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Dossier – Schreie im Stein

Schreie im Stein

| Michael Ranze |

„Mit Nordwand“ hat sich Philipp Stölzl jener Tragödie am Eiger angenommen, die 1936 als  das Drama des Toni Kurz in die Geschichte einging: Ein Rückgriff auf den klassischen Bergfilm, der sich hier überraschend angenehm nicht am Limit bewegt.

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Bergfilm – wohl kaum eine andere Genre-Bezeichnung ist so sehr mit Bedeutung und Vorurteilen aufgeladen, vielleicht sogar belastet. Bergfilm – da ziehen am geistigen Auge Bilder von majestätischen Gebirgszügen vorbei, die den Menschen zu erdrücken scheinen, von Pfeife rauchenden Bartträgern, die vor den Versuchungen und Gefahren der Großstadt warnen, von mutigen, manchmal auch leichtsinnigen Männern in Kniebundhosen und Wollmützen, die – würde man sie fragen, warum sie jetzt unbedingt diesen Berg hoch müssen – vielleicht keine Antwort wüssten. Dem Bergfilm haftet etwas Konservatives, Biederes, Hausbackenes und Rückwärtsgewandtes an, auch etwas Deutsches, obwohl Bergfilme überall auf der Welt entstanden und man vielleicht erst definieren müsste, was dieses „Deutsche“ überhaupt bedeutet. „Ein antizivilisatorischer Geist weht durch diese Filme – die unberührte, wilde Natur erscheint als Refugium dessen, der vor der Gesellschaft flieht und seine Machtlosigkeit als Tugend verklärt“, notiert Anton Kaes in einem Essay über das Kino der „Weimarer Republik“ und beschreibt ein wenig steif „die Natur der Berge als eine der Kontingenz der Tagespolitik enthobene, höhere Sphäre“, die „Unterwerfung des Subjekts unter die Gewalt der Elemente“ betonend. Die Nazis haben den Bergfilm – nicht zuletzt aus diesen Gründen – für sich vereinnahmt. Dafür kann er nichts – die wichtigsten Werke des Genres entstanden vor 1933.

Schicksalhafte Symbolik

Der Bergfilm ist (fast) so alt wie die Filmgeschichte. Von 1901 stammen die ersten Filmschnipsel, die mehrere Männer beim Berganstieg zeigen. Das war auch die Funktion des Genres in den folgenden Jahren – zu dokumentieren, zu zeigen: die Kontur der Berge, die Anstrengung der Tour. Erst Arnold Fanck (1889–1974) sollte dem Bergfilm künstlerische Bedeutsamkeit und einen Namen geben: Seine Produktionsfirma hieß „Freiburger Berg- und Sportfilm GmbH“. Fanck, ein ehemaliger Skilehrer, hatte bereits 1913 mit seinem ständigen Kameramann Sepp Allgeier einen Skifilm gedreht: 4828 Meter hoch auf Skiern. Die Besteigung des Monte Rosa. Doch erst Anfang der Zwanziger Jahre machte er nachhaltig mit drei Filmen auf sich aufmerksam: Wunder des Schneeschuhs (1920), Im Kampf mit den Bergen (1921) und Fuchsjagd im Engadin (1923). Siegfried Kracauer stellt in Von Caligari zu Hitler die Bedeutung heraus: „Das Außerordentliche dieser Filme lag darin, dass sie grandiose Landschaftsbilder zu einer Zeit einfingen, als deutsche Filme im allgemeinen nicht mehr als Studiodekorationen boten“, um einige Zeilen später sogar in Verzückung zu geraten: „Im Dokumentarfilmgenre erreichten diese Filme Unvergleichliches. Jeder der sie gesehen hat, wird sich an das glitzernde Weiß der Gletscher gegen einen dunkel kontrastierenden Himmel erinnern, an das großartige Spiel der Wolken, die sich als Berge über den Bergen auftürmen, an die Eiszapfen, die von Dächern und Fenstersimsen irgendeiner kleinen Hütte herabhängen, und an die merkwürdigen Eisgebilde, die in den Gletscherspalten durch die Fackeln eines nächtlichen Rettungstrupps zu funkelndem Leben erweckt wurden.“ Fanck arbeitete nicht nur mit den besten Kameramännern des deutschen Films zusammen (neben Allgeier waren dies Richard Angst, Albert Benitz und Hans Schneeberger). Er entdeckte auch die wichtigsten Schauspieler. Luis Trenker zum Beispiel, mit dem er 1924 Der Berg des Schicksals drehte. Erzählt wird die Geschichte eines Bergsteigers, der beim Versuch, den Gipfel der Guglia del Diavolo zu erklimmen, abstürzt. Erst sein Sohn kann den Traum des Vaters wahrmachen. Für Ulrich Gregor und Enno Patalas war in ihrer Geschichte des Films der Fall klar: „Fanck stilisiert hier durch düster-melodramatische Storys die Berge zu Symbolen urtümlicher Gewalten, deren Anruf der Mensch sich nicht zu entziehen vermag.“

