ray Filmmagazin » Biopic » Chronik eines angekündigten Todes

Milk – Chronik eines angekündigten Todes

Chronik eines angekündigten Todes

| Roman Scheiber |

Gus Van Sants achtfach für den Oscar nominiertes Filmporträt Milk“ zeigt die Ikone der Schwulenbewegung als neckisch-humorvollen Idealisten.

Werbung

Der Begriff „Outing“ steht heute für alle Arten des erzwungenen und freiwilligen Entäußerns privater Gewohnheiten und Neigungen. Anfang der Neunziger Jahre bezeichnete er eine Praxis, mit der homosexuelle Prominente zum öffentlichen Coming Out gezwungen werden sollten. Und irgendwann dazwischen bedeutete Outing in der deutschen Sprache auch die Entscheidung schwuler und lesbischer Menschen, sich aus freien Stücken offen zu ihrer sexuellen Identität zu bekennen.

Zur Zeit des gay activist Harvey Milk gab es den Begriff und seine Verwirrungen noch nicht. In den Siebziger Jahren hieß es „Coming out of the closet“ – aus dem Schrank herauskommen, sich selbst und anderen seine Neigung eingestehen. In Gus Van Sants schlicht Milk betiteltem Filmporträt wird diese Wendung häufig ausgesprochen, in einer Szene gar buchstäblich bebildert: Der verwirrte junge Boyfriend Milks versteckt sich auf einer Party im Kleiderschrank.

Milk, damals bereits Stadtrat von San Francisco, hielt sich (in der über weite Strecken überraschend akkuraten Darstellung Van Sants) mit seinem leicht hysterischen mexikanischen Lover eine Art Desperate Housewife. Es wäre plumpes Klischee, führte die Beziehung der beiden nicht wie durch ein Brennglas vor, womit Milk ganz allgemein zu kämpfen hatte, nämlich die Grenze von privat zu öffentlich für Schwule leichter überwindbar zu machen. Ein Gegenschnitt von innen und außen in Milks eigenem Leben erinnert an eine aus dem damaligen Mehrheitsmodell Alleinverdiener-Ehe sattsam bekannte Szenerie, wobei der ironische Effekt programmiert scheint: Während Milk bis in den Abend hinein Rechte für Homosexuelle erstreitet, seine Verführungskünste und Social Skills einsetzt, sitzt der vernachlässigte, eifersüchtige Partner mit der Schürze daheim vor dem kalt gewordenen Essen. Doch es soll noch schlimmer kommen.

The Life and Death of Harvey Milk

Van Sant, openly gay und einer der berühmtesten queeren Filmemacher der Welt mit Ambition für formales Avancement (Mala Noche, Drugstore Cowboy, My Own Private Idaho, Gerry, zuletzt Paranoid Park) und Ausflügen in den Mainstream (To Die For, Good Will Hunting, Finding Forrester), dringt mit seiner vielfach umjubelten Inszenierung bewusst in Harvey Milks Intimleben ein. Ihn, der rasch zum Sprachrohr und schließlich zur Ikone der Homosexuellen-
bewegung werden sollte, zeigt er nicht als Helden, sondern als Menschen mit Fehlern und Schwächen, aber auch mit dem festen Willen, die Welt zu verbessern (Sean Penn, mit kosmetisch verlängerter Nase, in einer seiner besten Rollen). Wie Elephant, Van Sants Studie zum Massenmord an der Columbine High School, und Last Days, seiner Meditation über Kurt Cobains Selbsttötung, erzählt auch Milk die Chronik eines angekündigten Todes. Mainstreamtauglicher als diese Filme, aber durchaus unkonventionell und visuell variabel, kommt Milk als Biopic eines kämpferischen Idealisten mit Sinn für Humor daher. Dazu mischen sich dokudramatische Züge eines Period Piece über eine aus den Fugen geratene Gesellschaftsordnung, und natürlich verzichtet Van Sant gerade in diesem Zusammenhang nicht auf den Problemfilm-Aspekt: Defensiv oder offensiv zu agieren, war damals (und ist zum Teil bis heute) für viele, zumal sehr junge Homosexuelle die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder die Neigung nach außen unterdrücken und im Geheimen ausleben (wie es auch Milk immerhin bis nach seinem 40. Geburtstag gehalten hat), oder durch ein von Elternpanik, Jobverlust- und Ausgrenzungsängsten angefachtes Fegefeuer marschieren. Auch der schwule Art Director aus der preisgekrönten neuen Sixties-Dramaserie Mad Men traut sich nicht aus dem Versteck zu kommen, weil er seinen Job behalten will. Freiheit war etwas anderes, das wurde Harvey Milk um 1970 herum klar, als er seinen hochdotierten Job als Investmentbanker in New York aufgab und mit seinem damaligen Lebensgefährten Scott Smith (engelsgleich im Film: James Franco) nach San Francisco zog, um im Arbeiterbezirk Castro einen Kameraladen aufzusperren.

