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Public Enemy No. 1 – Kinetische Anarchie

Kinetische Anarchie

| Gerhard Midding |

Mit Public Enemy No.1 setzen Jean-François Richet und Vincent Cassel dem Verbrecherkönig Jacques Mesrine ein Denkmal.

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Am 12. September 1973 hatte Jacques Mesrine allen Grund, sich zu ärgern. Erwartungsvoll hatte er morgens die Tageszeitungen gekauft, um zu erfahren, was sie wohl über seinen jüngsten Coup schreiben würden. Aber er musste feststellen, dass ihm ein anderer die Titelseiten gestohlen hatte: Augusto Pinochet, der in Chile das Regime Salvador Allendes mit einem Putsch beendet hatte. „Und kein Wort über mich?“, empörte er sich. Was ist schon ein Staatsstreich im fernen Lateinamerika gegen die Eskapaden des Staatsfeindes Nr. 1? Mesrine hatte sich diesen Titel hart erarbeitet. Mit einer Serie von Einbrüchen, Banküberfällen und spektakulären Gefängnisausbrüchen hielt er die Fünfte Republik seit 1959, seit seiner Rückkehr aus dem Algerienkrieg, in Atem. Souverän spielte er auf der Klaviatur der Medien; er war sich gewiss, ein gefeierter Volksheld zu sein. Gefiel ihm ein Artikel mal nicht, schrieb er Drohbriefe an den Verfasser und die Redaktion. Die Kontrolle über sein eigenes Image wollte er niemand anderem überlassen. Fotos von sich und seiner letzten Gefährtin, Sylvia Jeanjacquot, verkaufte er für teures Geld.

1977 schrieb er im Gefängnis seine Memoiren, L’Instinct de la mort (Der Todestrieb), die heimlich in einem Kassiber nach draußen geschmuggelt wurden und zum Beststeller avancierten. Seine Anwältin war verzweifelt; da die Bilanz seiner Verbrechen längst nicht so blutrünstig war wie etwa die von Emile Buisson, rühmte er sich zahlreicher Morde, die er sehr wahrscheinlich nie begangen hatte.  Zeitweilig erwog er, seinen Verleger zu verklagen, da er sich um seine Tantiemen geprellt fühlte.

Die Medien waren fasziniert von dieser schillernden Figur (und sind es noch heute), dem tollkühnen und charismatischen Gangster, dessen Vergehen ebenso extravagant wie unvorhersehbar waren. Ein Hedonist ganz französischen Zuschnitts, der Polizisten, die ihn verhaften wollten, mit Champagner empfing und Entführungsopfer mit Delikatessen wie Kaninchenbraten bekochte. Im Milieu blieb er stets ein Außenseiter, wurde von den anderen Ganoven beneidet und gehasst. Der Staatsgewalt jagte er Angst und Schrecken ein, ehrfürchtig nannten sie ihn „le Grand“, der Große. Er schrieb romantische Liebesbriefe und zögerte nicht, die Hand oder die Waffe gegen seine Gefährtinnen zu erheben. Er war ein Rassist, Heuchler und Opportunist und zugleich ein Mann mit unerbittlichem Ehrgefühl, der keinen höheren moralischen Wert akzeptierte als das gegebene Wort.

Der große, aus James Cagney-Filmen genährte Gangstertraum, erfüllte sich für ihn auf einzigartige Weise: Der 1936 in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Clichy geborene Jacques Mesrine wurde tatsächlich ein Star (und ist es noch heute).

Ein Produzententraum

Eine solche Figur, eine solche Geschichte und ein solches Zeitpanorama konnte sich das Kino nicht entgehen lassen. Gérard Lebovici, Produzent und Gründer der mächtigen Agentur Artmédia, interessierte sich als Erster für den Stoff und brachte den L’Instinct de la mort als Raubdruck neu heraus. Als Star hatte er Jean-Paul Belmondo ins Auge gefasst, der seinerseits gerade seinem Rivalen Alain Delon die Buchrechte von Mesrine für eine halbe Million Francs vor der Nase weggeschnappt hatte. Das Drehbuch, das sie bei Patrick Modiano, Michel Audiard und Philippe Labro in Auftrag gaben, gefiel dem Häftling. Er bestand nur darauf, dass das Wort „Fin“ am Schluss gestrichen wird; für ihn war seine Geschichte noch längst nicht zu Ende.

