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Dossier – Animationsfilm – Wo sind wir hier?

Wo sind wir hier?

| Alexandra Seitz |

Die traumlogischen Paralleluniversen des Wirklichkeitserfinders Kon Satoshi.

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Immer wieder tun sich in den gezeichneten Welten des Kon Satoshi Falltüren in andere gezeichnete Welten auf, unvorhergesehene Stürze in unabsehbare Abgründe verursachend, das bisherige und das kommende Geschehen in einen Zustand der Verunsicherung und den Zuschauer in einen Zustand der Verwirrung versetzend. Ein Beispiel: Mehrmals hintereinander erwacht Mima, Heldin von Perfect Blue, in hochfahrendem Schrecken in ihrem Zimmer und erlebt einen Tag auf unterschiedliche Weise. Ist es immer wieder derselbe Tag oder sind es verschiedene Tage? Sehen wir Erinnerungen, Albträume, Ausschnitte aus psychotischen Schüben oder geschieht das alles tatsächlich? Ist die Ursache für die Differenz in der Wiederholung eine Persönlichkeitsspaltung der Figur oder die Willkür des Regisseurs? Fragen über Fragen – und keine befriedigenden Antworten. Sich dem Chaos-Universum Kons mit der Forderung nach Logik und Kohärenz zu nähern, führt nicht weit. Am ehesten noch in die Frustration.

Stattdessen gilt es, den narrativen Stürzen bedingungslos und ohne Angst vor dem Aufprall zu folgen. An Kons Filmen lassen sich ihre erzählerische Freiheit, ihr kreatives Potenzial und ihre Unbekümmertheit um Konvention schätzen. Sieht man sie eher intuitiv, erkennt man ihre Bedeutung leichter. Die Geschichten, die sie erzählen, sind nicht in einem naturwissenschaftlich fundierten Raum-Zeit-Kontinuum angesiedelt, sondern in den unendlichen Räumen von Traum und Phantasie, jenseits einengender Grenzen und unabhängig vom Regelwerk des Realen. Was nun nicht bedeutet, dass Kon nicht von der Wirklichkeit erzählen würde. Im Gegenteil zählen seine Anime zu jenen, die sich dezidiert mit der Lebenswirklichkeit der Menschen im Japan der Gegenwart auseinandersetzen, allerdings eben auf eine eher reflektierte, gebrochene und sehr erwachsene Weise.

Am unvermitteltsten ist Kons Zugriff auf die japanische Alltagsrealität noch in dem 2003 entstandenen Tokyo Godfathers, in dem er den unter anderem von John Ford 1948 in Three Godfathers verfilmten Stoff der drei Männer, die sich um ein verlassenes Baby kümmern, in Tokyos Obdachlosenmilieu ansiedelt. Obdachlose als Helden oder Hauptfiguren von Filmen sucht man nicht nur in Japan meist vergebens. Umso auffälliger ist die Aufmerksamkeit, die Kon dieser marginalisierten Gruppe der Gesellschaft hier zuteil werden lässt. Zugleich ist diese, wenn man so will, „Besetzung“ aber auch Ausdruck für die nicht nur personelle Bandbreite seiner Filme. Anders gesagt, für den ungeheuren Realismus in Figurenzeichnung und Charakterisierung der Lebenswelten bei gleichzeitiger Irrealität der stattfindenden Ereignisse.

Kulturelle Identitätskrisen

Kon Satoshi wurde 1963 auf Hokkaido geboren. Nach seiner Ausbildung am Musashino College of the Arts arbeitet er zunächst mit Otomo Katsuhiro an dem Manga World Apartment Horror und an dem Anime Roujin Z (1991), danach mit Oshii Mamoru an Patlabor 2: The Movie (1993). Er schreibt das Drehbuch für Magnetic Rose, Morimoto Kojis Episode im Omnibus-Anime Memories (1996), bevor er 1997 mit Perfect Blue seine erste eigene Regiearbeit vorlegt, die international für großes Aufsehen sorgt.

