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Kurzfilmtage Oberhausen – Festivaldirektor Lars Henrik im Interview

„Ein Festival zu leiten ist ein Ausnahmezustand“

| Andreas Ungerböck |

Lars Henrik Gass, geboren 1965 in Kaiserslautern, ist seit Oktober 1997 Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaften sowie Philosophie und schrieb seine Dissertation über die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Marguerite Duras. Von 1996 bis 1997 Geschäftsführer des Europäischen Dokumentarfilm Instituts in Mülheim an der Ruhr und Redakteur der Buchreihe „Texte zum Dokumentarfilm“ im Verlag Vorwerk 8. Er war journalistisch tätig und verfasste zahlreiche Artikel und Aufsätze zu Fotografie und Film. Daneben lehrte er an verschiedenen Hochschulen. 2001 veröffentlichte er das Buch „Das ortlose Kino. Über Marguerite Duras“ (Schnitt-Verlag). Von 2002 bis 2007 war er Mitglied der Jury des Deutschen Kurzfilmpreises, Kategorie Animations- und Dokumentarfilm.

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Lars Henrik Gass gilt, wie auch das folgende Interview beweist, als streitbarer und pointiert formulierender Festivalleiter. Es liegt an seiner engagierten Arbeit und der seines Teams, dass die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen in den letzten zwölf Jahren an ihren einstmals legendären Ruf als Ort der substanziellen Auseinandersetzung in ästhetischen und (film-)politischen Fragen wieder anknüpfen konnten. Das Festival wird von Filmemachern und Fachbesuchern gleichermaßen geschätzt. Die 55. Auflage findet von 30. April bis 5. Mai statt.

Der Name Oberhausen evoziert natürlich filmgeschichtliche Erinnerungen, unter anderem an das Jahr 1962, an die Unterzeichung des Oberhausener Manifests. Wie geht man mit diesem Erbe um?
Mich hat von Anfang an erstaunt, dass fast jeder dieses Festival kennt, wegen der heute bekannten Filmemacher, die hier ihre Karriere begannen, oder des Oberhausener Manifests wegen, aber fast keiner jemals dort war oder zumindest schon lange nicht mehr. Oder anders gesagt: Der Bekanntheitsgrad steht in einem gewissen Missverhältnis zu einer gelebten Erfahrung. Das freilich hat mit der Tatsache zu tun, dass der Kurzfilm heute nicht mehr die Bedeutung in Kino und Fernsehen hat, die er einmal besaß. Und auch damit, dass es zur Zeit der Gründung der Kurzfilmtage zwei Filmfestivals in Deutschland gab. Heute sind es bestimmt über hundert, und in der Welt vielleicht zweitausend. Es gibt also einen realen Bedeutungsverlust, den keine Arbeit hier umkehren kann, egal wie man sie macht. Auf der anderen Seite war und ist es möglich, diesem doch etwas schrulligen Phänomen Kurzfilmfestival Leben einzuhauchen. Die Kurzfilme bleiben ja lebendig, wenn der Begriff, den man davon hat, lebendig bleibt, wenn man sich also nicht auf eine Form von Kurzfilm beschränkt, die einem kurzen, gut gemachten, lustigen Kalauer entspricht. Es herrscht allgemein eine sehr reduzierte Sicht des Kurzfilms vor. Jenseits davon gibt es einen großen Reichtum an Formen, die man einfach entdecken muss. So haben wir in den späten Neunziger Jahren auch zum ersten Mal überhaupt auf einem Filmfestival in großem Maßstab innovative Musikvideos gezeigt. Alle waren überrascht, wie experimentell diese Formen waren, dass man es hier mit Avantgarde zu tun hatte. Da sind wir auch schon bei einem entscheidenden Punkt: Ein Festival mit dieser Tradition muss man mit einem Bewusstsein von Markenführung leiten. Ich kann hier in Oberhausen, das eine Tradition im Avantgardefilm von der ersten Stunde an hatte, nicht irgendwelche Musikvideos zeigen. Ich muss versuchen, zu zeigen, wo und wie Popkultur avantgardistisch ist und sich auch zum Teil explizit als Avantgarde begreift. Das Festival hat überdies auch einen politischen Ruf, obwohl ja das Festival vielleicht gar nicht selber politisch war, sondern nur der Ort, wo bestimmte Dinge, die politisch waren, passiert sind. Dennoch besteht auch hiervon etwas fort: ein Anspruch, dass ein Festival auch in die Gesellschaft hineinwirken soll und nicht nur zur dämlichsten Form von Unterhaltung da ist.

