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24 City – Gruppenbild mit Arbeitslosen

Gruppenbild mit Arbeitslosen

| Katharina Schneider-Roos |

Jia Zhangke gilt als gewichtige Stimme im internationalen Filmschaffen – ein Status, den er mit „24 City“, dem zum Teil von Schauspielern gesprochenen dokumentarischen Porträt des Aufstiegs und Niedergangs einer großen Fabrik, eindrucksvoll unterstreicht.

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24 City ist der Name der modernen Wohn- und Freizeitanlage, die kürzlich auf dem Grund und Boden der militärischen Flugzeugersatzteil und -reparaturfabrik 420 in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, erbaut wurde. Der gleichnamige Film von Jia Zhangke erzählt die Geschichte der viertausend Arbeiter, die 1958 – die Beziehungen zur Sowjetunion waren angespannt – im Rahmen des Projektes „Dritte Front“ aus dem Nordosten Chinas in den von der UdSSR weiter entfernt gelegenen und somit sichereren Südwesten umgesiedelt wurden. 60 Prozent der Arbeiter, Kader und Techniker der ursprünglichen Fabrik verließen ihre Familien und ihre vertraute Umgebung und bestiegen Busse und Schiffe, die sie nach 15-tägiger Reise in eine für sie unbekannte Gegend brachten.

50 Jahre später wurde die Fabrik in Chengdu geschlossen und verkauft. 30.000 Menschen wurden arbeitslos. Diejenigen, die sich seinerzeit für das System aufgeopfert hatten, werden erneut zu Opfern des Systems, das nun unter kapitalistischen Vorzeichen steht. Jia Zhangke zeichnete die persönlichen Erfahrungen von 130 Interviewpartnern auf, von denen er fünf auswählte. Die restlichen Schicksale werden durch Schauspieler (unter anderem Hollywood-Star Joan Chen) in konzentrierter Form dargestellt. Fiktion und Dokumentarisches vermischen sich zu einem faszinierenden Film.

Das folgende Gespräch ist die Zusammenfassung einer öffentlichen Podiumsdiskussion, die die Shao Foundation in Beijing kürzlich veranstaltete. Unter der Leitung des Künstlers Ou Ning diskutierten der Filmhistoriker Lin Xudong, der Jia Zhangke beim Schnitt beraten hat, die Dichterin Zhai Yongming, die am Drehbuch mitwirkte, und der Filmkritiker Wang Hong mit Jia Zhangke.

Welchen Platz hat 24 City in Ihrem Werk?
Der Film ist für mich wie eine Überleitung. Seit Xiao Shan Is Going Home (1996) bin ich auf der Suche nach der Realität im rapiden Wandel der heutigen Gesellschaft. Mein Schwerpunkt liegt auf der chinesischen Realität. Seit 13 Jahren versuche ich, unsere Epoche zu verstehen. Ich bin ihr Beobachter, aber auch ein Teil von ihr. Je mehr ich die Gegenwart beobachtete, desto interessanter fand ich die Geschichte. Denn die Wurzeln der Dinge, die uns heute Schwierigkeiten bereiten, liegen in der Geschichte. Ich wollte die Episode mit dem verlorenen Kind ursprünglich als Rückblick drehen, also quasi inszenieren, wählte dann aber doch die Form des Erzählens. Ich dachte: Wir haben so viele Interviewpartner, warum vertrauen wir nicht dem Wort, der Oral History? Was wir auf der Leinwand sehen, ist das Heute, was die Leute erzählen, ist das Gestern. So entstand dieses Zeitverhältnis. Mein nächster Film soll die Geschichte Shanghais seit der Qing-Dynastie behandeln. 24 City war sozusagen eine Vorübung dazu. Auch der neue Film wird hauptsächlich auf erzählter Geschichte aufbauen.

