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Dossier – Animationsfilm – Opulenz und Beschränkung

Opulenz und Beschränkung

| Daniel Kothenschulte |

Von den animierten Kreidezeichnungen des Stummfilms zum modernen Experiment: Ein Streifzug durch die Stilgeschichte des klassischen Anime.

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Abgesehen von ein paar Markennamen und dem Gruß Sayonara ist heute wahrscheinlich kein japanisches Wort weltbekannter als „Anime“. Doch das war nicht immer so. Seit gut 80 Jahren werden in Japan gezeichnete Bilder in Bewegung gesetzt, doch erst Ende der Achtziger Jahre erwachte das internationale Interesse an einer spezifisch japanischen Ausprägung des Zeichentrickfilms. Die Filme Akira (1988) von Otomo Katsuhiro und Kokaku kidotai (1995, Ghost in the Shell) von Oshii Mamoru waren die Türöffner in der Filmwelt, so wie ihre Manga-Vorlagen bereits immense Beachtung in der internationalen Comicszene gefunden hatten. Von einem Durchbruch in der westlichen Filmöffentlichkeit allerdings konnte damals noch nicht die Rede sein.

Ich erinnere mich, wie der bis dahin erfolgreichste Anime der Geschichte, längst anerkannt als Meisterwerk dieser Kunstform, Mononoke hime (1997, Prinzessin Mononoke) von Miyazaki Hayao, im Februar 1998 als offizieller Abschlussfilm der Berlinale aufgeführt wurde. Nur ein paar versprengte Kritiker besuchten die Pressevorführung der Studio Ghibli-Produktion, von der erhofften Öffnung der westlichen Filmkunstszene für eine lange unbeachtete Filmkultur konnte keine Rede sein.1 Der internationale Rechteinhaber Buena Vista International, der Verleiharm von Disney, hielt den Film noch lange zurück, sodass er erst im November 1999 in den USA starten konnte und schließlich im April 2001, vier Jahre nach seiner Fertigstellung, den deutschsprachigen Kinomarkt erreichte. Doch anders als bei seiner Erstaufführung drei Jahre zuvor traf Miyazakis Fantasydrama nun auf tatkräftige Vermittlung. Eine sprunghaft angewachsene Fangemeinde, die den Film bereits in anderen Medien kennen gelernt und den Disney-Konzern zu einem Kinoeinsatz gedrängt hatte, feierte den Erfolg.

Der Anime war plötzlich ein Phänomen, über das nicht nur in den Feuilletons, sondern auch in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen ausführlich berichtet wurde. Anime war ein Begriff. Damit begann jedoch auch eine neue thematische und stilistische Eingrenzung. Im stark vereinfachenden Ordnungssystem des DVD-Handels und weiter Teile der Filmpublizistik wird der Terminus Anime analog zu den gängigen Genrekategorien verwendet. Dabei ist der Anime natürlich kein Genre, sondern eine Filmform, die sich gerade durch einen besonderen Genrepluralismus auszeichnet – stärker als der abendfüllende Zeichentrickfilm amerikanischer Prägung, der von komödiantischen oder märchenhaften Spielarten des Familienfilms dominiert wird. Zweifellos hat der jüngere japanische Animationsfilm thematische Vorlieben und entwickelte etwa im Science-Fiction- und Roboterfilm eine unverwechselbare Prägung dieser Genres. Auch im Erotik- und Sexfilm eroberte der Anime dem Zeichentrickfilm eine eigenständige Spielfläche, die von den künstlerisch ambitionierten Tezuka-Produktionen Senya ichiya monogatari (Arabian Nights, 1969) und Kureopetora (Cleopatra: Queen of Sex, 1970) erschlossen wurde, doch erst mit dem Videomarkt in den Achtziger Jahren boomte. Tatsächlich erwiesen sich erotische Anime als Exportschlager der japanischen Trickfilmindustrie, was sogar zur absurden Medienlegende führte, alle Anime seien pornografisch.

