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Changeling – It Happened One Night

It Happened One Night

| Helmut Merker |

Clint Eastwood stellt in „Changeling“ erneut eine kämpfende Frau ins Zentrum und beschert Angelina Jolie ihre längst fällige große dramatische Hauptrolle.

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Was haben Jacques Rivette und Clint Eastwood gemeinsam? Man erwartet ihre neuen Filme jeweils mit so großer Freude, dass man dann schon enttäuscht ist, wenn man nicht vollkommen begeistert sein kann. „Changeling“ ist ein Begriff aus der Sagenwelt, in der zwielichtige Wesen die Menschen foppen, Kinder rauben und  eine fremde Kreatur in der Wiege zurücklassen: ein „Wechselbalg“ eben – und somit ein bedenklicher Titel, da er seinen Schatten nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf das Werk selbst wirft. Gleich nach dem alten Universal-Logo und dem Filmtitel folgt die zweideutige Angabe auf der Leinwand, in einer einzigen Zeile nur, bescheiden und doch auftrumpfend: „A true story“. Nicht „based on“ oder „inspired by“, sondern „eine wahre Geschichte“. Mit der Wahrheit ist das so eine Sache, und an dem Spruch „Das Leben schreibt die besten Drehbücher“ ist nur eines wahr: dass das eine völlig sinnlose Behauptung ist.

Los Angeles, 9. März 1928. Christine Collins, alleinerziehende Mutter, verspricht ihrem neunjährigen Sohn, am nächsten Tag mit ihm ins Kino zu gehen, wo der neue Charlie-Chaplin-Film läuft. Als sie dann aber von der Arbeit nach Hause kommt, ist der kleine Walter verschwunden. Fünf Monate später präsentiert die Polizei stolz das Ergebnis ihrer Suche, schnell wird jedoch deutlich, dass sie der Mutter ein falsches Kind andrehen will. Als die immer heftiger protestiert, landet sie im Irrenhaus. Ein Presbyterianer-Pfarrer predigt von der Kanzel und in einer Radioshow gegen die Polizei und mobilisiert die Stadt für den Christine-Collins-Fall. Zugleich kommt eine Mordserie ans Licht der Öffentlichkeit, die
Wineville Chicken Coop Murders. Es handelt sich um einen Serienkiller, der auch Walter in seiner Gewalt hatte …

Ein Werk über die zweite Gründerzeit der Westküstenmetropole, und die Stadt ist ein moralischer Sumpf in der großen Depression; Machtmissbrauch, Erpressung von Schutzgeldern und Mord gehen auf das Konto der Behörden. Aber anders als in Roman Polanskis Chinatown oder Curtis Hansons L.A. Confidential entwickelt sich hier keine labyrinthische Detektiv-Geschichte; im Mittelpunkt steht die obsessive Suche einer Mutter nach ihrem Kind, durchaus vergleichbar mit der Jagd nach dem Killer in David Finchers Zodiac.

Der Changeling-Autor Michael Straczynski hat zuvor Science-Fiction-Serien fürs Fernsehen geschrieben. Früher arbeitete er als Reporter, aus dieser Zeit stammen seine Verbindungen zur Los Angeles City Hall, wo man aus Platzmangel tonnenweise Dokumente verbrennen wollte. Straczynski stürzte sich auf einige tausend Seiten Aktenmaterial zum Collins-Fall und schrieb dann das Drehbuch in zwei Wochen. Die Tatsachen mögen unglaublich klingen, sind aber authentisch. Zweifellos ist der Ablauf der Ereignisse richtig wiedergegeben, und gerade das ist das Problem: Das Leben schreibt eben keine Drehbücher, jedenfalls keine guten. Die Kunst liegt darin, das vorgefundene Material zu verdichten.

Akten und Fakten

Schillers oder Hitchcocks Dramaturgie zeigt uns, dass ein Werk mit vielen unterschiedlichen Motiven und Schauplätzen, Handlungssträngen und Personen beginnen kann, wenn sich dieses Mosaik dann nur zu einem stimmigen Bild mit einem roten Faden zusammenfügt. Changeling macht es genau umgekehrt: Nach den großartigen ersten neunzig Minuten mäandert der Film vom Mutter-Sohn-Melodram zum Detective-Thriller, zur Killer-Story, zum Gerichtsdrama – und wieder zurück, zerfleddert dabei zwischen den Stilen und möglichen Enden. Das bekommt weder dem Spannungsbogen und den Emotionen noch den einzelnen Rollen und ihren Darstellern. Ist schon ein fanatischer Prediger (John Malkovich, manieriert wie immer) als einziger Kämpfer gegen „die korrupteste Polizei diesseits der Rocky Mountains“ gewöhnungsbedürftig, wird der Star-Anwalt (Geoff Pierson, selbstlos edel) überhaupt erst im letzten Drittel des Films eingeführt, und nach einem flammenden Plädoyer gegen den zynischen Polizei-Captain Jones (Jeffrey Donovan) hat er seine Schuldigkeit auch schon getan. Bei dem „fremden Sohn“ (Devon Conti) wird nie recht verständlich, wie ein kindlicher Betrüger so lange sein Täuschungsmanöver durchhalten kann. Nachdem der einzige ehrliche Polizei-Detective (Michael Kelly) gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten die Mordserie aufgeklärt hat, flieht der Täter (Jason Butler Harner) zunächst noch nach Kanada zu seiner Mutter, wird aber wieder nach Los Angeles zurücktransportiert, verurteilt und hingerichtet und muss das alles augenrollend und mit irrem Lächeln über sich ergehen lassen. Sicher soll die Wahrheit ans Tageslicht, aber wem dient eine solche mit Fakten überfrachtete Wahrheitsfindung? All das ist die reale Akten-Story, aber nicht die wahre Film-Geschichte.

