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Abdellatif Kechiche

Abdellatif Kechiche | Interview

„Mein Kino ist eine Suche nach Hoffnung und Utopie“

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Abdellatif Kechiche über seine Anfänge als Regisseur, seine Arbeitsweise und die Suche nach Identität.

Wie haben Sie das Kino für sich entdeckt?
Abdellatif Kechiche: Ich bin in Nizza in einer Siedlung unweit der Victorine Studios aufgewachsen und ging sehr viel ins Kino. Ich schrieb damals schon Drehbücher und wünschte mir, auf die eine oder andere Art beim Film zu arbeiten. Das war dann auch der Grund, weshalb ich dann am Konservatorium von Nizza Schauspiel studierte.

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Wie ist es dann zum Übergang in die Regie gekommen?
Weder habe ich je aufgehört zu schreiben, noch hat mein Wunsch, Filme zu realisieren, jemals nachgelassen. Aber es war unmöglich, zu einer Finanzierung zu kommen. Das erste Drehbuch, das ich ans CNC (Centre National de la Cinematographie) geschickt habe, war L’Esquive, so ungefähr 1995. Ohne Ergebnis. Ich bekam aber schließlich eine Förderung für La Faute à Voltaire.

In diesem ersten Film nimmt Sprache bereits eine sehr wichtige Stellung ein …
Das Entscheidende ist der Austausch. Er kann über Worte stattfinden, aber auch über Tränen, Lachen oder Schreien. Wichtig ist, dass das Leben in Bewegung ist und zwar mit Vehemenz. Sprache und etwas miteinander Teilen gehen einher. Ich empfinde Worten gegenüber ein kulinarisches Vergnügen, sie sind es, die den Ton, die Ausdrucksstärke, die Gestik bedingen.

Ihr Kino besticht durch die Leistung ihrer Darsteller, die großteils keine Profis sind. Wie sieht ihre Methode aus?
Ich habe keine Methode. Ich sehe mir sehr viele Leute beim Casting an, es ist mir nicht speziell daran gelegen, dass sie Amateure sind. In La Graine et le mulet spielen auch Profis. Die einen bringen Genauigkeit ein, die anderen Spontaneität. Diese Kombination ermöglicht es, zu einer Form zu finden, die über den Professionalismus hinausreicht. Die Profis ihrerseits müssen bereit sein, sich Zeit zu lassen, sich verunsichern zu lassen. Das Wichtigste ist, eine in sich geeinte Gruppe zu haben.

Die jungen Frauen legen das Feuer in Ihren Filmen. Aure Atika (La Faute à Voltaire), Sara Forestier (L’Esquive), Hafsia Herzi (La Graine et le mulet) …
Einen Schauspieler, eine Schauspielerin auszuwählen ist ein ganz entscheidender Augenblick. Ich mache auch für meinen Stab ein Casting, wie für die Schauspieler. Ich nehme mir sehr viel Zeit, bevor ich entscheide, jemanden ins Team aufzunehmen. So wie ich das jetzt sage, klingt das wie nach Sekte …

Und wenn man mal in der Sekte drinnen ist?
Kommt die Zeit der Proben, die mir sehr am Herzen liegen. Für L’Esquive haben wir mehrere Monate in einem besetzten Haus in Belleville geprobt. Dasselbe bei La Graine et le mulet, wo die Proben in Paris und Sète stattfanden. Ich will, dass jeder seinen Platz findet, die Chemie stellt sich dann ein. Der Film muss sich aus dem Off nähren, aus allem, was vor und während des Drehs passiert ist.

Kochen, essen, trinken, tanzen … Ihr Kino ist sinnlich. Auch in der Liebe ?
Ich würde gerne noch weiter gehen. Ich beneide Catherine Breillat für ihre Kühnheiten, ich würde ihr gerne Konkurrenz machen. Ich zeige die Sexualität, aber auch, was gewagter ist, die Momente der Blockade, der Frustration. Ich wollte Slimane mit seinen familiären, personellen, sexuellen Problemen zeigen, um den Einwandererklischees zu entgehen.

In allen drei ihrer Filme geht es darum, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.
Der meine ergibt sich weniger aus der Identität meiner Wurzeln als durch meine soziale Herkunft. Jeder, der aus dem Arbeitermilieu kommt, empfindet diesbezüglich ein Unbehagen, man fühlt sich immer ein bisschen ausgeschlossen. Ich bin mit der Befürchtung Filmemacher geworden, von meiner sozialen Identität eingeholt zu werden.

Über soziale Themen hinaus, ist Ihr Kino eine existenzielle Suche?
Zweifellos, aber mit einem großen Anteil an Hoffnung und Utopie. Ich habe darauf geachtet, dass die Schlussszene mit dem Bauchtanz, die als ein Abschied an die ältere Generation gerichtet ist, mit optimistischen Symbolen versehen ist: Der Bauch, der sich hier preisgibt, ist auf die Zukunft gerichtet. Aus ihm kann etwas wachsen, etwas hervorgehen.