Wie gestalteten sich die zahlreichen Interviews? Wo lagen die Schwierigkeiten?
Das Hauptproblem bei den Interviews war, dass die Leute viel von anderen erzählten, weniger von sich selbst. Wir versuchten, die Interviews für 24 City in den Wohnungen zu drehen. Manche Leute wollten das nicht. Die Schauspielerin Lu Liping wurde in der Wohnung einer Arbeiterin ihres Alters gedreht. Die heutige Wohnung mit ihrem dunklen Betonboden, den weißen Wänden und den Badminton-Schlägern an der Wand soll ein Gefühl für die damalige Umgebung hervorrufen. Die Wohnung ist typisch für die Achtziger Jahre. Hou Lijun drehten wir im Bus. Für sie ist das ein vertrautes Transportmittel. Sie wollte nicht zu Hause gefilmt werden. Diese bescheidene Frau sitzt also im Bus, und gleichzeitig sieht man draußen die allgemeine Verschwendung, die um sich greift. Ich fand auch das Verhältnis von Drinnen und Draußen durch die Glasscheibe interessant. Diese gigantische Umsiedlungsaktion zeigt, wie sehr die Arbeiter Opfer politischer Entscheidungen sind. Eigentlich fand ja eine Umverteilung staatlicher Ressourcen statt, da sowohl die Fabrik als auch die Ressource Group, die das Areal jetzt gekauft hat, staatlich sind.

Die Arbeiter sprechen durch Schauspieler wie Joan Chen, Chen Jianbing, Lu Liping und Zhao Tao. Ist diese Darstellungsform den Menschen adäquat?
Ich begann meine Recherche in Chengdu Ende 2006. Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte. Ich führte drei Interviews pro Tag. So sammelte ich viele historische Informationen und individuelle Schicksale. Früher, in Dong und Still Life, habe ich Dokumentarfilm und Spielfilm vermischt. Diesmal wollte ich einen reinen Dokumentarfilm machen, aber ich konnte meine Fantasie nicht zügeln. Dann überlegte ich, wozu ich eigentlich Filme mache. Ich kam zu dem Schluss, dass Film, egal ob dokumentarisch oder Fiktion, immer ein Ausdruck von Ästhetik ist. Es ist nie die physische Realität, die wir abbilden. Für die historische Erfahrung ist Fiktion sehr wichtig. Sogar die Geschichte selbst ist aus Realität und Fiktion konstruiert. Dieser Gedanke hat mich fasziniert. Ich fand, dass der dokumentarische und der fiktionale Teil in dem Film gleichzeitig eine Rolle spielen sollten. Der dokumentarische Teil repräsentiert die unleugbare Wahrheit der Realität, die Fakten, Zahlen. Was die Schauspieler zeigen sollen, ist die Universalität einer Erfahrung. Außerdem waren die Inhalte der Interviews oft sehr weitläufig. Mit Hilfe der Schauspieler konnte ich diese unterschiedlichen Erzählungen zusammenfassen.

Nach welchen zeitlichen Kriterien ist denn der Film aufgebaut?
Die Schauspieler vertreten jeweils die Erfahrungen von Gruppen von Leuten. Chen Jianbing erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der in der Kulturrevolution aufwuchs, Joan Chen Geschichten aus den Achtzigern, und Zhao Tao verkörpert die Gegenwart. Ich habe versucht, sie chronologisch anzuordnen. Als ich diese Entscheidung getroffen hatte, wusste ich, dass ich Gesichter wählen muss, die dem Publikum bekannt sind, damit den Leuten ganz klar ist, welcher Teil gespielt und welcher „echt“ ist. Danach sagten manche Leute, ich habe einen Fake-Dokumentarfilm gemacht. Das stimmt aber nicht: Ich habe nur fiktionale Teile eingebaut. Hätte ich eine Fake-Doku machen wollen, hätte ich unbekannte Gesichter gewählt und die Schauspieler angeleitet, natürlich zu spielen. Es war mir klar, dass mein Konzept und meine Darstellungsform Diskussionen hervorrufen würden, da die Methode in China unbekannt ist und irgendwie eigenartig. Aber ich will keine „sicheren“ Filme machen, nur damit das Publikum sie besser versteht. Durch meine Art der Erzählung sind die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischt. Das Publikum muss sich auf die offene Struktur einlassen. Ich will nicht wie Hollywood eine fiktive Welt kreieren, die einen glauben lässt, sie sei real. Ich will zeigen, dass der Film strukturiert ist.