Angelina Jolie als Christine Collins ist der Dreh- und Angelpunkt, das Herz des Films, in dem sich alle Emotionen des Zuschauers bündeln. Allein durch sie gewinnt der Film seine wahre Größe, durch Blicke, Gesten, Dialoge, Szenen, die eher nicht in den Gerichtsakten zu finden gewesen sind. Am Anfang weist sie ihrem Jungen, als er von einem Streit in der Schule erzählt, den richtigen Weg: „Never start a fight, always finish it.“ Wenig später wird das ihr eigenes Lebensmotto sein, wenn sie bis zum Schluss, wie die sprichwörtliche Löwenmutter, um ihr Junges kämpft. Mit verständnisvollem Bedauern erklärt sie ihrem Sohn, sein Vater habe sie verlassen, weil er der Verantwortung nicht gewachsen war, in diesen schweren Zeiten für die Familie zu sorgen. Mit funkelnder Wut hingegen reagiert sie auf den schlimmsten Vorwurf der Polizei, sie wolle sich ihrem wieder gefundenen Sohn gegenüber bloß aus der Verantwortung stehlen. Herzzerreißend der Umschlag von Vorfreude in Trauer und in die langsam keimende Erkenntnis, nur eine Schachfigur in einem bösen Spiel zu sein, zu dem sie gute Miene machen soll. „Großer Bahnhof“ auf dem Hauptbahnhof von Los Angeles: Der Junge fährt mit dem Zug ein, der Junge steigt aus, der Junge treibt ihr das Entsetzen ins Gesicht. Mit einem Blick erfasst Captain Jones die Lage mit der erwartungsfroh aufgebauten Meute der Reporter und Fotografen. Das LAPD braucht jedenfalls dringend einen öffentlichen Erfolg, um sein schlechtes Image zu korrigieren. Der Protest der enttäuschten Mutter darf ihm da keinen Strich durch die Rechnung machen.

Mit dem Kino gealtert

So beginnt in Changeling die Suche des Einzelnen nach Wahrheit gegen eine Welt von Lügen, der Aufstand des mündigen Bürgers gegen feindliche Institutionen, ein Generalthema des amerikanischen Kinos – und in der Karriere Eastwoods. Der schweigsame Revolvermann und Westernheld (High Plains Drifter, Pale Rider), der Großstadt-Cowboy (Dirty Harry, Calahan), der gnadenlose Rächer – und dann Mitte der Neunziger Jahre plötzlich eine der schönsten Liebesgeschichten zwischen zwei erwachsenen Menschen (The Bridges of Madison County). Und knapp zehn Jahre später gewinnen seine beiden Darsteller Sean Penn und Tim Robbins in einem traumatischen Thriller um eine verlorene Tochter (Mystic River) jeweils einen Oscar. Eastwood ist ein Regisseur und Hauptdarsteller, der mit dem Kino gealtert und gewachsen ist, der immer wieder amerikanische Mythen wie den Western oder den Jazz reflektiert. Nach dem Tode Paul Newmans und Sydney Pollacks wird es allmählich einsam in seiner Generation.

Der Bogen ist also weit gespannt vom zynischen Haudegen zum abgeklärten Eastwood, der mit der Gelassenheit des Profis und seinem bewährten lethargischen Minimalismus seinen Weg geht. Ein Filmemacher, der mit dem eigenen Image sein Spiel treibt. Ironisch macht er die Vergänglichkeit seines Schauspielerkörpers zum Thema seiner Filme. Als Darsteller hat er in Blood Work nach einer Transplantation ein Frauenherz, als Regisseur hat er ein Herz für Frauen. Er besetzt drei Schauspielerinnen über 45 in wichtigen Rollen und setzt wie kein anderer Regisseur die Attraktivität reifer Frauen ins Bild. Er hält sich an sein Motto „tough ain’t enough“ in Million Dollar Baby und  gewinnt für den besten Film und die beste Regie, seine junge Partnerin Hilary Swank als beste Darstellerin den Oscar. In Changeling steht allein eine Frau im Rampenlicht. Inzwischen könnte Eastwood jeden weiblichen Superstar für seine Filme bekommen, da geht es ihm wie Woody Allen, bloß sucht er nicht eine Muse für seine Phantasien, sondern die richtige Person für eine gute Geschichte. Spät ist der Darsteller des Dirty Harry zum Feministen geworden, der selbstbewusste Frauen bei ihrem Kampf gegen eine von Männern beherrschte frauenfeindliche Welt begleitet.