Obwohl die thematische Vielfalt immer wieder in Artikeln hervorgehoben wird, scheint von der ästhetischen Bandbreite des japanischen Animationsfilms wenig bekannt. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass der auf das Fanpublikum zielende DVD-Markt sehr bewusst Werke vernachlässigt, die sich nicht in eine wiedererkennbare Studioästhetik fügen. So gibt es ein hochspezialisiertes Nischenpublikum für die seriellen Animes und prestigeträchtige Kinofilme der letzten zwei Jahrzehnte, doch selbst einige der bekanntesten Klassiker der Studios Toei und Tezuka aus den 1980er Jahren gelten als Raritäten. Ähnlich wie der Bollywood-Boom lediglich einem – zugegeben ökonomisch bestimmenden – Ausschnitt der indischen Filmkultur zu internationalem Ansehen verholfen hat, hat sich der Westen seinen eigenen Anime-Begriff gemacht. Wer würde etwa die lyrisch-finsteren Puppentrickfilme eines Kawamoto Kihashiro mit diesem Begriff assoziieren – einem der angesehensten Filmkünstler Japans und seit dem Tod Tezuka Osamus Präsident der Japan Animation Association? Der Puppenbauer Kawamoto kam über die Kinderbuchillustration zum Animationsfilm, den er beim tschechischen Meister Jiri Trnka erlernte. Die stille Poesie dieser oft pantomimischen Stop-Motion-Tradition fügte sich in Kawamotos Hand vorzüglich in die Ästhetik traditionell-japanischer Bühnenbilder und fand in mythologischen Geistergeschichten ihr bevorzugtes Sujet. Im Kurzfilm Oni (Demon, 1972) werden zwei Brüder auf der Jagd von einem Waldgeist angegriffen. Sie schlagen ihm einen Arm ab und kehren zu ihrer Mutter zurück, die sie nun ebenfalls einarmig vorfinden. In seiner Stimmung ähnlich Kobayashi Masakis berühmtem Episodenfilm Kaidan (1964), beruht dieser neunminütige Kurzflm auf der selben mythologischen Vorlage wie Miyazakis Meisterwerk Kaze no tani no Naushika (1984, Nausicaa of the Valley of the Wind).

Gründerfigur Tezuka Osamu

Wie so oft im japanischen Kino sind Kunstfilm und visuelle Populärkultur im Anime eng miteinander vernetzt. Das hierarchische Wertesystem des Westens, das stark zwischen Hoch- und Populärkultur differenziert, lässt sich kaum auf eine Kultur übertragen, die Manga-Autoren grundsätzlich mit dem gleichen Respekt begegnet wie berühmten Literaten oder Malern. Man wird Anime nicht gerecht, wenn man ihn auf den seriellen Erzählfilm auf Manga-Basis reduziert. Und ausgerechnet das Werk eines Mannes, der zu Lebzeiten als „Gott des Manga“ verehrt wurde, verdeutlicht diese Vielfalt am besten: Tezuka Osamu (1928–1989).

So wie der amerikanische Zeichentrickfilm lange nur in direkter Abstammung (oder auch rebellischer Abgrenzung) vom Übervater Walt Disney definiert war, scheinen auch nach mehr als fünf Jahrzehnten für die meisten populären Anime-Charaktere die stechenden Kulleraugen der Tezuka-Figuren obligatorisch. Sein früher Serienheld Tetsuwan Atomu (1963–1966, Astro Boy) hat in der Trickfilmgeschichte jetzt schon mehr Nachkommen als eine durchaus zeugungsfähige Maus namens Mickey. Tezukas ursprünglich Captain Atom betitelter Manga war 1951 erstmals im Magazin Shonen erschienen und entwickelte sich zur populärsten Serie seiner Zeit. Die Titelfigur, ein ewig-jugendlicher Roboter, den ein sterbender Wissenschaftler programmiert, Gutes zu tun, kombiniert Motive aus Pinocchio, Peter Pan und Superman und eignete sich vorzüglich für eine kostengünstige, limitierte Adaption. Doch so wegweisend Tezukas Formel für Limited Animation, für den Anime sein sollte, so viele Nachahmer seine Genrerezeptur aus Futurismus, künstlichem Leben und einem Hauch jener Melancholie, mit der man gern die Unschuld betrachtet, finden sollte – Tezuka blieb ein Avantgardist, der zeitlebens dem experimentellen Kurztrickfilm treu blieb. Ebenso wie die reiche japanische industrielle Filmkultur eben nur im Dialog mit ihren Avantgarden denkbar ist, lässt sich auch der Anime nicht auf seine industrielle Produktionsweise und eine verbindende Stilistik reduzieren. In der Bandbreite von Tezuka Osamus Karriere verdichtet sich beispielhaft der weite künstlerische Radius der japanischen Animationsfilmkultur.

