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Lost Films – Lazarus oder ein Häufchen Asche

Lazarus oder ein Häufchen Asche

| Roman Urbaner |

Fast neunzig Prozent aller Stummfilme gelten als verschollen, viele vermodern vergessen in Kellern und Depots. Höchste Zeit, mit einem gemeinsamen Verzeichnis des Verlusts zu retten, was noch zu retten ist.

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Eigentlich hätten ja schon einige zerkratzte Zelluloidschnipsel ausgereicht, um die geruhsame Welt der Filmhistoriker in Aufregung zu versetzen. Als aber vor wenigen Monaten die Nachricht rund um den Globus ging, dass im Keller eines argentinischen Archivs einige Blechbüchsen mit einer Kopie der verschollenen Langversion des arg verstümmelten Stummfilmklassikers Metropolis aufgefunden worden waren, war dies nicht weniger als eine Sensation – oder, wie es der Berliner Filmwissenschafter Rainer Rother glückstrahlend ausdrückte, „so etwas wie ein Lottogewinn“. Nach über 80 Jahren waren nun – fast zur Gänze – all jene Szenen aus Fritz Langs Monumentalwerk wieder aufgetaucht, die nach der Uraufführung 1927 den erbarmungslosen Schnitten und Streichungen des US-Verleihers zum Opfer gefallenen und daraufhin verschwunden waren – „Lazarus-Film“ nennen manche Experten scherzhaft eine solche Wiederauferstehung.Das Aufspüren dieses versunkenen Schatzes war allerdings ein seltener Glücksfall, wie er nur den allerwenigsten verschollenen Filmen zuteil wird. Den Anteil der Filme aus der Stummfilmära, die heute als verloren, als „lost films“ gelten, schätzen die Historiker auf nahezu 90 Prozent. Zumindest ein wenig höher liegt der Überlieferungsgrad bei österreichischen Spielfilmen aus der Stummfilmzeit. Dank gezielter Rechercheprojekte des Filmarchiv Austria, das besonders in den Sammlungen der zentral- und osteuropäischen Nachbarländer fündig wurde, gelten heute rund 180 von über 1000 österreichischen Spielfilmen bis 1930 als erhalten – eine international überdurchschnittliche und dennoch traurig stimmende Bilanz.

Denn das, was nicht zerstört, verbrannt oder vom Schimmel zerfressen wurde, schlummert heute über alle Kontinente verstreut – oft ungesichtet und unverzeichnet – in den Depots der Archive und Sammler. Dass so viel an filmischem Kulturgut nicht bis in unsere Tage herübergerettet werden konnte, liegt natürlich nicht nur an der Selbstzerstörung des hoch empfindlichen Nitromaterials, das mitunter schon ganze Filmarchive mit sich in den Flammen aufgehen ließ. Oft war es nämlich die Filmindustrie selbst, die, um Platz zu schaffen, vermeintlich wertlos gewordene Kameranegative und Kopien für immer vernichtete. Für viele Studiobosse zählte nur noch der nackte Materialwert des alten Zelluloids: Die Kopien wurden eingeschmolzen, um das Silber zu extrahieren, oder mussten als Rohmaterial für Nagellack, Haarkämme oder Schuhcreme herhalten.

Eine wahre Entrümpelungswelle fegte die Lagerräume der Studios und Kopierwerke leer, als der Siegeszug des Tonfilms ab Ende der Zwanziger Jahre die Stummfilme quasi über Nacht zu veraltetem Unrat degradierte, den man den Müllhalden überantworten konnte. Und als dann das Nitrozellulose-Material in den Fünfzigern durch das scheinbar weniger delikate Zellulosetriacetat ersetzt wurde, ging es abermals unzähligen alten Nitrofilmen an den Kragen. Es ist also nicht viel, was das Vernichtungswerk des vergangenen Jahrhunderts überdauert hat; vor allem, aber nicht nur, was die Frühzeit des Kinos betrifft. Auch Filme von Alfred Hitchcock (Mountain Eagle), Orson Welles (Too much Johnson) oder Woody Allen (die Erstfassung von September) gelten als unauffindbar.

Verschollen, vermisst, gefunden

Doch verschollen heißt nicht zwangsläufig unwiederbringlich zerstört. Immer wieder gelangen verloren geglaubte Filmrollen in Archiven, auf Flohmärkten oder Dachböden überraschend ans Tageslicht – seien es nun frühe Fritz-Lang-Filme in Brasilien, Dreyers Die Gezeichneten in Russland, Hans Albers-Filme in Tokyo und in Moskau oder ein Jugendwerk des Caligari-Regisseurs Robert Wiene in Rom. Und auch hierzulande fördert die Schatzsuche mitunter bemerkenswerte Funde zutage: So konnte das Filmarchiv Austria den Stummfilmklassiker Varieté, ein Schlüsselwerk der Neuen Sachlichkeit, gleichsam in letzter Minute aus einem Abbruchhaus retten. In einem Wiener Keller schlummerten jahrzehntelang vergessene Bestände des im Südosten der Habsburgermonarchie tätigen Filmverleihers Ignaz Reinthaler, darunter Material mit Sarah Bernhardt und von Georges Méliès. Und in einer niederösterreichischen Kranzschleifenfabrik entdeckte man Hunderte Blechbüchsen, überzogen von feinem Goldstaub – eine auch weltweit höchst seltene Sammlung zum Frühen Kino.