Der heilige Berg bringt 1926 Trenker mit Leni Riefenstahl zusammen. In der Rolle der Tänzerin Diotima steht sie zwischen zwei befreundeten Bergsteigern. Fanck entwickelte hier neue Tricktechniken wie etwa das „Travelling-Matte“-Verfahren oder verließ sich auf Bewährtes wie den Schüfftan-Trick. Für Fanck steht die Ästhetik seiner Filme eindeutig im Vordergrund. Noch einmal Anton Kaes: „Fancks Filme zeichnen sich durch grandiose Naturaufnahmen aus, die weit über ihre narrative Funktion als Schauplatz und Hintergrund hinausgehen. Wie in einem Dokumentarfilm sind sie sich selbst genug.“ Aber plötzlich war Kracauer, in einem seltsamen Widerspruch, nicht mehr so begeistert: „Die Vergötzung von Gletschern und Felsen war symptomatisch für einen Antirationalismus, den die Nazis ausschlachten konnten.“

Fancks wohl berühmtester Film ist Die weisse Hölle vom Piz Palü (gemeinsam mit G.W. Pabst), der unter schwierigsten Bedingungen und größten Strapazen entstand. Erzählt wird die Geschichte des Bergsteigers Krafft, der im Piz Palü seine Geliebte verloren hat. Seitdem besteigt er jedes Jahr an ihrem Todestag den Berg. Doch diesmal gerät er, begleitet von einem jungen Paar, in eine Eislawine. Krafft opfert sich für seine Begleiter auf, endlich ist er mit seiner Geliebten vereint. Auch hier wird dem Berg eine geheimnisvolle Macht zugeschrieben, gegen die sich der Mensch nicht wehren kann.

Fanck drehte noch Der weisse Rausch (1931), und SOS Eisberg (1933), mit Die Tochter des Samurai (1937) ging er sogar nach Japan. Doch da hatte er schon bei Goebbels keine guten Karten mehr: Fanck hatte die Verfilmung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin abgelehnt, Ein Robinson sollte 1940 sein letzter Film sein. In der Zwischenzeit hatten auch andere Bergfilme gedreht, Luis Trenker vor allem. Berge in Flammen (1931) ist sein erster eigener Film, ein Kriegsfilm an der Dolomitenfront, es folgt die Matterhorngeschichte Der Berg ruft. Leni Riefenstahl hatte 1932 mit Das blaue Licht ihr Regiedebüt gegeben, um sich dann unter Hitler ganz anderen Aufgaben zuzuwenden.

Durch den Berg getrieben

In der Nachkriegszeit wandte sich der Bergfilm wieder dem Dokumentarischen zu. Es war die Zeit der Ersteigungen der Achttausender im Himalaya, des Mount Everest, des K2 und des Nanga Parbat. Und da wollten die Menschen wenigstens mittelbar dabei sein, ein Trend, der sich später im Fernsehen mit seinen zahlreichen Dokumentationen fortsetzte. Der narrative Bergfilm wurde, quasi als Untergenre, dem deutschen Heimatfilm einverleibt.

So muss einem Nordwand, der neue Film des Opern- und Videoclip-Regisseurs Philipp Stölzl, wie ein Rückgriff auf den klassischen Bergfilm erscheinen. Zumindest knüpft er an die politische Vereinnahmung der Bergsteiger durch die Nationalsozialisten an. Stölzl erzählt die wahre Geschichte des Erstbesteigungsversuchs der Eiger-Nordwand im Sommer 1936. Die Eiger-Nordwand ist der Inbegriff des gefährlichen, nur unter schwierigsten Bedingungen zu erkletternden Berges, der zahlreichen Alpinisten das Leben kostete. Den Nazis galt sie damals als eines „der letzten Probleme der Alpen“, und schon diese Formulierung deutet auf faschistisches Gedankengut hin: Ein Gebiet muss, egal ob in der Weite oder in der Höhe, erobert und erschlossen werden. So kurz vor der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei, wird ein Berg zum Symbol der Niederwerfung.

Stölzl führt seine beiden Helden als unterschiedliche Charaktere ein. Toni Kurz (Benno Fürmann) ist der Sensible und Nachdenkliche, Andi Hinterstoisser (Florian Lukas) der Unbekümmerte und Sorglose. Beide haben mit den Nazis nichts am Hut: Mehr als einmal verweigern sie den Hitlergruß. Historisch verbürgt ist das nicht. In dem Bemühen, seine Helden noch ein bisschen kantiger und bewundernswürdiger zu machen, stilisiert sie Stölzl zu eigentlich unpolitischen Regimegegnern, die nur für ihren Sport, das Bergsteigen, leben. Für die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand gibt es nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch – im Jahr der Olympischen Spiele – eine Goldmedaille.

