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Entre les murs – Beinahe auf Augenhöhe

| Philippe Mangeot |

Für seinen neuen Film „Die Klasse“ („Entre les murs“) ging Laurent Cantet durch die Schule der Vierzehnjährigen und erarbeitete gemeinsam mit ihnen innerhalb der vier Wände eines Klassenzimmers ein verblüffend authentisches Alltagsbild. Die Jury in Cannes vergab dafür die Goldene Palme. Ein Gespräch mit dem Regisseur und mit dem Autor François Bégaudeau.

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In seinem Hauptberuf ist François Bégaudeau Lehrer für Französisch. Darüber hinaus schreibt er Romane und hat den jüngsten – Entre les murs – seinem eigenen Dasein als Pädagoge an einer jener Pariser Mittelschulen gewidmet, die die multikulturelle Identität einer Metropole, aber auch Resultate einer nicht gerade konsequenten Integrationspolitik widerspiegelt. Regisseur Laurent Cantet (Ressources humaines, l’Emploi du temps) verfolgte bereits die Idee, sich mit dem Thema Schule auseinanderzusetzen, als er Entre les murs entdeckte und mit einem Schlag nicht nur eine quasi-dokumentarische Grundlage für sein Projekt, sondern mit dem Autor auch den idealen Hauptdarsteller gefunden hatte. Bégaudeaus Roman ist die fiktive Chronik eines Schuljahres an der Trennlinie zur Wirklichkeit, das wachsame Protokoll eines tagtäglichen Kraftaktes, der im Minutentakt die kleinen Siege und Niederlagen auf beiden Seiten des Klassenzimmers registriert. Nicht umsonst hatte Cantet das Bild eines Tennismatches vor sich, als er nach mehrmonatiger Improvisationsarbeit mit Schülern und Lehrern in einem Klassenzimmer zu drehen begann, um die wortwitzigen, provokanten und berührenden Duelle in den Kontext einer Institution zu stellen, die für manche der Jugendlichen bereits ihre sozialen Selektionsmechanismen wirksam werden lässt.

Wie entstand das Projekt Entre les murs?
Laurent Cantet:
Nach den Dreharbeiten von Vers le Sud schwebte mir vor, einen Film über das Leben in einer Mittelschule zu machen. Sehr schnell konkretisierte sich dabei die Idee, dass ich das Schulgelände dabei nie verlassen möchte. Ich wollte die Schule als Resonanzkasten zeigen, als einen Ort, durch den die Turbulenzen der Welt ziehen, als einen Mikrokosmos, wo ganz konkret die Fragen der Chancengleichheit und -ungleichheit, der Macht, der kulturellen und sozialen Integration und der Ausgrenzung auf dem Spiel stehen. Als ich François Bégaudeaus Buch Entre les murs las, hatte ich sofort den Eindruck, dass er für mein ursprüngliches Projekt zwei weitere Dinge einbrachte: einerseits eine Art dokumentarische Grundlage, die mir fehlte, und andererseits die Figur des François mit seiner sehr frontalen Beziehung, die er zu seinen Schülern unterhält. Er verkörpert und verdichtet auf seine Weise die verschiedenen Facetten von Professoren, die ich im Kopf hatte.

François Bégaudeau:
Die Absicht meines Buches lag darin, ein Schuljahr entlang der täglichen Erfahrungen zu dokumentieren. Es gab keine klare narrative Linie, keine Fiktion, die um einen bestimmten Anlass herum geflochten wurde. Laurent und sein Koautor haben dann daraus den Faden gesponnen, der sie interessierte.

Laurent Cantet:
Wir wollten nicht, dass dieser Faden unmittelbar sichtbar wird, sondern dass die Figuren nach und nach ganz unmerklich an Profil gewinnen. Der Film ist zunächst die Chronik des Lebens einer Klasse: einer Gemeinschaft von 25 Leuten, die einander nicht ausgesucht haben, die aber angehalten sind, miteinander auszukommen und während eines ganzen Jahres innerhalb der vier Wände zu arbeiten. Wir gingen von einer konkreten Mittelschule aus, dem Collège Françoise Dolto im 20. Arrondissement in Paris: Alle Jugendlichen im Film sind dort Schüler, alle Lehrer unterrichten dort.

Sie hatten es sozusagen mit geborenen Schauspielern zu tun?
Laurent Cantet:
Die Arbeit mit den Jugendlichen hat im November 2006 begonnen und bis zum Ende des Schuljahres gedauert. Wir hielten einmal pro Woche offene Workshops für alle Schüler der vierten und fünften Klasse. Der Großteil derer, die schließlich in der Klasse im Film spielen, sind diejenigen, die das ganze Jahr mitgemacht haben. Die anderen haben meist von selber aufgehört. François hat das ganze Jahr an den Workshops teilgenommen, wir haben die Jugendlichen nach und nach kennen gelernt und mit ihnen danach gesucht, was sie den von uns vorgeschlagenen Skeletten an Eigenem draufsetzen konnten.

François Bégaudeau:
Am Ende heißt es „die Kids sind großartig, aber sie sind keine echten Schauspieler; dass sie so natürlich sind, liegt daran, dass sie ihr Leben spielen …“ Nichts ist falscher als das.

Laurent Cantet:
Wenn ich von einem Schüler verlange, einen Schüler, oder von einem Lehrer, einen Lehrer zu spielen, dann erwarte ich nicht, dass sie sich so geben, wie sie sind: Ich bin sehr stark dem Ansatz verbunden, dass das Spiel eine Neuerschaffung des Selbst mit sich bringt. Mit dem Bild, das die Schauspieler von sich selber, von ihrer Art zu sprechen, von ihrer Art zu sein haben, kann man an den Figuren bauen. Auch mit den Lehrern begannen wir sehr früh, die Figuren zu erarbeiten: In den Improvisationseinheiten haben sie gemeinsam über das Wesentliche der einzelnen Szenen reflektiert und stellten dabei ihre eigenen gewohnten Verhaltensweisen in Frage. Es ist die faszinierendste Phase beim Filmemachen und die Konstruktion der Figuren hat immer etwas Geheimnisvolles. Wenn die Szene einmal gedreht ist, ist sehr schwer zu sagen, wer was eingebracht hat.

