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Die Utopie Film

„Übernimm die Spuren, die du findest“

| Verena Teissl |

Mit der Retrospektive „Die Utopie Film“ stellt das Österreichische Filmmuseum 100 Filme aus seiner Sammlung vor: Die Vielzahl an Formen, Wiederentdeckungen und Klassikern ist zugleich Einladung und Statement, Filmgeschichte als flexiblen Begriff zu erfahren, als unablässigen Prozess der Neuschreibung. Ein Gespräch mit Direktor Alexander Horwath und Filmvermittler Michael Loebenstein über Aufgaben, Visionen und Positionierung des Filmmuseums…

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Die 100 ausgewählten Filme erlauben einen Einblick in die Arbeit des Filmmuseums. Wie könnte man die Aufgabenbereiche und das Profil des Österreichischen Filmmuseums definieren?
Alexander Horwath:Das Profil ist mehrseitig. Das eine Profil zeigt sich über die im Kino angebotenen Programme; das andere sind die Sammlungsschwerpunkte. Dazwischen gibt es vermittelnde Ebenen und Prozesse, bei denen sich möglichst vielfältige Bezüge zwischen den Sammlungsschwerpunkten und den Programmen ergeben. Das Filmmuseum hat jenseits der Sammlung die Aufgabe, als Ausstellungsort Filmgeschichte in einer gewissen Repräsentativität darzubieten. Das ist eine zentrale öffentliche Dienstleistung des Hauses,  für die es auch gefördert wird. Das bedeutet auch, dass ein Teil der Neuerwerbungen in Bezug darauf zu sehen ist, was man regelmäßig zeigen möchte – Filme, von denen das Filmmuseum überzeugt ist, dass sie zu einer regelmäßigen Präsenz von Filmgeschichte für immer nachwachsende Generationen dazugehören.

Die inhaltlichen Schwerpunkte unserer Präsentationen und der Vermittlungsarbeit kommen auch in unseren Buchpublikationen zum Ausdruck – und in den DVDs, die wir seit drei Jahren machen. Das Ziel ist eine möglichst integrale Behandlung des Themas Filmgeschichte. Und wir versuchen, die Vielfalt dieser Bezüge zu steigern.

Neuerwerbungen unterliegen Auswahl- und damit Entscheidungsprozessen. Wie sehen die aus?
Alexander Horwath: In der Sammlungspolitik gibt es einerseits den Ausbau und die Ergänzung der schon länger existierenden Sammlungsschwerpunkte, andererseits den Neuaufbau von Bereichen, die bisher nur mit Einzelbeispielen vertreten waren.  Beispiele für Schwerpunktsetzungen, die das Filmmuseum von Beginn an betrieben hat und die wir ergänzen konnten, sind etwa die sowjetische Kinematografie der Zwanziger und Dreißiger Jahre, also die Werke der „Kino-Revolution“. Oder der österreichische Avantgardefilm, ein ganz zentrales Sammlungs- und Präsentationsgebiet des Filmmuseums – hier versuchen wir auch Werke der jüngeren Generationen zu erwerben. Ebenso das amerikanische bzw. internationale Avantgardekino, bei dem der Schwerpunkt der Sammlung auf der Nachkriegszeit bis in die frühen Siebziger Jahre lag.

Beispiele für neuere Sammlungsteile sind etwa das Kino der mittel- und zentraleuropäischen Filmexilanten und Emigranten, aber auch ein „jüngeres“ Thema, das viel mit meinen persönlichen Arbeitsschwerpunkten zu tun hat, nämlich das Kino des New Hollywood, das bisher nur sehr vereinzelt in unserer Sammlung präsent war und jetzt verstärkt erworben wird.

Welches Profil ergibt sich aus der konkreten Auswahl der hundert Filme?
Alexander Horwath: Man kann aus der vergleichsweise beschränkten Auswahl für „Die Utopie Film“ nicht 1:1 ein Gesamtprofil der Filmmuseum-Sammlung herauslesen, aber man kann es vielleicht indirekt – über die Gattungen, die darin auch vertreten sind, über das Spielen mit ungewöhnlicheren Formaten wie Trailer, Kurz- und Kürzestfilm, Avantgardefilm, Screen Tests oder Amateurfilm. Wenn etwa der Amateurfilm Ha.Wei 14. März 1938 (Autor unbekannt) kombiniert wird mit La Régle du jeu von Jean Renoir: Renoir erzählt im Grunde vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs und von der Blindheit und Selbstbezüglichkeit des französischen Bürgertums; der Amateurfilm, der davor zu sehen ist, erzählt vom Bürgertum in Hadersdorf-Weidlingau in jenen Tagen, als der „Anschluss“ vollzogen wurde. Das sind Beispiele, die für eine gewisse Programmatik stehen.