Als Regisseur der als Politthriller angelegten Biografie kontaktierten sie die üblichen Verdächtigen, Georges Lautner, Yves Boisset, Costa-Gavras und Alain Corneau. Ein Konkurrenzprojekt nahm ihnen indes 1983 den Wind aus den Segeln. Lebovici kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Einer von vielen Legenden zufolge hatten ehemalige Komplizen Mesrines die Hände im Spiel, die ihn dafür bestraften, dass er Gelder ihres Kompagnons angeblich in seine Produktionsfirma gesteckt hatte.

Auch die Wiedergeburt des Projektes wurde von einem Produzenten betrieben: von Thomas Langmann, dem Sohn des unlängst verstorbenen Patron des französischen Kinos, Claude Berri. Illustre Namen waren auch diesmal im Spiel. Matthieu Kassovitz lehnte es ab, die Regie zu übernehmen, weil er Mesrine für einen „Dreckskerl“ hielt. In Barbet Schroeder hingegen fand Langmann einen Gleichgesinnten, der die Hauptfigur als einen modernen Robin Hood verklären wollte. Schon zu diesem Zeitpunkt war Vincent Cassel im Gespräch, der jedoch das Drehbuch von Guillaume Laurent (dem Szenaristen von Die fabelhafte Welt der Amélie) ablehnte, weil es ihm zu sehr als eine Hagiografie erschien. Als er ausstieg, erwog Langmann Benoit Magimel oder Vincent Elbaz als Ersatz, später auch den Komiker José Garcia und Clovis Cornillac. Schroeder zog sich aus dem Projekt zurück, Jacques Audiard (Sur mes lèvres) wäre gewiss ein geeigneter Ersatz gewesen, drehte dann aber lieber Der wilde Schlag meines Herzens. Angeblich kontaktierte der Produzent auch Oliver Stone, bis sich Jean-François Richet durch sein beachtliches Remake von John Carpenters  Assault on Precinct 13 für die Regie empfahl. Das neue Drehbuch von Abdel Raouf Dafri überzeugte nun auch Cassel, der stets Langmanns Traumbesetzung gewesen war. Ihr ursprünglicher Konflikt, die unterschiedlichen Auffassungen der Hauptfigur, sind dem endgültigen Film durchaus anzusehen: ein zweiteiliges Meisterstück der Ambivalenz.

Zwiespältige Hommage für 40 Millionen Euro

Eine Geschichte, die von ihrem Ende her erzählt wird: Sowohl der erste, Public Enemy No. 1 – Mordinstinkt wie der zweite Teil, Public Enemy No. 1 – Todestrieb setzen am 2. November 1979 ein, als Jacques Mesrine (Cassel) und seine letzte Geliebte Sylvia (Ludivine Sagnier) an der Porte de Clignancourt in einen Hinterhalt der Polizei geraten. Das Leben als eine Gravitation zum Tode: Zwar wähnt Mesrine sich unbesiegbar, aber seine virilen Allmachtsphantasien gehen einher mit einer Todesgewissheit. „Niemand wird mich töten“, sagt er im ersten Teil, „bevor ich es entscheide.“ Auf dem Tonband, das er als romantisches Vermächtnis für Sylvia hinterlässt, sagt er (beinahe) exakt die Anzahl der Kugeln voraus, mit der ihn die Polizei am Ende niederstrecken wird.