Denn Tezuka verstand diese Filmgattung in der Gesamtheit ihrer Möglichkeiten. Wenn er als der „japanische Walt Disney“ tituliert wurde, sollte man dieses Attribut nicht auf die Popularität seiner Serienfiguren reduzieren – der Volkstümlichkeit von Kimba, dem weißen Löwen, und der darin vermittelten archetypischen Vater-Sohn-Beziehung im Tierreich. Während Disney am Ende seiner Karriere das Interesse am Animationsfilm weitgehend verloren hatte, verstand Tezuka seine Kurzfilme geradezu als Jungbrunnen eines visuellen Humors, der mit den Jahren immer erstaunlichere Resultate hervorbrachte. Tenrankai no e (1966, Pictures at an Exhibition) begibt sich auf den ersten Blick in die Fußstapfen von Disneys Fantasia (USA 1940): Das bekannte Klavierstück Mussorgskijs wird zur Grundlage einer aufwändigen Visualisierung in CinemaScope. Dabei wechseln aufwändig animierte Sequenzen mit einfachen karikierten Linienzeichnungen ab, visuelle Ironie und musikalisches Pathos gehen eine ureigene Verbindung ein. Das Ergebnis ist gleichermaßen anarchisch wie gediegen und auf gewisse Weise durchaus „disneyesk“ in seinem störrischen Antimodernismus.

Wie Disney entdeckte Tezuka relativ früh die Chancen des Fernsehens und sah darin zunächst eine Vermarktungsplattform für seine Mangas – auch wenn die Adaptionen von Astro Boy, Janguru taitei (1964, Kimba, der weiße Löwe) und Ribon no Kishi (1967–1968, Princess Knight) seine Manga-Helden erst wirklich weltbekannt machen sollte. Als seine Produktionsfirma Mushi Pro in eine wirtschaftliche Krise geriet und nach Neuorientierung abseits der Kinderunterhaltung suchte, produzierte Tezuka den Erwachsenenstoff: Senya Ichiya Monogatari (1969, Arabian Nights)2. Dieses einzigartige Werk markiert die Schnittstelle zwischen Tezukas kommerziellem und avantgardistischem Werk.

Die Eroberung des US-amerikanischen Marktes gelang 1965 mit der Fernsehserie Janguru taitei (1965, Kimba, The White
Lion)
, die in Koproduktion mit dem US-Sender NBC entstand – unter deutlicher Einbeziehung amerikanischer Sehgewohnheiten. Die Episoden um den tapferen, vom Geist seines toten Vaters beratenen Löwenjungen mussten in sich abgeschlossen sein und verzichteten auf den epischen Verlauf des originalen Manga von 1950. Die finanziellen Vorteile dieser Koproduktion eröffneten allerdings auch die Möglichkeit, erstmals eine Anime-Serie in Farbe zu produzieren. Deutlich beeinflusst von Disneys Bambi (USA 1942) setzte die Serie einen im westlichen Seriencartoon unbekannten melancholischen Akzent – ein überaus erfolgreiches Rezept, wie sich indirekt noch einmal 1994 zeigen sollte, als der Disney-Konzern einen thematisch verblüffend ähnlichen Animationsfilm mit dem Titel The Lion King (USA 1994, König der Löwen) um einen Protagonisten namens Simba herausbrachte. Die Verantwortlichen bei Disney beteuerten später, von der drei Jahrzehnte alten Serie der Tezuka Productions noch nie gehört
zu haben. 1977 erreichte die Serie die Programme von ORF und ZDF. Für den damals zehnjährigen Autor dieses Textes, einen passionierten DisneyFan, war dies eine irritierende Erfahrung. Sicherlich hat die heutige Akzeptanz des Anime in den westlichen Ländern mit kleinen Saatkörnern wie diesem zu tun: Wer sich als Kind mit dieser Ästhetik auseinander setzen musste und sie gegenüber den qualitativen Vorbehalten der Erwachsenenwelt vertei-digte, wird dem Anime stets mit einem Vertrauensvorschuss begegnen.

