Ob die Filmkritik im intellektuellen Diskurs an Bedeutung verloren hat? Kommerzielle, gängige Filme ziehen unabhängig von der Kritik die Leute an. Für andere, interessantere Filme kann eine gute Kritik bedeutsam sein. Aber das Problem heute ist, dass Filmkritiker, abgesehen natürlich von einigen Cinephilen, über die Filmgeschichte nur sehr schlecht Bescheid wissen. Was sie schreiben ist lächerlich. Das amüsiert natürlich die Filmemacher. Es kommt hin und wieder vor, dass ich Kritiken zum Totlachen finde. Abgesehen davon neigen manche Filmemacher heute dazu, Kritiker intelligent zu finden, die ihre Filme mögen und solche dumm, die schlecht über sie schreiben … So sind eben die Spielregeln! (Lacht.)

Aber war nicht in den Sechziger Jahren das Kino einfach das Leitmedium, für das sich die Intellektuellen einfach interessieren mussten?
Darüber sind sich alle einig: In den Sechziger Jahren gab es wesentlich mehr Filme, die nicht nur auf Unterhaltung abzielten, sondern vielmehr versuchten, Lebensansichten mitzuteilen. Wenn Sie fragen, weshalb heute die meisten Intellektuellen dazu neigen, eine Kommerzialisierung des Kinos zu bemängeln: Immer mehr Filme gehorchen der bewährten Strategie Hollywoods.Was einmal gefällt, wird auch ein zweites Mal gefallen. So geht’s immer weiter. Es wird immer auf die gleichen Versatzstücke zurückgegriffen, ob nun versteckt oder offensichtlich. Man imitiert zum Teil auch erfolgreiche Filme. Filme, die ich „Erfolg der Faulheit“ („Succés de paresse“, Anm.) nenne, weil sie zwar sehr viele Zuschauer erreichen, aber geistig nicht fordern. Sie verleiten sie lieber zur Faulheit. Um gute Filme handelt es sich dabei nicht. Der Zuschauer wird geistig immer fauler.

Für  diese Denkfaulen machen Sie Ihre Filme ja nicht gerade. Aber könnte es vielleicht sein, dass heute gerade jenes Bürgertum ihr treuestes Publikum geworden ist, das Sie in Ihren Filmen auf die Schippe nehmen?
Diese Geschichte mit der Bourgeoisie amüsiert mich. Es ist schon lustig, dass ich immer auf die Bourgeoisie angesprochen werde. Immerhin spielt fast nur die Hälfte meiner Filme in der Bourgeoisie. Ich denke das kommt daher, dass diese den meisten Erfolg beim Publikum hatten …

Natürlich wird man Ihnen nicht gerecht, wenn man Sie nur mit Ihren Thrillern identifiziert. Aber schon Cecil B. DeMille blieb für die Menschen der Monumentalfilmer, obwohl er viel mehr Komödien drehte.
Ja, das stimmt, erst recht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Cecil B. DeMille auch nie einen Monumentalfilm gedreht hat. Das ist schon komisch. Er hat Western und biblische Filme gemacht, aber nie einen Monumentalfilm. Cleopatra vielleicht, aber das ja eigentlich kein richtiger Monumentalfilm, sondern eher ein „Badezimmerfilm“ – Kleopatra badet sich in der Milch eines Esels, … guter Film! Die Menschen klassifizieren gerne, wollen einen immer in irgendeine Schublade stecken. Das stört mich aber nicht. Mir ist das egal. Das raubt mir nicht den Schlaf. Ich würde es nur bevorzugen, wenn man exakter wäre. Aber es raubt mir nicht den Schlaf.

Sehen Sie sich vielleicht als Opfer der „politique des auteurs“, die sie selbst als Kritiker der „Cahiers du cinéma“ miterfanden?
Nein, ich bin nicht das Opfer meiner Politik. Hinzu kommt, dass sich in den Neunzigern, nach dem Mauerfall, die Gesellschaft dahingehend weiterentwickelt hat, dass es keine Klassen mehr gibt. Es gibt nur noch eine zentrale, die Bourgeoisie, in die alle rein wollen. Es gibt also nur noch eine Klasse, die allerdings mehrere Schichten hat. Man könnte den Eindruck bekommen, dass eine Art Big Brother alles überwacht und uns in Hampelmänner verwandelt.

Da kann einem die Bourgeoisie ja fast leid tun …
Da es nur noch eine Klasse gibt, zählt nur noch das Geld als soziale Leiter. Das ist das amerikanische System, was insofern gefährlich ist, als es Zynismus schürt. Was mich dabei amüsiert und bewegt: In Europa versucht man momentan immer häufiger, Eigentum zu erwerben. Aber gleichzeitig fordert man extreme Flexibilität auf dem Arbeitssektor. Das ist absolut widersprüchlich! (Lacht.) Der Besitz von Privateigentum impliziert schließlich, dass man an einem Ort bleibt. All das ist das Resultat eines Wirtschaftssystems, das darin besteht, die Menschen äußeren Faktoren zu unterwerfen und ihre Freiheit einzuschränken. Ich denke wirklich, dass unsere Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wir werden zwar nicht unterdrückt, aber unsere Freiheit wird immer mehr eingeschränkt. Das glaube ich wirklich.