Welchen Stellenwert hat Oberhausen heute in der weit verzweigten Welt des internationalen Kurzfilmgeschehens?
Die Antwort hängt davon ab, was man sich zum Vergleichsmaßstab macht. Im Sinne eines Marktgeschehens spielt Oberhausen kaum eine Rolle, auch weil der Kurzfilm fast keine Rolle spielt. Natürlich werden auch hier ein paar Filme angekauft, aber das ist zu vernachlässigen. In der Welt spielen vielleicht zehn Filmfestivals noch eine wirtschaftliche Rolle. Warum fangen wir also nicht an, bessere Filme zu zeigen und den Markt zu vergessen? Filmfestivals übernehmen heute Aufgaben, für die sie gar nicht geschaffen wurden. Sie sind heute vielmehr Ort des kulturellen Austauschs. Sie sind der Ort, wo man all die Filme sehen kann, die man im Kino und im Fernsehen nicht mehr und im Internet wahrscheinlich nur in katastrophaler Qualität findet. Und man kommt auch noch in Kontakt mit Menschen, die man sonst niemals treffen würde. Im Kontext dieser ungeheuren Anzahl von Filmfestivals, die Kurzfilme zeigen, kommt es darauf an, das Festival als Marke zu behandeln, also das Angebot einer Orientierung in der Unübersichtlichkeit von Angeboten zu machen. Daran haben wir in den letzten Jahren stark gearbeitet. Wer das beobachtet hat, weiß nicht nur, dass Oberhausen ein ganz klares, im Grunde sehr einfaches Programmschema hat, bestehend aus Wettbewerben, einem kuratierten Programm, den Personalen und dem Markt, sondern auch, welche Art von Filmen man dort erwarten kann. Aus meiner Sicht ist das Problem der meisten Filmfestivals, dass sie sich komplett verzetteln.

Gibt es im Kurzfilmbereich auch einen Run auf Weltpremieren wie bei den Langfilmfestivals? Gibt es so etwas wie „Regie-Stars“ des Kurzfilms? Immerhin haben ja Regisseure wie Martin Scorsese, George Lucas oder Roman Polanski hier ihre ersten Filme präsentiert …
Es gibt einerseits die Filmemacher, deren Karriere man nicht ganz unentscheidend gefördert hat und die natürlich auch zum Ruf eines Festivals beitragen. Leider kann man auf die später nicht mehr unbedingt setzen, wie ich selber leidvoll wiederholt habe feststellen müssen. Zum anderen gibt es bestimmte Filmemacher, deren Filme man als erstes zeigen möchte, entweder weil diese mit dem Festival in einer bestimmten Verbindung stehen oder weil man deren Arbeit einfach schätzt oder beides. Diese Namen sind vielleicht nicht so bekannt wie die genannten – auch wenn wir diese schon gezeigt haben, als sie noch keine Namen waren –, in einer bestimmten Szene genießen sie aber schon einen sehr guten Ruf.

Wie positioniert sich der Kurzfilm in einer Zeit, in der viele Menschen die Flut an audiovisuellem Material, gerade an kurzen Video- und Handyclips als Belastung empfinden?
Der Kurzfilm positioniert sich gar nicht. Er wird positioniert. Man kann das schlecht machen, indem man auf eine opportunistische Weise gefallen will, oder man macht es gut, und das ist Arbeit, denn man muss lange recherchieren, man muss sich auseinandersetzen, man darf sich nicht mit dem Nächstbesten zufrieden geben, und vor allem muss man sich selbst in Frage stellen und weiter weiterentwickeln können. Durch Übersichtlichkeit, Sinnlichkeit, Qualität, Kollektivität kann man schon ein Angebot machen, das YouTube niemals bieten wird können.