Verfilmter Lesestoff

Weit populärer als Kimba war in Europa Takahata Isaos Fernsehserie Arupusu no Shojo Haiji (1974, Heidi) mit Storyboards von Miyazaki Hayao. Ihr durchschlagender Erfolg im deutschen Sprachraum ist kaum allein mit der Bekanntheit von Johanna Spyris Vorlage zu erklären – immerhin blieb die vorzügliche Hollywood-Verfilmung der 20th Century Fox mit Shirley Temple, Heidi (USA 1937), völlig unbekannt. Offensichtlich hatte Takahata, dem realitätsnahe Themen stets besonders lagen, den Geist der einstmals populären, nun jedoch bei einer antiautoritären Pädagogik in Misskredit geratenen, Kinderbücher getroffen und erreichte den erforderlichen Grad an vorsichtiger Modernisierung. Die Zurücknahme der Animation betonte den gesprochenen Soundtrack. Yoshida Yoshiakis Drehbücher leben von lebendigen Dialogen, wobei die spärlichen Lippenbewegungen der Figuren Synchronsprechern ihre Arbeit zum Zuckerschlecken machen. Fast unbemerkt gelang auch eine überraschende Erweiterung der Kernzielgruppe für Animation: Neben Kindern waren Senioren das treueste Publikum dieser ersten wirklich populären Anime-Serie in Deutschland.

Die Dialogspur spielt eine wichtige Rolle im Anime: Selbst ein Kinofilm wie Ghost in the Shell lebt von der Suggestion eines glasklar aufgenommenen, geradezu hypnotischen Dialogsoundtracks, der an die Wirkungsmacht klassischer Science-Fiction-Hörspiele im Radio erinnert. Das Bild fügt sich selbstbewusst in seine Rolle als Illustration, ohne dabei an Wertigkeit einzubüßen. Dieses Phänomen verweist auf die literarischen Ursprünge des seriellen Anime, der schließlich nichts anderes ist als verfilmter illustrierter Lesestoff.

Trickfilm der Stummfilmzeit

Wie in den westlichen Ländern entwickelten sich auch in Japan Animationsfilm und grafische Bilderzählung zunächst weitgehend unabhängig voneinander. In Japan wurde der Animationsfilm durch US-Importe des Filmpioniers J. R. Bray bekannt, dessen erste Serie Colonel Heeza Liar (USA 1913–1917) offensichtlich eine breite Nachahmerschaft fand. Viele der frühesten erhaltenen Anime sind Militärgrotesken, die in ihrer Flächigkeit und streng linearen Erzählweise Zeitungscartoons sehr nahe kommen. Die zweite Themengruppe stellen traditionelle Tierfabeln und Sagen dar. Sie waren das bevorzugte Thema des Animationsfilmpioniers Shimokawa Oten, der Kreidezeichnungen auf einer schwarzen Tafel animierte – und an den Negativ-Zeicheneffekt von J. Stuart Blacktons erstem US-amerikanischen Zeichentrickfilm Humorous Phases of Funny Faces (1906) erinnert. Auch die frühen Animationsfilme des Franzosen Emile Cohl sollen in Japan bekannt gewesen sein, dessen als Negativ projizierter Papierzeichentrick Fantasmagorie (F 1908) ebenfalls die Anmutung von Kohlezeichnungen hat. Leider ist nichts von Shimokawas Werk erhalten, das bis ins Jahr 1917 zurückgeht, als auch die beiden weiteren Gründerväter des Anime, Kouchi Junichi und Kitayama Seitaro, ihre ersten Trickfilme zeigten.3 Aus den 1910er Jahren ist nur sehr wenig Material erhalten geblieben; die Zwanziger Jahre sind wenigstens in einigen repräsentativen Werken dokumentiert, darunter Obasuteyama (1924, „Mountain Where Old Women Are Abandoned“) von Yamamoto Sanae (1898–1981). Als einziger Pionier blieb er dem Medium dauerhaft verbunden. Seine Karriere ist typisch für den Weg, den der industrielle Anime in den folgenden Jahrzehnten gehen sollte: Vom Lehrfilm für den Schulgebrauch zu aufwändigen Propagandafilmen, die sowohl im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg (1937–1945) als auch im Zweiten Weltkrieg zahlreich produziert wurden. In den 1950er Jahren spielte Yamamoto noch einmal eine tragende Rolle als Mitautor der großen abendfüllenden Märchenfilme Hakujaden (1958, Panda and the Magic Serpent), Shonen Sarutobi Sasuke (1959, Magic Boy) and Saiyoki (1960, Alakazam the Great).