Was bedeutet Filmbewahrung? Was bedeuten „bewahren“, „zugänglich machen“, Filmgeschichte immer wieder neu schreiben? Welche Hintergrundmechanismen, die letztlich auch die Auswahl mit beeinflussen, wirken hier? Was ist überhaupt zugänglich und  wer sind die Kooperationspartner?
Michael Loebenstein: Das führt wieder zur ursprünglichen Frage „Was macht ein Filmmuseum eigentlich?“ Man könnte sagen, dass es um kuratorische Arbeit geht. Kuratorische Arbeit nicht allein im Bereich der Präsentation und Auswahl, sondern in einem mehrstufigen Modell: Sammeln, Bewahren, Präsentieren und Vermitteln. Das sind die vier Grundpfeiler. Alle diese Bereiche drücken sich in dem Programm aus.

Der Aspekt des Sammelns und Bewahrens beinhaltet Entscheidungen, was aus dem Pool an Filmgeschichte – und im weitesten Sinn audiovisuellem Feld – man als sammelns- und bewahrenswert erkennt. Das beinhaltet auch eine Form von Anwaltschaftlichkeit für eine möglichst vielschichtige Darstellung von Filmgeschichte.

Wie geht ein derartiges mehrstufiges Modell vor sich?
Alexander Horwath: Erwerbungen ergeben sich zunächst aus einer Folge von Tätigkeiten und Methoden. Die erste Tätigkeit ist das Sammeln – das können auch Privatleute, und es gibt private Filmsammler. Mit dem Sammeln alleine ist schon viel geleistet.  Die Gründergenerationen der Kinematheken und Archive wollte die Filme primär vor der Vernichtung, vor der Verschleiß-Ideologie der Filmindustrie retten.

Das Bewahren ist schon ein weiterer Schritt: Bewahren bzw. Konservieren heißt Maßnahmen zu treffen, die dem gesammelten Objekt eine längere Lebensdauer geben, also bestimmte klimatische Bedingungen herzustellen, Luftfeuchtigkeit und Temperatur konstant zu halten und entsprechende Räume bzw. Gebäude zu errichten. Mittlerweile weiß man durch Langzeitstudien, dass Filme viele hundert Jahre „am Leben“ bleiben können, wenn man sie richtig konserviert.

Der nächste Schritt wäre Restaurierung. Restaurierung beginnt bei der Reparatur des konservierten Originalfilmstreifens – oft ein Nitrofilm –, und sie endet bei der Umkopierung, das heißt bei der Sicherung des prekären, fragilen Originals durch ein neues Negativ, von dem wiederum neue Vorführkopien gezogen werden können.

Man könnte hier noch den Begriff der Rekonstruktion anführen, das ist die heikelste Tätigkeit in diesem Bereich: das bewusste Herstellen von etwas, das in dieser konkreten Form eventuell nie existiert hat. Man rekonstruiert Metropolis oder Panzerkreuzer Potemkin, indem man mit mehreren überlieferten Versionen und einander widersprechenden Kopien arbeitet, man orientiert sich an verschiedenem Schriftgut, an his-torischen Zeugnissen und erstellt eine Version, von der man sich zu sagen traut: „Das ist die größtmögliche Annäherung an die Version X des Films.“ Ich bin nicht der Meinung, dass man möglichst viel rekonstruieren soll. Die Gefahr, dass dabei „fiktive Filme“ in die Welt gesetzt werden, die es so nie gab, ist größer als die Chance auf eine echte „Wiedergewinnung“. Aber es gibt hier natürlich auch Musterbeispiele, die mit größter Transparenz und historischer Präzision vorgehen.

Nach welchen Kriterien wird erworben? Gibt es da bestimmte Prioritäten?
Alexander Horwath: Die Methoden der Erwerbung sind zahlreich. Da gibt es etwa den „ungewollten“ Erwerb: Man akquiriert und sammelt manchmal Dinge, auf die man nie abgezielt hat – wenn aber eine größere Materialmenge als Option auf dem Tisch liegt, entscheidet man sich manchmal dafür, sie im Ganzen zu übernehmen. Dafür braucht man kuratorische Ressourcen: Was „bedeutet“ diese Materialmenge? Und haben wir das Team und die Mittel, diese Menge sinnvoll zu bearbeiten? Oder sind wir einfach „gierig“? Und ist die „Gier“ in diesem Kontext nicht sogar okay?