Wie geht der Auswahlprozess vor sich? Sichtest du alles selbst, oder gibt es Leute, die für dich vor auswählen?
Wir sind mittlerweile eine riesige Gruppe von Leuten, um Tausende von Einreichungen für die Wettbewerbe zu sichten. Anders wäre das gar nicht zu schaffen. Ich selber bin ein Anhänger des Korporativismus, wie er zum Beispiel in den Niederlanden auch in einigen Unternehmen seit langer Zeit erfolgreich praktiziert wird. Die Leute sollen nicht sehen, was mein Geschmack hervorbringt, sondern was aus bestimmten Auseinandersetzungen in einer Gruppe hervorgeht. Das ist interessanter, weil es eine bestimmte Diskussion transportiert, wenn auch unausgesprochen. Ich halte das Kuratorentum für eine ziemliche Unsitte, mit der viel Unsinn befördert wird, der wenig produktiv ist für die Zuschauer. Am Ende habe ich freilich alles gesehen, was für die Wettbewerbe ausgewählt ist. Dennoch habe ich noch niemals ein Veto ausgesprochen. Dieser korporative Stil betrifft das ganze Festival: dass hier Dinge nicht über Köpfe hinweg diktiert werden, sondern Ausdruck von Überlegungen sind, die man darlegen und diskutieren kann, auch wenn ich es schließlich selbst entscheiden und auch verantworten muss. Alle tragen das mit, daher kann ich auch auf alle vertrauen.

Wie viele Einreichungen bekommt ihr jährlich, und wie viele Filme werden letztlich gespielt?
Wir haben zuletzt rund 6.000 Einreichungen erhalten, von denen wir etwa 140 Arbeiten auswählen für die verschiedenen Wettbewerbssektionen. Insgesamt zeigen wir jedoch weitaus mehr Arbeiten, bis zu 400 in sechs Tagen, also mehr als die meisten Langfilmfestivals in der doppelten Zeit.

Viele Leute, auch Regisseure, sehen den Kurzfilm als Finger-übung für spätere Langfilmarbeiten, für andere ist er eine völlig eigenständige Filmgattung. Wie siehst du das?
Ich kann nicht beurteilen, wer sich wie im einzelnen sieht. Als ich in Oberhausen anfing, sagte ich: Ich weiß nicht, was der Kurzfilm ist, und das sage ich heute noch. Allerdings weiß ich, dass wir uns für Fingerübungen und Visitenkarten, die möglichst schnell ein Entrée für den Langfilm verschaffen sollen, nicht interessieren. Das Neue ist immer ein Bruch mit der Konvention. Es wird häufig vergessen, dass die meisten der heute bekannten Namen am Anfang höchst experimentell gearbeitet haben; wahrscheinlich experimenteller, als das heute noch möglich ist, gerade wenn ich an Scorsese, Lucas oder Polanski denke. Das würde heute kaum noch ein Fernsehsender zeigen.

Trotz umfangreicher Bemühungen vieler Menschen und Institutionen scheint der Kurzfilm – sieht man von Festivals ab – aus dem Kino verbannt zu sein. Wird sich das noch jemals ändern? Was müsste man dafür tun?
Das Kino interessiert mich nicht mehr. Das ist total runtergewirtschaftet und wird jetzt noch mit ein paar Subventionen künstlich am Leben gehalten, bis die Filmwirtschaft die digitale Auswertung durchsetzt und ihm den letzten Tritt versetzt. Allenfalls stelle ich mir die Frage, wo die Filmfestivals dann noch stattfinden werden, wenn das ganze System den Bach runtergeht. Leider findet darüber wenig Bewusstseinsbildung statt. Man tut so, als gehe das jetzt alles schön so weiter. Das halte ich für katastrophal, denn man müsste jetzt die Weichen stellen für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Filmkultur. Ich plädiere für eine neue Form der Musealisierung des Films, eben nicht als Aufbewahrungsstätte für das Alte, sondern als ein höchst lebendiger Ort des Austauschs, als ein vielleicht sogar multifunktionaler Ort. Das Problem stellt sich also einerseits über die Räume, die für die Aufführung von Film überhaupt noch geeignet sind. Andererseits ist es aber auch eine Frage an das Fördersystem für den Film, zumindest im westlichen Europa, das nach meinen Begriffen total antiquiert ist in seinen Parametern, das sich an Kinoauswertung orientiert. Ich habe daher vorgeschlagen, die Festivalauswertung zum Bestandteil des Förderkreislaufes von Filmen zu machen. Das wäre aus meiner Sicht ein sinnvoller erfolgsabhängiger Fördermaßstab für Filme, neben der Gremienförderung, die man natürlich künftig auch besser an den künstlerischen Ansprüchen eines Projekts statt an seinen Aussichten an der Kinokasse ausrichten sollte.