Die Fläche als Raum

Trotz des inhaltlichen Bezugs auf japanische und chinesische Mythen ist der stilistische Einfluss amerikanischer Vorbilder in der Gründungsphase der japanischen Filmindustrie unübersehbar. Dennoch sollte nicht vergessen werden, wie lebendig in Japan traditionelle Theaterformen blieben, insbesondere das Kabuki-Theater, dessen Flächigkeit und Vorliebe für choreografierte Kampfkunst die gesamte japanische Filmkultur prägten4, sowie auch eine ureigene, fernöstliche Kunstform – das Schattentheater.

Unter den frühen Anime-Regisseuren bezeugt Ofuji Noburo (1900–1961) eine besondere Nähe zu dieser Kunstform. Ein Jahrzehnt vor Disneys Multiplankamera5 verwendete er verschiedene Lagen von Glasplatten, um unterschiedliche Schärfenebenen zu erzeugen. Anders als Disney versuchte er damit jedoch nicht, Raumtiefe vorzutäuschen, sondern schuf ein malerisches Grau, das an die traditionelle japanische Tuschemalerei denken lässt.

Auch wenn im modernen, vom Manga beeinflussten Animationsfilm immer wieder mit einem reichen Spektrum an fotografischen Perspektiveffekten gearbeitet wird, zeigen die frühen Filme eine starke Affinität zur Fläche. Damit stehen sie in einer langen japanischen Kunsttradition. Während die abendländische Malerei seit der Renaissance an der Überwindung der Flächigkeit arbeitete, respektierte die japanische Kunst in vielen Bereichen ihre Grenzen – in der traditionellen Tuschemalerei sowie der Holzschnittkunst, ohne deren Einfluss die europäische Avantgarde der Jahrhundertwende nicht denkbar gewesen wären. Beim Zeichentrickfilm verlangte das Bekenntnis zur Fläche – welche die führenden Hollywoodproduzenten Fleischer und Disney mit aufwändigen Kameraapparaturen überwinden wollten und die in der heutigen 3D-Animation gänzlich vergessen gemacht wird – eine abstrahierendere Darstellungsweise.6

Die Kriegszeit: Anime und Propaganda

Wie alle Länder, die vor 1950 eine Trickfilmindustrie besaßen, erlebte auch Japan einen immensen Disney-Einfluss. Ironischerweise kulminiert er gerade in jenen aufwändigen Propagandafilmen, mit denen man sich in der Kriegszeit gegen die USA engagierte. Dass dies mit hohem künstlerischen Anspruch verbunden werden kann, zeigt der wohl berühmteste und vielleicht schönste Anime der 1940er Jahre, Kumo to Chulippu (1943, The Spider and the Tulip) von Masaoka Kenzo (1898–1988). Nach einer Erzählung der zeitgenössischen Autorin Yokoyama Michiko erzählt Masaoka eine moderne Fabel um eine Käferfrau, die sich den Avancen einer Spinne erwehrt, indem sie sich in einer Tulpe versteckt. Das ist umso nützlicher, als ein virtuos inszenierter Sturm aufkommt, den diese Blume als einzige übersteht. Thematisch sehr ähnlich der Silly Symphony: The Moth and the Flame (USA 1938) von Disney erinnert der Film noch deutlicher an einen der bekanntesten Filme dieser Serie, The Old Mill (USA 1937). Doch während bei Disney das impressionistische Naturdrama zugleich das bestimmende Filmereignis bleibt – der Film entstand zur Erprobung der gerade entwickelten Multiplankamera –, orchestriert es Masaoka als emotionales Drama. Wie in der fernöstlichen Kunsttradition ist die Landschaft ein beseelter, eigenständiger Akteur. Die mit der Physiognomie eines Minstrel-Show-Sängers belegte Spinne symbolisiert unverkennbar die amerikanische Unterhaltungskultur, der es – trotz des verführerischen Swingbeats – zu widerstehen gilt. Wie in vielen deutschen Produktionen jener Jahre ist auch im Propaganda-Anime der treibende Widerspruch, dass mit Hilfe einer Errungenschaft amerikanischer Popkultur vor amerikanischem Einfluss gewarnt wird. Hier allerdings wenig überzeugend – das Swingarrangement des Spinnensongs ist alles andere als abschreckend.

