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Gibellina – Il terremoto

Gibellina – il terremoto

| Hans Christian Leitich |

Joerg Burgers qualitätsvolle Städtebaustudie widmet sich mit Genauigkeit und Witz einem, wenn überhaupt, nur bedingt gelungenen Utopieprojekt in Süditalien.

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Im Jahr 1693 erschütterte ein schweres Erdbeben Sizilien; mehrere Städte wurden komplett dem Erdboden gleichgemacht. In Noto ersetzte man beim Wiederaufbau die mittelalterliche Struktur durch ein großzügig dimensioniertes, rationales Raster und bestückte dieses mit spätbarocken Prestigebauten; ähnlich ging man in Catania vor. Beide Städte sind heute prachtvoll und lebendig, als UNESCO-Weltkulturerbe beliebte Touristenziele. Die Energie eines Erdbebens sei nicht bloß zerstörerisch zu sehen, sondern als Anstoß zur Erneuerung, meint der pensionierte Bürgermeister von Gibellina Nuova – bezüglich Catania und Noto, vor allem aber bezüglich seiner eigenen Stadt und deren vergleichbar radikalen Neugründung nach dem fatalen Erdbeben von 1968. Prominente Architekten und Bildhauer wirkten mit; einige Kilometer weiter, auf requiriertem Mafia-Land und näher an den Verkehrsströmen, entstanden weitläufig sachliche und äußerst skulpturale Bauten, sowie eine Fülle von Großplastiken mit Land-Art-Qualitäten.

Eine Pilgerstätte für Architekturfans wurde das neue Gibellina, gewiss, vorerst allerdings ein wirtschaftlich-soziologisches Debakel. Dank einer Hinhaltetaktik der italienischen Regierung verzögerte sich der Baubeginn massiv, viele der in Baracken hausenden Dorfbewohner verspürten derweil einen alternativen Anstoß zur Erneuerung und emigrierten nach Übersee. Als Folge wirkte die nun viel zu groß angelegte Neustadt von Beginn an verwaist, nach weiteren Abwanderungen besiedeln nur mehr 4.500 Leute eine Art Freilichtmuseum, die mögliche Trendwende hat noch nicht begonnen. Ein hochillustratives Panorama dieses Planstadtprojekts bietet Burgers Dokumentarfilm. Die zahlreichen Stadtansichten wechseln klug zwischen Detail und Panorama, zwischen Ernüchterndem und Spektakulärem wie einer bereits kollabierten Kathedrale oder einer riesenhaften, bisweilen auffunkelnden Sternskulptur, wie das alte, unter Beton versiegelte Gibellina. Der Altbürgermeister trägt schwarzes T-Shirt und Strohhut, der junge ein schreiendgelbes Sakko, der „Club der Jäger” erinnert ein wenig an eine gemütliche Mafioso-Clique; blumiges Schwadronieren wie Lakonik bieten die befragten Einheimischen. Wer dazu neigt, mittelalterlich geprägte Ortschaften zu romantisieren, wird sich in Lamentos wiederfinden, ein „Ort ohne Zentrum und Seele“ sei da entstanden der Film selbst versucht jedenfalls nicht, diesen Standpunkt aufzunötigen, dazu kommt er viel zu verschmitzt daher.