Wie haben Sie es geschafft, diese sehr authentische Klassensituation zu realisieren?
Laurent Cantet:

Ich wollte, dass die Dreharbeiten die Improvisationsarbeit der Vorbereitung fortsetzen und zwar mit der gleichen Freiheit. Drehen auf Video war daher unumgänglich. Ich wollte die Möglichkeit haben, zwanzig Minuten durchgehend zu drehen, auch wenn nichts geschah, weil ich wusste, dass es nur eines einzigen Satzes bedurfte, um etwas in Gang zu bringen. Für die Klassenszenen begann François seinen Unterricht zu einem gegebenen Thema: An irgendeinem Moment musste eine Kurve kommen. Wir erklärten das den zwei, drei Schülern, die die Szenen zu tragen hatten, indem wir sie auf die Schlüsselmomente hinwiesen, für die eine bestimmte Reaktion feststand. Aber sie wussten nicht, wie er sie dorthin bringt. François führte also die Szene so, wie man einen Unterricht führt.

Wie wurde das kameratechnisch gelöst?
Laurent Cantet:
Ich war überzeugt, dass diese Anordnung drei Kameras benötigte: eine immer auf den Lehrer gerichtet, eine auf den Schüler, der in der Szene eine Schlüsselrolle hatte, und eine dritte, um das Abdriften zu erlauben: ein schaukelnder Stuhl auf nur einem Fuß, ein Mädchen, das ihrer Freundin die Haare schneidet – Alltagsdetails aus dem Klassenleben, die wir nie hätten nachstellen können. Die Kameras waren im Klassenraum alle auf derselben Seite aufgestellt, jene für den Lehrer immer links, jene der Schüler rechts, wir befanden uns also kaum je in der Blickachse. Die Idee, die dahinter stand, war, die Szenen wie ein Tennismatch zu filmen, was voraussetzte, Lehrer und Schüler auf gleicher Höhe zu betrachten. Diese Art zu filmen machte eine große Vertrautheit zwischen François und mir notwendig, die Herstellung von Entre les murs erfolgte wirklich mit geteilter Verantwortung.

Wie wurde der inhaltliche Rahmen festgelegt?
François Bégaudeau:
Wir haben es so gestaltet, dass zu den Szenenanfängen Momente der klassischen Wissensvermittlung stehen: die Verslehre, der Subjonctif, Anne Frank etc. Und dann driftet es ab. Zu diesem Abdriften stehe ich als Pädagoge gerne. Aber es gibt im Film wie im Buch einen „Kunsteffekt“. Damit meine ich, auch wenn man versucht, an der Realität dranzubleiben, bewegt sich ein Buch oder ein Film natürlich in Richtung einer Ausnahmesituation. Wenn alle schweigen, gibt es keine Szene. Zwischen acht und neun schlafen die Schüler, da gibt es nichts zu erzählen.

Laurent Cantet:
Es waren vor allem diese Momente des Abdriftens, die mich interessierten und für die der Film steht. Es gibt wenige Lehrer, die gegenüber ihren Schülern so viel Risiko eingehen: Es ist leichter sagen zu können, ich habe ein bestimmtes Wissen erfolgreich per Frontalunterricht vermittelt, als ich habe sie hintenrum hingeführt. Das verlangt eine gewisse kühle Distanz, die manche Leute François zum Vorwurf machen, um die ihn aber viele auch beneiden. Dieser Mann hat etwas von Sokrates!

Wie sieht es mit der Frage nach dem Schuldigen in den schulischen Konflikten aus?
Laurent Cantet:
Der Film versucht weder die einen noch die anderen mit besonderer Rücksicht zu behandeln: Sie haben alle ihre Schwächen, ihre Wutausbrüche, ihre Sternstunden und ihre Pedanterien. Jeder von ihnen kann bei wechselnder Gelegenheit Weitblick oder Blindheit, Verständnis oder Ungerechtigkeit an den Tag legen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass der Film etwas sehr Freudvolles aussagt. Die Schule ist tatsächlich manchmal sehr chaotisch. Das zu verschleiern, wäre sinnlos. Man erlebt dort Momente der Entmutigung, aber auch große Glücksmomente. Und dieses große Chaos ist zu keinem geringen Anteil eine Frucht der Intelligenz.

François Bégaudeau:
Für diese Momente des Glücks die Voraussetzungen zu schaffen, gelingt einem Lehrer nicht immer, außerdem ist bekannt, dass am Ende die Sortiermaschine ihre Arbeit macht. Dennoch haben die Glücksmomente viel dazu beigetragen, dass ich immer mit großem Vergnügen unterrichtet habe. Oder mit 30 Kindern in der Klasse stehe und versuche, mit ihnen nachzudenken. Beinahe auf Augenhöhe.

Schule schafft permanent geniale Situationen, aber man weiß, dass sie am Ende auch diskriminierend und ungerecht ist, dass sie Gleichförmigkeit produziert, und so weiter. Diese Spannung ist die des Films. Jede Situation ist eine Utopie, aber die Summe der Utopien ist tragisch. Das genau ist bei Laurents Film der Fall: Man könnte darin die Geschichte eines Scheiterns sehen; man kann aber umgekehrt die Momente konkreter Utopie in Erinnerung behalten.