Möchte man auch angesichts des Aufwands für diesen Film vielleicht bedauern, dass der japanischen Filmindustrie seinerzeit kein Farbmaterial zur Verfügung stand, erliegt man bald der eigenständigen Schwarz-Weiß-Ästhetik: Die Landschaften erstrahlen in einem imponierenden Reichtum an Grauwerten. Immer wieder wird zu Gunsten der ästhetischen Komposition darauf verzichtet, die naturalistische Handwerkskunst in der Animation zu sehr herauszustellen. Ein Beispiel ist die Darstellung des Regens in den Pfützen, der eben nicht wie bei Disney bis zur kleinsten Perle animiert wird, sondern in einzelnen Einstellungen als abstrahierende Aufsicht gezeigt wird, mit Augenmerk auf die ornamentalen Kreisformen.

Ohne den allegorischen Transfer von Masaokas Tierfabel Kumo to Chulippu wirbt der mit einer Laufzeit von 74 Minuten abendfüllende Anime Momotaro: umi no shinpei (1945, Momotaro’s Divine Sea Warriors) von Seo Mitsuyo für den Kriegseinsatz. Die aufwändige Form des programmfüllenden Animationsfilms war zu diesem Zeitpunkt außerhalb des Disneystudios nur wenige Male erprobt worden. In künstlerischer Hinsicht am überzeugendsten wohl in Shanghai, wo die Brüder Wan Laiming und Wan Guachan 1941 ihr auch für Japan einflussreiches, frühes Meisterwerk schufen, Tieshan gong-zhu (The Princess with the Iron Fan). Eine Vorführung dieses Films soll die japanischen Kraftanstrengungen motiviert haben. Von der dort erreichten Musikalität in der Fusion zwischen amerikanischer Animationstechnik und fernöstlicher Ikonografie ist die Arbeit Seos, eines ehemaligen Assistenten Masaokas, weit entfernt; stilistisch fällt der Film in zwei Teile. In einer ländlichen Idylle lernt man ein Bärenjunges, einen Affen, ein Hündchen und einen Fasan kennen, allesamt in Marineuniformen, die sich bald als Lebensretter bewähren: Der kleine Bärenbruder ist beim Spiel mit einer Matrosenmütze in einen reißenden Fluss gefallen. Währenddessen ist im Südpazifik ein Hasenbataillon mit dem Bau eines Flugplatzes beschäftigt, der unter reger Mithilfe exotischer Inselbewohner wie einem Nashorn und einem Känguru gerade rechtzeitig für die Landung einer Maschine vollendet wird. Heraus steigen die bereits bekannten Tiermatrosen und ihr Befehlshaber, der Menschenjunge Momotaro. Ein kurzer Vortrag erläutert die ausbeuterische Kolonialgeschichte der Briten und bereitet den erfolgreichen Angriff auf den benachbarten britischen Stützpunkt vor. Die Unterlegenen kapitulieren bedingungslos in bestem Englisch, bevor die Tierkinder sich im Fallschirmspringen üben: Landeplatz ist eine Karte der USA.