Viele große Archive haben dieses Problem in noch viel höherem Ausmaß als das Filmmuseum. Sie haben dauernd mit Beständen zu tun, von denen nicht klar ist, wie man am besten damit umgehen soll. Aber oft genug kommt es – viel später – zu einer Art „Entpuppung“, wo die einstmals „wilde“ Akquise Gestalt annimmt und aussagekräftig wird. Das ist ein wenig wie in der Archäologie: Übernimm die Spuren, die du findest und erhalte den Zusammenhang, auch wenn du ihn noch nicht erklären kannst. Wenn man so ein Ensemble nicht auseinander reißt und die Gustostückerln nicht separiert, kann man vielleicht hundert Jahre später davon profitieren, wie zum Beispiel die österreichische Archäologie in Ephesos. Man soll sich immer bewusst sein, dass solche Funde Antworten auf Fragen bereithalten, die wir eventuell noch gar nicht formulieren können. Man übernimmt und eröffnet mit diesen Funden auch Fragen, die vielleicht erst fünf Generationen später auftauchen. Die Gier ist in diesem Sinne nicht eindeutig negativ.

 

Und wie sieht die gezielte Akquise aus?
Alexander Horwath: Da gibt es verschiedene Methoden, wobei die kuratorische Gegenwartsperspektive hier viel wichtiger ist: Man beginnt etwa Verhandlungen mit dem Künstler oder der Künstlerin, wenn es sich um unabhängiges Kino handelt, oder mit den Produktionsfirmen bzw. Weltrechteinhabern, mit dem Ziel, eine neue Kopie für die Sammlung zu ziehen. Oder man vereinbart mit den Künstlern, dass sie ihre Originalnegative als Deposit im Filmmuseum einlagern und übernimmt – falls nötig – die Restaurierung und Umkopierung. Gezielte Akquise ist es natürlich auch, wenn man innerhalb der eigenen, schon lange vorhandenen Bestände Restaurierungen durchführt, also aus einem nicht vorführbaren Nitro-Original ein neues Negativ und eine Vorführkopie generiert. Dabei versucht man meistens, international Informationen zu sammeln, ob sich der betreffende Film nicht auch in anderen Archiven erhalten hat. All das ist aber logischerweise abhängig von den finanziellen Mitteln und vom Personalstand.

Es gibt doch  große Unterschiede bezüglich des Bewusstseins für Archivierungs- und Bewahrungsarbeit. In Österreich scheint es nicht Teil des kollektiven Bewusstseins zu sein, dass Film etwas sehr Fragiles ist, und dass es keine gelenkte Form für das Sammeln gibt. Wie stellt sich für das Filmmuseum das kulturpolitische Bekenntnis dar?
Michael Loebenstein: Es ist vielleicht nicht bekannt, sollte aber bekannt sein, dass in Österreich alles, was mit Filmkultur zusammen hängt, vergleichsweise schwach entwickelt ist. Das kulturpolitische Bekenntnis zur Bewahrung und zur Wieder-Zugänglich-Machung ist zwar über die letzten zehn, zwanzig Jahre besser geworden. Das zeigt sich auch darin, dass die beiden Institutionen, die in Österreich für das Thema verantwortlich sind, nämlich wir und das Filmarchiv Austria, über deutlich mehr Ressourcen verfügen als Mitte der Neunziger  Jahre. Wenn man die Situation aber mit anderen europäischen Ländern wie etwa Holland vergleicht, sieht man, wie kläglich die Gesamtmittel in Österreich nach wie vor in diesem Bereich sind.

Alexander Horwath: Mit den uns zugänglichen Mitteln wollen wir dieses Bewusstsein natürlich schärfen, das heißt, in der Öffentlichkeit die zentrale Bedeutung dieser Arbeit thematisieren. Für uns geht es in diesem Kontext derzeit ans „Eingemachte“ – wir müssen eine nachhaltige Zukunftslösung für die wertvollen Sammlungen und für das Archiv des Filmmuseums schaffen. Das ist seit zirka 30 Jahren in einer ehemaligen Fabrik im 19. Bezirk untergebracht, und dort ist auch mehr als die Hälfte des Teams tätig. Die Klimadepots für die Filmsammlung sind nun bis an die Decke gefüllt, und es gibt keinen Raum mehr für zusätzliche Mitarbeiter. Das heißt, wir müssen – nachdem wir 2002 bis 2004 den Standort in der Albertina sichern und renovieren konnten – nun eine Zukunftslösung für unseren zweiten Standort schaffen. Eine Erweiterung am bestehenden Platz ist nicht möglich, insofern sind wir seit fast zwei Jahren intensiv mit einer Neukonzeption befasst, die auf ein echtes Archiv- und Studienzentrum hinausläuft, inklusive unserer großen öffentlichen Bibliothek, die derzeit noch beengt in der Albertina untergebracht ist. Der Name dafür ist „Filmmuseum Labor“ – ein lebendiger Ort also, an dem Geschichte laufend in Gegenwart und Zukunft transformiert wird. Es ist ein ganzheitliches Konzept, innerhalb dessen die Bewahrung, Restaurierung, das Studium und die Darstellung von Film an einem Ort möglich sein sollen.