Zweitrangige Einwände

Angelina Jolie mag dabei manchmal eher weinerlich als verzweifelt wirken, sie muss ein wenig zu oft die Hand im braunen Lederhandschuh vor den Mund pressen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, einige Wiederholungen des Satzes „Wo ist mein Sohn?“ hätte man ihr ersparen können, und die Fülle der Großaufnahmen wirkt bisweilen auch wie eine Bewerbung für den nächsten Oscar. Natürlich muss man ihre Rolle trennen von all den Regenbogenschmonzetten über Brangelinas Kinder, adoptierte, eigene oder zu erwartende …. Aber das sind zweitrangige Einwände gegen eine wahre Eastwood-Figur. Gesicht und Haltung, Kleidung und Make-up, die schwarzen Haare unter dem Topfhütchen, all das wirkt, als habe ein moderner Pygmalion seinem Geschöpf Atem eingehaucht, so dass es aus einem Edward-Hopper-Gemälde heraus ins Leben eintreten kann. Langsam entfaltet sich da ihre Geschichte, zieht sich das Netz aus Korruption und Behördenwillkür zusammen, in dem sie sich verfängt, findet sie durch Trauer und Wut zu der Kraft, den Kampf um ihren verlorenen Sohn nicht aufzugeben, wird hinter dem Einzelschicksal das Bild einer Epoche sichtbar.

Perfekt aufgebaut und ausgeleuchtet ersteht vor unseren Augen die Stadt mit den schwarzen Automobilen und den roten scheppernden Straßenbahnen der Zwanziger Jahre – und eine originelle Sequenz zeigt uns die dynamische Arbeit bei der Pacific Telephone and Telegraph Company: Man kennt das Bild mit einer Reihe von jungen Frauen, die vor Schalttafeln sitzen, ein paar Fragen ins Telefon sprechen, Kabel umstecken, Menschen miteinander verbinden – und durch ihre Reihen um sie herum fährt auf Rollschuhen als seriöse Aufseherin Christine Collins und greift fachmännisch-freundlich ein, wo es Probleme gibt. Doch dieses wohlgeordnete Chaos einer funktionierenden Arbeitswelt hält nicht lange an.

Immer mehr zeigt uns Tom Sterns Kamera Los Angeles nicht als „Stadt der Engel“ im Sonnenschein, sondern regnerisch, unter fahlem Himmel, in ausgebleichten Farben. In den Innenaufnahmen herrscht schwarz vor, durch ein Fenster mit Gardinen schneidet das Licht in scharfem Kontrast eine schräge Bahn milchig weißer Helligkeit, auf die wieder die Jalousien ihre Hell-Dunkel-Muster werfen. Drinnen Christines Gesicht, in ihrer einsamen Wohnung oder in der Zelle der Psychiatrie, auf der Polizeistation oder im Gerichtsgebäude: die dunkel geschminkten Augen noch zusätzlich im Schatten, darunter das Gesicht so weiß und die Lippen so rot. Nur einmal, am Ende ihres Leidensweges, tut sich eine ganz andere Welt auf: Jolie lacht. Es ist der schönste Moment des Films und ein besonderer Tag in Hollywood, der 27. Februar 1935, die Oscar-Nacht. Die Kolleginnen und ihr Chef wollen sie zu einer Party mitnehmen, sie bleibt lieber allein, setzt aber zwei Dollar für ihren Favoriten ein. Am Radio hört sie die Entscheidung. Nominiert als bester Film ist auch Cleopatra, den kommentiert sie mit „überschätzt“; es gewinnt It Happened One Night mit Clark Gable und Claudette Colbert. Da klatscht sie in die Hände und strahlt. Eine kleine Szene, eine große Liebeserklärung an das Kino.

Was Rivette einst über das amerikanische Kino schrieb, kann man getrost auch auf Eastwood als einen der letzten Vertreter des klassischen Hollywood beziehen: „Was immer man von den Meisterregisseuren sieht, einschließlich ihrer Übertreibungen und Fehler, macht sie nur größer …“ So ist es sicher kein schlechter Tipp, im nächsten Jahr mit besonderer Vorfreude auf 36 vues du Pic Saint-Loup und auf Gran Torino zu warten – die neuen Filme von Jacques Rivette und Clint Eastwood.