Die zweite Klassik

Die japanische Filmgeschichte kennt drei klassische Perioden. Die erste beginnt kurz nach dem großen Kanto-Erdbeben vom September 1923 und markiert den Antritt der klassischen Meister Naruse Mikio, Ozu Yasujiro und Mizoguchi Kenji; die zweite in der unmittelbaren Nachkriegszeit, deren späte Meisterschaft und den Aufstieg von Kurosawa Akira und Kobayashi Takeru. Zugleich blühte das Genrekino; Honda Inoshiro erschuf bei der Toho Company das Monster Godzilla, bei der Nikkatsu begann Suzuki Seijun seine Serie lyrischer Polizeifilme. Die entscheidende Erneuerung kam schließlich mit der Neuen Welle der 1960er Jahre, der Zeit eines Oshima Nagisa. Auch die Geschichte des Anime kann man in drei klassische Phasen teilen. Sie ist einerseits eng mit den großen Filmstudios verbunden, die dieses aufwändige Geschäft betreiben konnten, andererseits dauerte der Wiederaufbau der Trickfilmindustrie bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre. Im Jahre 1958 begann mit dem abendfüllenden Animationsfilm Hakujaden eine Serie erfolgreicher Toei-Produktionen, die als Brückenschlag von der Studioästhetik der Kriegszeit zum modernen, vom Manga beeinflussten Anime angesehen werden können. Nach dieser Renaissance wird die Emanzipation der großen Autorenregisseure Tezuka Osamu, Takahata Isao und Miyazaki Hayao möglich.

Hakujaden war in seiner ereignisreichen Dramaturgie und dem fantastischen, imaginativen Handlungsverlauf von gro-ßem Einfluss auf Miyazaki und hat auch heute nichts von seinem Reiz verloren. In einer Kombination aus chinesischen Märchenmotiven und dem romantischen Schicksal der Kleinen Meerjungfrau erzählt der Film von der unmöglichen Liebe der schönen Schlangenprinzessin Bai Niang und ihrem menschlichen Freund Xuxian. Vom ersten Bild an bezaubert Xuxians hilfreiches Haustier, ein verspielter Panda, als einer der unvergesslichen Cartoonstars der Filmgeschichte. Die Sequenz eines dramatischen Seesturms erinnert mit ihrem tobenden Wal an Disneys Pinocchio (USA 1940), während die chinesischen Motive an das Kino der Wan-Brüder denken lassen. Auch Ikeda Masayoshis sinfonische Filmmusik vermittelt zwischen ostasiatischen und westlichen Einflüssen, indem sie etwa die Kampfszenen mit typischer Perkussion begleitet. Die Nähe zum Disneystil machte die ersten sechs Toei-Filme auch für den amerikanischen Markt interessant, wo sie allerdings zum Teil stark bearbeitet erschienen. Am meisten hatte darunter der letzte dieser sechs Filme zu leiden, die ästhetisch höchst eigenständige Regiearbeit Wanpaku oji no orochi taiji (1963, The Little Prince and the Eight-Headed Dragon) von Serikawa Yugo, Takahata Isao und Yabuki Kimio. Erzählt werden drei Geschichten aus dem japanischen Nationalmythos Nihonshoki aus dem 8. Jahrhundert, das den Jungen Susano’o, Sohn der sagenhaften Schöpfer Japans, in der Unterwelt nach seiner Mutter suchen lässt. Das moderne Design von Mori Yasuji unterscheidet sich stark von den naturalistischen Hintergründen der früheren Filme. So wie das Disneystudio seinerzeit seine größten stilistischen Innovationen durch die Aufwertung von individualistischen Designern wie Mary Blair und Eyvind Earle erlebte, setzte auch Toei auf eine unverkennbare visuelle Handschrift. Schon die zweite der großen Toei-Produktionen, Saiyoki (1960, Alakazam the Great), brachte den Manga-Autor Tezuka Osamu in Kontakt mit dem Anime. Als 16-Jähriger hatte er sich vom chinesischen Meisterwerk der Wan-Brüder, Da nao tian gong (China 1965, The Monkey King) zu einer eigenen Interpretation der Abenteuer des Affenkönigs Sun Wukong inspirieren lassen, die Toei nun verfilmte. Zum zweiten Mal wurde der wohl bekannteste chinesische Märchenheld zu einer Gründerfigur des asiatischen Animationsfilms. Toei Animation gilt als die Wiege des modernen Anime. Takahata Isao realisierte hier 1968 seinen ersten Film als alleiniger Regisseur, Taiyo no oji: Horusu no daiboken (Little Norse Prince), der als Modell der späteren Ghibli-Filme gelten kann. Der Artusmythos und Motive der Nibelungensage verschmelzen zu einer einfachen, unpathetischen Erzählung. Anders als sein späterer Partner beim Studio Ghibli, Miyazaki Hayao, der ihm hier bereits assistierte, legt Takahata den Akzent auf Realismus. Das formal radikalste Element der Inszenierung ist eng verbunden mit dem treibenden ästhetischen Widerspruch des Anime, jenes Phänomens, das diese Kunstform mehr prägt als alle inhaltliche Kontinuitäten: der Dialektik von Opulenz und gleichzeitiger Beschränkung. Die dramatischste Kampfszene des Films löst Takahata einfach in Standbildern auf, ohne ihr dabei etwas von ihrer Dramatik zu nehmen – ein Stilprinzip, das Tezuka bereits in den 1960er Jahren half, abendfüllende Formate zu bewältigen. Der Animationsfilm, definiert und zugleich eingeengt durch seine Fähigkeit, Zeichnung zu verlebendigen, fürchtete sich außerhalb Japans stets vor der Stille des Standbilds. Bewegt sich nichts mehr, so stirbt die Illusion augenblicklich.

