Man on Wire

| Ralph Umard |

Porträt eines obsessiven Artisten und Rekonstruktion seines tollkühnsten Coups: ein Seiltanz zwischen den Türmen der World Trade Centers.

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„Welch ein wunderschöner Tod, bei der Ausübung seiner Passion zu sterben“, sagt der Seilakrobat Philippe Petit. Doch war es kein Todeswunsch, sondern Wahnwitz und Besessenheit, die den Franzosen sechs Tage vor seinem 25. Geburtstag dazu trieb, am Morgen des 7. August 1974 ohne Sicherungsleine in über 400 Metern Höhe eine dreiviertel Stunde lang auf einem Drahtseil zwischen den beiden Gebäuden des World Trade Centers hin und her zu balancieren. Am Abend zuvor waren Petit und drei Helfer mit einer zentnerschweren Ausrüstung heimlich aufs Dach des damals höchsten Wolkenkratzers der Welt geschlichen und hatten eine Stahltrosse zwischen den Türmen gespannt.

Der Coup ist mit Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen spannend wie ein Krimi inszeniert, dazwischen geschnitten sind Interviews mit den Beteiligten sowie alte Filmbilder und Fotos, die Petit bei den Vorbereitungen seiner Schwindel erregenden Show zeigen. Dabei bekommt man einen Eindruck von der Persönlichkeit des Extremartisten, der auch im fortgeschrittenen Alter noch immer von der tollkühnen Aktion besessen ist und vor Energie zu bersten scheint. Petit ist ein narzisstischer Traumtänzer, ein Naturtalent und Autodidakt, der seinen außergewöhnlichen Gleichgewichtssinn selber erkannt und durch unermüdliches Üben perfektioniert hat. Sein erstes spektakuläres Kunststück war ein Seiltanz zwischen den Kirchtürmen von Notre Dame in Paris, später balancierte er zwischen den Pylonen der Hafenbrücke in Sydney – natürlich alles ohne Erlaubnis. Die Bilder der Aktion am World Trade Center, wenn Petit den ersten Schritt vom 104. Stockwerk in den freien Raum wagt und mit geradezu unheimlicher Selbstsicherheit durch die Lüfte schreitet, sich mitten auf dem Seil sogar niederlegt und in den Wolken zu schweben scheint – das sind Momente purer Magie!

Nach seinem halsbrecherischen Hochseilakt in New York wurde Philippe Petit zwar festgenommen, aber freigesprochen. Ein anarchischer Fall von „artistic freedom“, der von der US-Justiz toleriert, von den Medien gefeiert und von der Bevölkerung bejubelt wurde. Als Anerkennung bekam Petit eine Dauerkarte für die Aussichtsplattform des WTC überreicht. Heutzutage undenkbar – vermutlich würden ihn Antiterror-Scharfschützen wegen Verletzung des amerikanischen Luftraums gleich vom Seil schießen.