Sind Sie vielleicht noch Kommunist?
Ich war nie Kommunist, denn ich war immer Antistalinist. Dass der Mann verrückt war, wusste ich immer. Allerdings war ich Marxist. Ein etwas spezieller, denn meiner Meinung nach ist die marxistische Theorie ziemlich pazifistisch. Weil sie wahre, soziale Beziehungen ermöglicht, die zu einer harmonischen Entwicklung führen, sobald der Klassenkampf überwunden ist und sich wirkliche Zusammengehörigkeit ergibt. Das fand ich sehr interessant. Nein, ich war nie Kommunist, aber die militanten Kommunisten außerhalb des Ostblocks standen dieser Idee nahe. Es gab ein Zusammenhörigkeitsgefühl, eine Kooperation, die mir gefiel. Ich war wohl eher eine Art Sympathisant.

In Russland wächst gerade eine neue Art von Geldaristokratie heran …
Ich war dort das letzte Mal in den Achtzigern, noch unter Gorbatschow. Was mich ziemlich erschüttert hat, waren die vielen Leute, die im Flughafen geschlafen haben. In der französischen Botschaft hat man mir einen Anzug geklaut. Die Entwicklung hin zum heutigen Russland hatte da schon begonnen: Einerseits die Fabrikation der Armut und andererseits die steigende Zahl von Dieben.

Ihr jüngster Film, La Fille coupée en deux, scheint mir die langsame Veränderung ihres Stils zu bestätigen: Sie interessieren sich immer weniger für die Plots und immer mehr für die Details, die Nebensachen des Lebens …
Schön, dass Sie das erkannt haben. Es ist wahr, dass die Intrige und der Plot immer unwichtiger werden. Dafür werden die Charaktere für mich immer wichtiger. Ich fühle mich dem Thema gegenüber freier. Und gleichzeitig auch sicherer. Vor etwa zehn, zwölf Jahren war ich noch bei Drehbeginn nervös. Das bin ich heute nicht mehr. Ich bin nur noch glücklich und ich denke, das merkt man meinen Filmen auch an. Ich denke sogar, die Filme sind glücklich, dass es sie gibt. Die Zuschauer vielleicht nicht, aber die Filme. (Lacht.)

Diese Liebe zu den Details der Gesellschaft erinnert mich an Proust. Sehen Sie sich als Chronist einer anderen Zeitenwende?
Natürlich, ich versuche in der jeweiligen Realität der Zeit zu bleiben und auch die subtilsten Veränderungen, zu denen es in einem bestimmten Moment im Verhalten der Menschen kommen kann, wahrzunehmen. 1981 zum Beispiel, als die Linke das erste Mal seit Ewigkeiten an die Macht kam, habe ich gemerkt, dass sich die „wichtigen Leute“ in der Provinz, der Bürgermeister etc. anders verhalten. Sie waren sich ihrer Macht plötzlich nicht mehr sicher. Es hatte sich etwas verändert, was ich in Filmen wie Poulet au vinaigre (1985) zeigen wollte. Aber ich bin sehr, sehr stolz darauf, dass mich Marc Féraud, ein sehr guter französischer Historiker, einmal als einen der besten Chronisten unserer Zeit bezeichnet hat.

Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie nur noch zu Ihrem eigenen Vergnügen Filme drehen.
Wenn ich filme, dann mache ich diese Arbeit nur für mich. Die Filme hingegen mache ich auch für das Publikum. Aber das Filmen – das mache ich nur für mich. Ich gehöre zu den Leuten, die sich nicht fähig fühlen, Meisterwerke zu schaffen. Wenn ich etwas als perfekt betrachtete, würde ich im nächsten Moment laut loslachen, denn ich fände sofort etwas, was mir nicht gefiele. Teilweise habe ich mich aber gezwungen gesehen, Filme zu drehen, die Produzenten gefielen, mir jedoch nicht so viel bedeuteten. Danach habe ich wieder einen gedreht, der mir mehr am Herzen lag. Das war sozusagen nötig, damit mich die Leute nicht für einen absoluten Witzbold halten. Das ist eine Art Spiel mit der Filmbranche.