Um aber nicht nur auf Glück und Zufall zu hoffen, sondern sich auch gezielt auf die Suche machen zu können, müssen die Filme freilich zunächst einmal vermisst werden. Und dafür, proklamierte kürzlich der langjährige WDR-Redakteur und Produzent Werner Dütsch, brauchen wir Kataloge, die sich drohenden und tatsächlichen Verlusten zuwenden – Dokumente der Abwesenheit, die im besten Fall damit belohnt werden, dass das eine oder andere Objekt der Begierde tatsächlich dem Vergessen entrissen wird. Von den dreißig Filmen, die John Carey 1970 in seinem Buch Lost Films behandelte, seien auf diese Weise mittlerweile immerhin zehn – zumindest in Teilen – wieder aufgetaucht.

Um zu retten, was noch zu retten ist, wird es daher wohl etwas energischere Maßnahmen brauchen, als alljährlich am
27. Oktober den „UNESCO-Tag des audiovisuellen Erbes“ zu begehen. Denn noch immer entrümpeln manche Archivare lieber ihre Filmbestände, als sie zu katalogisieren. Und noch immer quittiert man in vielen Ländern den Wunsch, dass zumindest ein Pflichtexemplar sämtlicher Produktionen automatisch in die Archive wandern sollte, mit einem müden Lächeln. Auch in Deutschland und Österreich, wo die gesetzliche Abgabepflicht für Buchveröffentlichungen seit Generationen eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist die Frage der Filmarchivierung nur halbherzig, nämlich nur für den Bereich der öffentlich geförderten Produktionen, gelöst; alles andere droht unwiederbringlich verloren zu gehen.

Das jüngste Beispiel, wie man mit historischen Filmschätzen nicht umgehen sollte, lieferte die italienische Politik, die das Filmmuseum in Rom mit der laut eigenen Angaben weltweit größten Stummfilmsammlung im Vorjahr brüsk auf die Straße setzte, um Luxuswohnungen aus den Räumlichkeiten zu machen. Ein letzter Rettungsversuch, mit dem das Wiener
Filmarchiv spontan zur Hilfe eilte, stieß in Rom auf taube
Ohren. Und seither herrscht Rätselraten, wo die Bestände verblieben sind.

Unsichtbares Erbe

Dass es auch ganz anders geht, stellt nun eine von der Deutschen Kinemathek ausgehende Initiative unter Beweis: Eine Reihe von Institutionen, unter ihnen die nationalen Filmarchive in Wien, Prag und Paris, hat sich nämlich in den Kopf gesetzt, in einer „Lost Films“ betitelten Datenbank alles an verstreutem Material zusammenzutragen, was von rund 100 verschollenen Filmen, von Lubitsch bis Lang, noch irgendwo auffindbar ist. Hie und da sind es einzelne Fragmente, meist aber nur Zeitungs- und Zensurnotizen, Plakate, Bilder und Programmhefte, die heute noch eine Vorstellung von dem ursprünglichen Film vermitteln können. Die ersten Ergebnisse des Verzeichnisses, das als Internet-Datenbank durch die Beiträge von Archivaren und Forschern permanent ergänzt und kommentiert werden kann, sollen in Kürze der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Dieser international gut vernetzte Kraftakt, der dieser Tage so richtig anläuft und sich die „Sichtbarmachung des unsichtbaren Erbes“ auf die Fahnen geschrieben hat, folgt dabei dem Vorbild des Britischen Filminstituts, das vor gut 15 Jahren Ähnliches für die britische Kinoarchäologie versucht hat. Die Liste der „lost films“ ist lang, und es finden sich auf ihr keineswegs nur unbedeutende und vergessene Namen. Nicht zufällig mit an Bord ist deshalb auch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, stehen doch – neben einer ganzen Reihe von Ernst-Lubitsch-Filmen – auch nicht wenige vermisste Murnau-Titel auf der gemeinsamen Verlust- und Wunschliste.

Die Archive tun jedenfalls gut daran, sich zu beeilen, um der versprengten Überbleibsel des frühen Kinos habhaft zu werden. Denn mit jedem Tag zerbröseln die historischen Nitrofilme ein bisschen mehr, bis am Ende nur noch ein bräunliches Pulver übrig bleibt. Und Tradition, liest man auf der Website des Filmarchiv Austria, bedeutet schließlich die Weitergabe des Feuers – und nicht die Anbetung eines Häufchens Asche.