Die  jüngere Generation hat auf Grund der neuen Aufnahmetechnologien, der digitalen Medien und der Verbreitungsmöglichkeit über YouTube ein anderes Bildverständnis entwickelt. Für die ist ein Bild eigentlich nicht so, wie wir das noch gelernt haben, oder womit wir aufgewachsen sind –  etwas, das auf Material gebannt ist –, sondern hat eigentlich etwas Interaktives. Da verändert sich ein grundlegendes Verständnis.
Michael Loebenstein: Jedes neue audiovisuelle Medium schöpft aus der Auseinandersetzung mit dem Vorangegangenen. Einerseits Abarbeiten und Überwinden, andererseits Übernahme von bestimmten Techniken, Sehgewohnheiten, Rezeptionsbedingungen, sozialen Konfigurationen. Filmmuseen können nicht alt werden, weil sie, so wie eine archäologische Sammlung, vermitteln können, woher etwas gekommen ist. Selbst neuere Modelle imitieren das alte. Wenn man jetzt von „individueller Konsumation“ und einem „virtuellen Kollektiv“ spricht, dann ist das nur denkbar als Gegenposition zu einem realen Kollektiv von Menschen in einem Raum. Was sich wiederum verändert, ist, dass es offenbar ein großes Kommunikationsbedürfnis gibt, das sich in Form von Kommentaren zu Filmen ausdrückt.

Alexander Horwath: Das veränderte Bildverständnis ist schon ein wichtiger Hinweis darauf, dass wir es im digitalen Paradigma mit einem schlichtweg anderen Medium zu tun haben. Das heutige Bildverständnis liest Bilder nicht mehr in Verknüpfung mit einem materiellen Träger. Es ist zwar jedes Bild auch im digitalen Raum mit einem konkreten Träger verbunden, aber das „Denken des Bildes“ und der kulturelle Umgang damit verabschieden sich nun zunehmend von diesem Faktum. Nichtsdestotrotz wird es immer unabdingbar bleiben, ein Bild mitsamt seiner „Trägerstruktur“ zu verstehen, ob es sich um ein Gemälde in Öl auf einer Leinwand handelt, um eine Kohlezeichnung  auf Papier oder um ein Bild, das sich mittels Fotochemie auf Papier, Celluloid oder Polyester einschreibt – und dann in mechanische Bewegung versetzt und ein projiziertes Laufbild wird, im Gegensatz zu einem Laufbild, das gänzlich „errechnet“ ist und dessen Quelle dem freien Auge nicht zugänglich ist.

Man muss begreifen, dass das zeitgenössische Bildverständnis zwar deutlich anders ist, aber dass es das frühere nicht ausradiert. Das Frühere ist im Angesicht des Gegenwärtigen nicht „kleiner“ oder „schlechter“, nur anders. Es gilt daher schlicht, das Bewusstsein für diese Unterschiede zu steigern.

Was bedeuten diese Veränderungen im Verhältnis von Medium und „Träger“ für die Aufführung?
Alexander Horwath: Für mich existiert Film eigentlich nicht, solange er nur als physisches Objekt vorliegt, auch wenn es ein restauriertes Objekt ist. Der Film existiert immer nur im Augenblick der Vorführung. Die Filmrolle ist nicht Film. Film ist das Ereignis, das wir wahrnehmen, wenn physische Objekte namens Filmrollen in einer spezifischen Anordnung von Räumen und Apparaturen in einer spezifischen Weise ablaufen. Film ist eine Aufführungsform, eine performative Ausdrucksform, um es sehr pointiert zu sagen. Das Objekt Filmrolle ist keine Skulptur: Ich kann das Werk nicht verstehen, wenn ich einfach das physische Objekt betrachte. Es ist auch kein Text, den ich lesen kann. Darum ist bei uns Konservierung, Restaurierung, Bewahrung nicht allein mit dem Objekt Filmrolle verbunden, sondern mit dem Aufführungsakt. Das ist ein ganz zentraler Punkt in einem echten Filmmuseum. Es ist unumgänglich, dass dieser Aufführungsakt ständig von neuem stattfindet. Und deshalb ist der Präsentationsort eines Filmmuseums immer ein Kino: Nur dort kann die Darbietung der Werke geschehen.