1980 verfilmte Toei Tezuka Osamus Manga Hi no tori 2772: ai no cosmozone (Space Firebird). Klassizität und Experiment finden hier zusammen in einer formalen Leichtigkeit, die ganze Filmgeschichte überblickend. In einem Raumschiff wächst ein Kind in gänzlicher Einsamkeit heran. Irgendwann entdeckt es eine Fernbedienung für eine Robotermutti. Auf Knopfdruck beginnt sie sich liebevoll um ihn zu kümmern. Aber kann es Liebe sein, wenn man sie mit einem zweiten Knopfdruck in eine Art Auto verwandeln kann? Inszeniert in einer tänzerischen Eleganz relativiert die kleine Szene Mutterliebe als romantisches Konzept. Und traut doch zugleich einer Maschine zu, dieses Ideal verlässlicher einzulösen als jedes menschliche Wesen. Nur der Fernbedienung muss sich das Kind dabei entledigen.

Auch die Animation ist Leben auf Knopfdruck. Trickfilmzeichner erklären oft, dass dieses Wunder, ein paar Zeichnungen am Tricktisch abblättern zu können, süchtig mache. Das schnelle Lesen eines Manga kommt dem durchaus nahe. Diese Lust am virtuellen Leben, das in jüngerer Zeit eines seiner zentralen Themen wurde, befriedigt der Anime in idealer Weise. Aber er hat zugleich immer wieder Werke hervorgebracht, die sich geradewegs an die Schnittstelle zwischen Stillstand und Bewegung begeben, in den Zwischenraum von Kunst und Leben.

1 Im Jahr 2002 vergab die von Mira Nair geleitete Festivaljury den Goldenen Bären zu gleichen Teilen an Miyazakis Film Sen to Chihiro no kamikakushi (2001) und die britisch-irische Koproduktion Bloody Sunday. Miyazaki Hayao war dem Festival ferngeblieben.

2 Regie-Credit umstritten; zit. nach: Clements, J./McCarthy, H.: The Anime Encyclopedia. Berkeley 2006.

3 Im Jahre 2005 wurde von Matsumoto Naoki ein Filmfragment mit eingekratzten Animationszeichnungen von kaum drei Sekunden gefunden, das in Pressemeldungen auf das Jahr 1907 datiert wurde. Dafür gibt es jedoch keine Belege, wie auch unsicher ist, ob es jemals zur Aufführung kam.

4 Vgl. Köhn, Stephan: Vorstufen des Manga – Japans Visual Turn in der Edo-Zeit.

5 Vgl. Sharp, Jasper: Between Dimensions – 3D-Computeranimation im Anime.

6 Vgl. Sharp, Jasper, a.a.O.