Dieses Spiel könnte man auch als Kompromissbereitschaft missdeuten. Godard hatte seinerzeit einen strengeren Anspruch. Entstanden daraus nicht ernsthafte Konflikte?
Die Leute haben nicht verstanden, dass wir sehr unterschiedlich waren. Es ist nur normal, dass wir verschiedene Wege eingeschlagen haben. Aber es stimmt schon, dass wir uns nicht regelmäßig sehen, aber wenn, dann freuen wir uns sehr und sprechen auch sehr offen darüber, was wir an den Filmen der anderen mochten und was nicht. Ich finde das gesund. Es gibt Filme von Godard, die ich nicht mag und auch welche, die mir richtig gut gefallen. Ich finde Histoire(s) du cinéma zum Beispiel absolut wunderbar. Seinen letzten Spielfilm hingegen fand ich äußerst langweilig. Meine Frau und meine Kinder übrigens auch. (Lacht.) So ist es eben. Die Zuneigung ist uns wichtiger als der Bezug zum Werk. Schließlich haben wir immerhin eine besondere Zeit zusammen erlebt.

Gehen Sie eigentlich noch viel ins Kino?
Ich kenne mich ganz gut aus bei den Filmen vor 1980. Ich glaube, da habe ich so alles gesehen, was interessant ist. Ganz sicher bin ich da allerdings nicht, denn es kommt manchmal auch vor, dass ich einen interessanten Film im Fernsehen entdecke, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte. In den Achtziger Jahren hat sich das amerikanische und auch das internationale Kino verändert. Ich nenne es „Hollywoodisation“ der Produktion, das heißt, die Leute neigen seitdem dazu, die finanzielle Seite des Filmes gegenüber der künstlerischen zu bevorzugen. Das was die poetische Schönheit früherer Filme auszeichnete, waren Produzenten, die darauf achteten, ein Gleichgewicht zwischen finanziellem und künstlerischem Erfolg zu schaffen und dabei auch einen intellektuellen Anspruch mit einzubeziehen. Heute aber zählt nur noch die Kohle. Es ist ein reines Kassengeschäft geworden, was man vor allem bei den Serien sieht: 1, 2, 3, 4, 5, … bis es aufhört. Ich warte auf den allerletzten James Bond, der, nach dem keiner mehr kommt. Ich glaube danach wird es besser.

Wenn in den „Cahiers du cinéma“ Verrisse erschienen, und es gab ja eine Menge, dann sprach daraus oft leidenschaftliche Enttäuschung. Zum Beispiel war man von Otto Premingers Film Bonjour Tristesse enttäuscht, einem Film, der sich, wie ich finde, dann sehr gut gehalten hat. Sind Sie als Regisseur mit den eigenen Werken weniger kritisch?
Ja, ich erkläre es Ihnen. Ich hatte das große Glück, niemals einen enormen Erfolg gehabt zu haben. Ich hatte einen oder zwei große Misserfolge, aber nie einen großen Erfolg. Die meisten meiner Filme waren „angemessene Filme“ in Bezug auf Kosten und Gewinn. Sobald man aber einen enormen Erfolg hatte, treibt einen nichts mehr dazu an, es erneut zu versuchen und einen vergleichbaren Erfolg zu erzielen. Und ich muss sagen, dass es unter den Filmemachern, die mal einen enormen Erfolg hatten, meines Wissens nach nur einen gibt, der diesem Dilemma ausweichen konnte und auf den das nicht zutrifft: François Truffaut. Nach Le Dernier metro, der in Frankreich unglaublich erfolgreich lief, drehte Truffaut einen Film, von dem er wusste, dass er nicht so erfolgreich sein konnte, La Femme d’à côté, der wesentlich schwieriger und komplizierter war. Das hat ihn immens befreit. Ich finde das von ihm sehr intelligent und auch künstlerisch integer.

Wie von Konzertdirigenten und kirchlichen Würdenträger erwartet man von Filmemachern, dass sie bis zu ihrem Tod weiterarbeiten ….
Deshalb muss man weitermachen. (Lacht.) Aber es gibt ein wunderbares internationales Vorbild: Manoel de Oliveira, der heuer hundert wird und endlich seinen Traum, der erste hundertjährige Regisseur zu sein, verwirklichen kann. Er wird also noch mit 101 Jahren Filme drehen. Das begeistert mich sehr. Jetzt geht es weiter: Rohmer ist 88 Jahre und Resnais auch. Dass Leute mit Mitte 60 aufhören, gehört der Vergangenheit an. Das ist total altmodisch. Man muss weitermachen. Was ich gerne mache, umso mehr, als es mich mehr anstrengt nichts zu machen. Wenn ich drehe, fühle ich mich wohler als wenn ich nichts mache. Also mache ich Filme. Es dient gewissermaßen meiner Gesundheit.

Sie könnten sich nicht vorstellen, Rosen zu züchten?
Ehrlich gesagt, nein. Aber ich könnte mir vorstellen, Wasserhähne zu reparieren. Ich bin ein guter Klempner. Das gehört zu jenen Dingen, die mir Spaß machen.