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Crossing Europe – Familiengeheinmisse

Familiengeheimnisse

| Daniela Sannwald |

Eine Reihe von Filmfestivals weltweit fokussieren auf das Filmland Türkei. Crossing Europe zeigt eine Auswahl der wichtigsten Werke des jungen, unabhängigen türkischen Kinos.

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Kinder, die zu früh erwachsen werden, und Erwachsene, die immer noch Kinder sind, Probleme mit alten Müttern oder nicht vorhandenen Vätern, Wahlverwandtschaften – kurz: Familie – und das Leben in der Provinz sind die Themen vieler neuer türkischer Filme, von denen eine kleine Auswahl beim Crossing-Europe-Festival zu sehen ist. Das Interesse der jüngeren türkischen Filmemacher fürs Landleben ist ein seit etwa drei Jahren zu beobachtender Trend, der darauf zurückzuführen ist, dass die meisten von ihnen Zuwanderer in der Kultur-Metropole Istanbul sind – wie ein Großteil von deren Einwohnern überhaupt. Und jetzt scheinen sich diejenigen, die in den Neunziger Jahren begeistert die vielen Facetten ihrer neuen Heimat in ihren Filmen abbildeten, ihrer Wurzeln zu besinnen und gelegentlich wehmütig neuerdings die Vorzüge der memleket, ihrer Herkunftsregionen, zu entdecken.

So etwa Yesim Ustaogˇlu, die vom östlichen Schwarzen Meer stammt und die drei Protagonisten aus Pandora’nın Kutusu (Pandora’s Box) nun dahin zurückkehren lässt. Es sind zwei Schwestern und ein Bruder, die zu ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter fahren, um sie in die Stadt zu holen, da sie allein nicht mehr leben kann. Pandora’s Box spielt im Winter, es regnet und stürmt; das Wetter visualisiert die emotionale Kälte, die zwischen den Familienmitgliedern herrscht. Erst am Ende, wenn der Enkel mit seiner Großmutter in ihr Dorf zurückfährt, kommt die Sonne heraus. Auch Özcan Alper, ehemaliger Kameraassistent Ustaogˇlus, hat es in die winterlichen Berge am Schwarzen Meer gezogen: Sein Held sucht nach zehn Jahren politischer Haft seine dort wohnende Mutter auf. Lungen- und seelenkrank versucht er, an seine Jugenderinnerungen anzuknüpfen. Sonbahar (Autumn) war mit 140.000 Zuschauern der bei weitem erfolgreichste Autorenfilm in der Türkei, erfolgreicher selbst als Üç maymun (Drei Affen), das jüngste Werk des international gefeierten Nuri Bilge Ceylan (zu Ceylans Film Iklimler siehe ausführlich ray 03/07).

Semih Kaplanogˇlu, in der westtürkischen Region Izmir gebürtig, entwickelt sein ödipales Mutter-Sohn-Drama Süt (Milk) eben dort, seine rätselhaften, symbolisch hoch aufgeladenen Bilder erzählen von der mühsamen Identitätssuche eines dichtenden Milchmanns. Und auch die Regisseure Seyfi Teoman mit Tatil Kitabi (Summer Book) und Atalay Tasdiken mit Mommo (The Bogeyman) handeln vom provinziellen Leben in der Süd- bzw. der Osttürkei. Ihre Filme porträtieren kleine ernste Jungen, denen eine Kindheit verwehrt wird, und zeichnen sich durch beiläufig-liebevolle Beobachtungen des dörflichen Alltags aus.

Allein der Wettbewerbsfilm Uzak Ihtimal (Wrong Rosary) spielt im multikulturell geprägten europäischen Teil Istanbuls – wo außerhalb der Großstadt könnten sich der Imam einer Stadtteilmoschee und eine im Kloster erzogene Katholikin auch sonst begegnen? Die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen den beiden verhindern sie selbst, genau so wie das familiäre Glück mit einem spät entdeckten Vater. Auch in diesem Film geht es um zerrüttete Familien. Zwangsläufig befassen sich die türkischen Regisseure mit dem Übergang von der patriarchalen zur individualistischen Gesellschaftsordnung, ein Veränderungsprozess gewaltigen Ausmaßes, dessen Folgen noch nicht absehbar sind.