Bereits in Magnetic Rose, in dem Astronauten sich in den holografisch konservierten Erinnerungen einer unglücklich liebenden Opernsängerin verlieren, weicht Kon den Realitätsbegriff auf. Im Lauf der etwa halbstündigen Episode lernt man rasch, den Bildern zu misstrauen. Jederzeit scheint abruptes Erwachen möglich, oder Versinken in plötzlich nachgebendem Boden. Perfect Blue transportiert diese durchscheinend gewordene Welt, die zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheidet, zurück auf die Erde und in ein einzelnes Subjekt hinein. Die Geschichte des Idols Mima, die ihre Girlie-Band verlässt, um Karriere als Schauspielerin zu machen, nimmt Kon zum Anlass, das Konfliktfeld von besitzergreifendem Fan-Tum und künstlerischer Selbstbestimmung im Gewand eines verstörenden Psychothrillers zu erforschen.

2001 folgt mit Millennium Actress ein vergleichsweise stringent erscheinender Anime, der sich nichtsdestotrotz einen anarchischen Spaß daraus macht, die Grenzen zwischen Rahmenhandlung, Rückblenden und Filmen im Film solange zu verwischen, bis aus dem Zwischenbereich eine weitere, möglicherweise sogar die eigentliche Geschichte hervortritt: Die zweier unglücklich Liebender; der hochangesehenen alten Schauspielerin, die auf ihr Lebenswerk zurückblickt, und des TV-Journalisten, der sie interviewt. Im Zentrum von Millennium Actress steht die unerfüllte Sehnsucht, und die Dringlichkeit dieses Gefühls teilt sich dem Zuschauer erst dann mit, wenn er die wilden Ebenenwechsel, in denen sie ihre Form findet, bereitwillig und ohne nach einem Grund zu fragen, hinnimmt.

Ähnliches vollzieht sich in Paprika (2006). Vordergründig geht es um eine Science-Fiction-Handlung, in der einige Wissenschafter und ein Polizist auf der Suche nach einem Gerät namens DC-Mini sind, mit dessen Hilfe Träume nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch in die Gehirne von anderen projiziert werden können. Man ahnt es bereits, Paprika stellt selbst für hartgesottene Realitätsverweigerer eine Herausforderung dar, denn das Gerät ermächtigt Kon, hemmungslos draufloszufabulieren. Jedoch verdeckt die visuelle Kraft und schiere kinetische Energie, beispielsweise der zu einem poppigen Marsch durch die Straßen polternden Traumgestaltenparade, nie die Tatsache, dass hier sehr reale Figuren mit sehr realen Problemen kämpfen. Dass charakterliche Defizite, Stress und Überlastung den Traumterroristen in die Hände arbeiten. Dass der Zufluchtsraum vor den Zumutungen der Wirklichkeit, den Träume, Phantasie und damit letztlich auch Filme bieten, manipuliert und kommerzialisiert werden kann. Und schließlich, dass das Streben nach Verfügungsgewalt über diesen Raum einem totalitären Missbrauch gleichkommt, dessen zerstörerisches Potenzial immens ist.

Sieht man Paprika zusammen mit der 2004 entstandenen Fernsehserie Paranoia Agent, was sich unbedingt empfiehlt, dann wird schnell klar, worauf Kon mit beiden Werken zielt. In Paranoia Agent erweist sich die Figur des Shonen Bat/Lil’ Slugger, eines Jugendlichen, der in die Enge getriebene Menschen mit einer Baseballkeule niederschlägt, als das Alter ego von Maromi, eines großäugigen, kuscheligen, rosa Hundewesens, das wie so viele Produkte der japanischen Konsumindus-trie einlullender Befriedung dient.

Das Erstaunliche an Kon Satoshis Anime ist also weniger der Grad ihrer Phantastik als vielmehr der Umstand, dass sie Figuren wie Zuschauer in die Irrgärten des Irrealen schicken, um am Ende doch immer wieder auf deren Rückkehr in die Wirklichkeit zu beharren. Einer notwendigen Rückkehr, ist doch das Spiel mit der Differenz der beiden Welten eine Eigenschaft, die die menschliche Existenz nicht nur bereichert, sondern ihr auch beim Überleben hilft.