Dokumentarfilme verbinden üblicherweise die Blickwinkel vieler Leute. Wie vereinbaren Sie das mit Ihrem Blickwinkel, dem einer individuellen Person?
Ich verwende im Dokumentarfilm gerne die Form des Gruppenfotos. Wenn man sich auf ein Einzelschicksal konzentriert, schwächt das nicht die Universalität? Ich habe manche Geschichten sogar ausgeblendet, um die Universalität hervorzuheben. Ich habe auch in meinen früheren Filmen versucht, Gruppen einander gegenüberzustellen, das ergibt mehr Komplexität. Die Fiktion beruht auf unzähligen Einzelschicksalen. Zur Hochblüte lebten und arbeiteten in diesem Fabrikkomplex – inklusive Familienangehörigen – 100.000 Menschen. Nun löst sich der Raum ihrer Erinnerung auf und wird durch einen Wohnkomplex ersetzt. Manche dachten, ich mache einen Werbefilm für den Wohnpark, aber für mich war das die Chance für eine Feldforschung. Das Projekt ist ein Resultat der Modernisierung.

Während der Recherche wurde mir immer die Geschichte von dem bei der Umsiedlung verloren gegangenen Kind erzählt, das wurde Lu Lipings Geschichte. Joan Chens Rolle beruht auf den Erfahrungen einer Gruppe von Frauen aus Shanghai, die Oper singen. Für sie war die Liebe ein Problem. Sie wollten nach Shanghai zurückversetzt werden und trauten sich nicht, vor Ort in Chengdu zu heiraten. Sie blieben Single.

Wie kommt es, dass die Firma Huarun, die den Wohnpark 24 City besitzt und betreibt, in den Film investiert hat? Wie können Sie da Ihre Unabhängigkeit bewahren?
Ich musste natürlich schon eine Dreherlaubnis einholen. Die Fabrik betrieb noch zwei Werkhallen, ein Teil war schon abgerissen, ein Teil wurde gerade ausgeräumt. Gerade Abriss-Szenen sind immer heikel. Anfangs waren das Shanghai Film Studio und ich die Produzenten. Ich will immer selbst auch Produzent sein, damit ich ein Mitspracherecht habe. Als ich im Büro der Betreibergesellschaft von 24 City war, sah ich dort einen ihrer Slogans: „24 City ist Augenzeuge der Entwicklung des Landes und kondensiert die industrielle Erinnerung.“ Vielleicht ist das nur so eine Phrase für sie, aber indem ich sie auf diesen Spruch festnagelte, konnte ich sie als Investoren bekommen. Ich habe nie Werbung für ihre Wohnungen gemacht. Vielleicht hat die Firma Huarun andere unterschwellige Motive, aber egal, die gemeinsame Suche nach der Geschichte war mir wichtiger.

Sie gelten im Ausland als der unabhängige Regisseur der Volksrepublik. Wie sehen Sie selbst Ihre Position?
Ich will natürlich unabhängig sein und eine unabhängige Sicht der Geschichte und der Realität haben, aber ich will nicht marginalisiert werden. Dann kann man gar nichts mehr machen. Ich bewundere Leute, die am Rande stehen, ich hingegen will mittanzen, auf allen Ebenen und mit allen Kräften der chinesischen Gesellschaft. Das muss ich tun, um Filme machen zu können, die unserer Epoche entsprechen.

 

Katharina Schneider-Roos, geboren 1972, studierte Sinologie, Gender Studies und Geschichte und lebt seit 2000 in China. Sie arbeitet freiberuflich als Dokumentarfilmerin (My Camera Doesn’t Lie), TV-Produzentin und Researcherin für den ORF und andere europäische Fernsehstationen und als Journalistin und Filmfestivalkuratorin in Beijing.