Früher gab es Kurzfilme im Kino, quasi als „Vorprogramn“ zum Hauptfilm. Wäre das eine Möglichkeit, oder wird man dem Kurzfilm damit nicht gerecht?
Um Himmels willen, nein! Man darf niemals dahin wieder zurückkehren wollen, wo man einmal war. Das ist vorbei, und das ist gut so. Es war doch eine Tortur, sich diese ganzen Kurzfilme anzuschauen, während man auf den Langfilm wartete, totaler Terror. In Deutschland versuchen konservative Kräfte das und machen uns allen vor, dass so der Kurzfilm gefördert werde. So fördert man eine bestimmte anachronistische Form von Kurzfilm. Und so fördert man am Markt vorbei, ganz schrecklich!

Du bist jetzt seit gut zwölf Jahren Direktor von Oberhausen, es scheint dir also Spaß zu machen. Gab es so etwas wie Krisen oder bestimmte Ereignisse, die dich an deiner Arbeit zweifeln ließen?
Zweifel gibt es mehr als genug, Krisen auch, auch in jüngster Zeit noch, Auseinandersetzungen mit der Politik, mit Sendern, mit Filmförderern. Ich kann meine Klappe nicht halten, ein echtes Berufsrisiko! Manchmal denke ich: Warum ist das jetzt alles schon wieder eine derartige Quälerei, kommt denn da gar keine Routine rein? Festivalleiter zu sein ist ja kein Beruf, sondern ein Zustand. Ein permanenter Ausnahmezustand. Natürlich könnte ich auch ein anderes Filmfestival leiten, aber das änderte daran nichts. Es gab über die Jahre hinweg derart viele Herausforderungen, derart viele Dinge, die wir verändert oder verworfen haben, dass sich Langeweile, zumindest für mich, noch nicht eingestellt hat.

Wie sehr ist das Festival in der Stadt Oberhausen, in der lokalen und regionalen Politik und Kulturszene verankert?
Gute Frage. Ich hatte im letzten Sommer hier in der Stadt eine Auseinandersetzung mit einer Partei, die in der Fußgängerzone eine Liste von zehn Kultur- und Freizeitangeboten zur Abstimmung stellte und damit zum Abschuss freigab. Nachdem 200 Oberhausener die Kurzfilmtage für verzichtbar erklärten, schrieb die Lokalzeitung schon, auch die Kurzfilmtage seien nicht unumstritten. So geht’s hier zu, ganz tief unten. Man darf nicht vergessen: Diese Stadt gibt’s seit nicht einmal 200 Jahren, wenn man es genau nimmt, erst knapp hundert Jahre. Vorher war hier Heidelandschaft, dann Maloche unter Tag. Wo bitte soll das Bürgertum herkommen, das sich diese Art von Filmen anschaut? Diese Stadt hat weder eine Universität noch eine Fachhochschule, noch hat sie irgendetwas, was man als kreative Klasse bezeichnen könnte. Die jungen Leute, die etwas anderes wollen, die gehen gleich nach der Schule weg, um die Ecke nach Düsseldorf oder weiter weg. Die anderen kommen erst gar nicht. Das ist trostlos, auch weil es ein wenig ausweglos ist. Mich berührt es umgekehrt tief, dass eine solche Stadt sich ein solches Festival leistet. Kurzum, es gibt eine schlechte Verankerung und einen fast masochistischen Stolz auf dieses Festival, das man im Grunde nicht versteht, denn in der Champions League spielt man nur mit dem Festival, sonst nicht.

Was sind aus deiner Sicht die Highlights des diesjährigen Programms? Gibt es etwas, worauf du besonders stolz bist oder worauf du besonders hinweisen möchtest?
Wir werden unter anderem die vollständigsten Retrospektiven von Matsumoto Toshio, Nicolás Echevarría und der so genannten Sarajevo Documentary School zeigen, mit Kopien, die außerhalb der Länder noch gar nicht zu sehen waren.