Das ist auch der Punkt im Leben Milks, an dem wir ihn bei Van Sant kennen lernen – sieht man von der Rahmenerzählung ab, deren Inhalt schon für den oscarprämierten Dokumentarfilm The Times of Harvey Milk (1984) von wesentlicher Bedeutung war und sich zwei Umständen verdankt: Zum einen fertigte Milk rund ein Jahr vor seinem Tod eine Tonbandaufzeichnung an, die für den Fall seiner Ermordung als sein Vermächtnis gelten sollte. Zum anderen erklärte sich Milks Anwalt, nach Sichtung eines Rohschnitts von The Times of Harvey Milk, dazu bereit, das Band für Regisseur Rob Epstein und Produzent Richard Schmiechen freizugeben.

In beiden Filmen steht Milks gewaltsames Ende zu Beginn, ebenso wie der Text, den Milk im Bewusstsein der Gefahr eines Anschlags auf ihn eingesprochen hat. Darin heißt es: „If a bullet should enter my brain, let that bullet destroy every closet door.“ Am 4. Dezember 1978 trat der befürchtete Fall ein. Dan White, ein von persönlichen Krisen gebeutelter Politiker, spazierte mit einem Revolver ins Rathaus, erschoss Bürgermeister George Moscone mit vier Kugeln, ging zur anderen Seite des Gebäudes, lud nach und pumpte weitere fünf Kugeln in seinen ehemaligen Stadtratskollegen Harvey Milk. Den mit damals 32 Jahren ziemlich jungen, aus einer Feuerwehrfamilie stammenden Law-and-Order-Konservativen versieht Van Sant mit kryptoschwulen Andeutungen („Maybe he is one of us“, sagt Milk einmal); der von Josh Brolin (No Country for Old Men) gespielte White mäandert unbeholfen zwischen Bewunderung und Neid für den charismatischen und erfolgreicheren Gegenspieler.

The Mayor of Castro Street

Harvey Milk erfüllte für die sich im Amerika der Siebziger Jahre formierende Gay Community eine in gewisser Weise vergleichbare Funktion wie Barack Obama für die Afroamerikaner der Gegenwart. Als erster bekennender Homosexueller, der in ein öffentliches Amt gewählt wurde, entwickelte er sich rasch zur Identifikationsfigur für unzählige Bürger. Je fester Milk im Sattel saß, desto vehementer forderte er von seiner queeren Anhängerschaft, offen zu ihrer Andersartigkeit zu stehen. Das zu tun forderte freilich Mut. Nur zur Erinnerung: Die Siebziger waren eine Zeit, in der konservative Politiker Schwulsein noch als Krankheit definieren konnten, ohne dafür als reaktionäre Sektierer abgetan zu werden. Es war eine Zeit, als nicht wenige Eltern unter dem Schock des Outings ihres Kindes dasselbe zum Psychiater schicken wollten, um es wieder gerade rücken zu lassen. Und es war eine Zeit, in der Individualität, Selbstbestimmung und Liberalität freihändig mit dem Image von Sex, Drugs & Crime überpinselt wurden.

Ganz gewöhnliche Bürger in San Francisco, so berichteten Milk-Mitstreiter später, hätten sich nach der Wahl Milks zum Stadtrat von einer kollektiven Angstwolke umnebeln lassen. Vielerorts herrschte nach seinem bahnbrechenden Wahlerfolg die Befürchtung, Schwule und Lesben würden irgendwann die Stadt übernehmen und die öffentliche Ordnung auflösen. Bürgermeister George Moscone war ein respektierter Mann, erschien unter dieser vermeintlichen Bedrohung aber vielen als zu liberal. Bei Licht besehen war Harvey Milk der Vertreter einer Minderheit und machte sich für Rechte dieser Minderheit stark. Wie Obama wurde Milk von seiner Peer Group als „einer der ihren“ wahrgenommen, doch ähnlich wie Obama ließ er gleich bei seinem Antrittsinterview anklingen, dass er sich um alle Bürger San Franciscos gleichermaßen kümmern, insbesondere auch für die sogenannten „kleinen Leute“ und für andere Minderheiten da sein wolle: Latinos, Schwarze, aber auch alte und behinderte Menschen.

Herzstück und bleibender Erfolg von Milks politischer Arbeit war die Bekämpfung der sogenannten „Proposition 6“, einer Anti-Schwulen-Gesetzesvorlage in Kalifornien, die mit fadenscheinigen Argumenten Homosexuelle aus dem Lehrberuf verbannen wollte. Wie nachhaltig der Mann in seinen vier Wahlkampagnen und in seiner kurzen Amtszeit gewirkt hat, veranschaulicht derzeit Hollywood-Regisseur Bryan Singer (Valkyrie, Superman Returns, X-Men), der gerade ein weiteres Stück über Milk fertig stellt (den Dokumentarfilm The Mayor of Castro Street).

30 Jahre nach Harvey Milk wird in vielen Teilen der Welt der Kampf um die Rechte von Schwulen und Lesben auf einem höheren Level ausgetragen; dass er bei weitem nicht ans Ende gekommen ist, beweist indes eine aktuelle Gesetzesvorlage, mit der die Entscheidung des obersten kalifornischen Gerichts, die Schwulenehe zu legalisieren, als verfassungswidrig erklärt wird. Das Internetmagazin Slate schrieb dazu: „Milk ist plötzlich ein lautes Klagelied und ein Aufruf zum Handeln“. Wäre schön, würde sich zumindest die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nicht lange bitten lassen.