Stölzl beobachtet von nun an die Vorbereitungen: Anreise mit dem Fahrrad, Kampieren mit anderen Seilschaften am Fuße der Nordwand, Zusammenstellung der Ausrüstung. Längst hat sich da auch ein anderes Thema heraus kristallisiert: Öffentlichkeit und damit einhergehend die Sensationspresse. Die Eiger-Nordwand kann nämlich aufgrund ihrer besonderen geografischen Lage von den Hotelterrassen der Kleinen Scheidegg direkt eingesehen werden, die Bergsteiger stehen mittels Fernrohr unter ständiger Beobachtung. Darüber hin-aus gibt es Wanderwege unter der Nordwand, ja sogar die Jungfraubahn, die – quer durch den Eiger getrieben – einen Ausblick von der Nordwand ermöglicht. „Der Eiger – ein vertikales Amphitheater“ (Rainer Rettner). Henry Arau (Ulrich Tukur), Chefredakteur einer Berliner Zeitung, und die Nachwuchsjournalistin Luise Fellner (Johanna Wokalek) sind extra aus Berlin angereist, um exklusiv von der Erstbesteigung zu berichten. Wie der Zufall es will, ist Luise Tonis Jugendliebe, er liebt sie noch immer, doch die Großstadt – auch das ein wichtiges Thema des Bergfilms – hat sie einander entfremdet, so scheint es zunächst. Auch diese Liebesgeschichte ist historisch nicht verbürgt. Stölzl gehorcht vielmehr den Konventionen des Erzählkinos, das mit Romantik und Sentiment zur Identifizierung einlädt.

Zusätzliche Brisanz erhält das Vorhaben durch die beiden Österreicher Willy Angerer (Simon Schwarz) und Edi Rainer (Georg Friedrich), die auch die Ersten sein wollen. Das Bergsteigen als Wettrennen zweier Nationen. Als Willy von einem Steinschlag am Kopf verletzt wird und das Wetter umschlägt, sind die Alpinisten zu Rückkehr gezwungen. Der Kampf ums Überleben beginnt.

Es gibt dann noch eine tränentreibende letzte Begegnung zwischen Tony und Luise in der Nordwand, die für dramatische Wucht sorgen soll. Doch diese Vorgabe, die Geschichte immer auch als Abenteuer und menschliches Drama verkauft, hat schon bei Der rote Baron nicht funktioniert. Interessanter ist da schon die Rolle der Presse, die sich – nach der ersten Enttäuschung – weiterhin verkaufsträchtige Schlagzeilen wünscht. Wenn’s mit der Erstbesteigung nicht klappt, dann wenigstens mit einer Tragödie. Arau macht zwischen Erfolg und Scheitern keinen Unterschied.

Stölzl hat an Originalschauplätzen gedreht, die Schauspieler unterzogen sich einem langen Bergsteiger-Training. Das gibt Nordwand einen mitunter dokumentarischen Touch, und vielleicht schlägt der Film am ehesten die Brücke zu den Zwanziger und Dreißiger Jahren, zu Arnold Fanck und Luis Trenker. Die meisten Bergspielfilme der Moderne, Clint Eastwoods The Eiger Sanction (1975), Frank Roddams K2  (1991), Renny Harlins Cliffhanger (1992) oder – am misslungensten – Martin Campbells Vertical Limit (2000) verstanden sich, mal mehr, mal weniger blutig, als Action-Reißer, die vor allem packend unterhalten wollen. Von den Mythen des Bergfilms ist hier nicht mehr viel zu spüren. Fred Zinnemann wagt 1982 mit Am Rande des Abgrunds noch einmal einen Rückgriff auf alte Bergsteigermystik. Nicht zu vergessen Der Schrei aus Stein (1990) von Werner Herzog, für den Grenzüberschreitung, das Mythomanische, per se zum Filmemachen gehört.

Das Bergsteigen hat sich seitdem verändert, es hat neue Sportarten hervorgebracht. Snowboarding, Paragliding, Basejumping, Free-Climbing. In Am Limit dokumentierte Pepe Danquart im vergangenen Jahr die Speed-Kletterer Alexander und Thomas Huber. Hier geht es nicht nur gegen die Schwerkraft, sondern auch gegen die Zeit. Das Bergsteigen als extreme Erfahrung. Mit Arnold Fanck hat das nicht mehr viel zu tun. Doch ein Bergfilm ist Am Limit trotzdem.