Gebannt wird die Figur durch dieses zu Beginn verhängte Todesurteil freilich nicht; zu bezwingend ist ihr Charisma, zu bestrickend die instinktive Intelligenz, mit der sie sich immer wieder neu erfindet, zu verführerisch die Konsequenz, mit der sie ihre Legende vollenden will. Der erste Teil ist ein rüder Bildungsroman, in dem das Verbrechen wie beiläufig zu einer selbstverständlichen Lebensweise wird. Mesrine findet Mentoren – den Gangsterboss Guido (Gérard Depardieu), unter dessen Protektion der Algerienkämpfer anfangs Karriere macht und im Exil in Quebec den Freiheitskämpfer Jean-Paul Mercier (Roy Dupuis), der ihn lehrt, gleich noch die Bank auf der anderen Straßenseite mit zu überfallen; und er findet verführerische, hingebungsvolle Gefährtinnen – die Spanierin Sofia (Elena Anaya), die ihm drei Kinder schenkt, später dann seine große Liebe Jeanne Schneider (Cécile de France), die nach zwei Minuten der Anmache bereit ist, alles für ihn aufs Spiel zu setzen –, die ihm helfen, ein Bild von sich zu entwerfen, dem er genügen will. Behände und ellipsenreich, mit anthologischer Gründlichkeit durchqueren Drehbuchautor Dafri und Regisseur Richet motivisch das Genre des polar: den Traum vom schnellen Geld, die Freizügigkeit, bei der das Gefängnis stets nur eine Episode ist, das Wechselspiel von Loyalität und Verrat, den brüchigen Ehrenkodex des Milieus, die Vertrautheit zwischen Jäger und Gejagtem, die Verfügbarkeit von unkompliziertem, gebieterischem Sex.

Im zweiten Teil, nach seiner Flucht aus Kanada, ist Mesrine auf der Höhe seines Ruhms angelangt. Noch immer bedarf er wechselnder Mentoren – des klugen Ausbrechers François Besse (Mathieu Amalric), des Linksradikalen Charlie Bauer (Gérard Lanvin) –, aber nun begegnet er ihnen auf Augenhöhe. Er mag behäbiger geworden sein – Cassel hat für diese Rolle publicityträchtige 20 Kilo zugenommen –, berechenbar ist er für Freund und Feind deshalb noch lange nicht. Er nutzt die Straße fulminant als Bühne, um die Staatsgewalt herauszufordern. Er verhöhnt die Polizei und Justiz, in dem er nach jeder Verhaftung seine Flucht ankündigt – und jedesmal Wort hält. Er provoziert die Regierung Giscard, indem er der Zeitschrift Paris Match ein Interview gibt. Die Polizei richtet ihn hin, weil er zu einem öffentlichen Ärgernis, einem untilgbaren Schandfleck geworden ist.

Das zersplitterte Leben

Vom ersten Bild an ist die Figur in beiden Filmen nicht greifbar: Im Splitscreen-Verfahren, in lauter unterschiedlichen Bildkadern wird gezeigt, wie Mesrine und seine Begleiterin ihre klandestine  Wohnung verlassen und ihrem Schicksal an der Porte de Clignancourt entgegen fahren. Diese Erzählstrategie des Aufspaltens, des Fragmentarischen färbt das Diptychon fortan wie eine Grundierung ein.

Cassel hat von Anfang an darauf bestanden, Mesrine in allen Aspekten, in all seiner  Ambivalenz zu spielen. Wie die Filme von Aufstieg und Fall erzählen, hat indes auch seine komödiantischen, komplizenhaften Aspekte: eine tiefe Freude am Gelingen. Aber Richet und Dafri umgehen die zahlreichen Fallen, die dieser Stoff birgt, umsichtig. Weder verherrlichen sie Mesrine, noch wählen sie die weit unverfänglichere Erzählperspektive der Polizei. Sie lassen sich auf die Widersprüche der Figur ein, begeben sich ins Schlepptau ihres Temperaments, trauen diesem Schillern aber nur so lange, bis die Ambivalenz in Beschwichtigung umschlägt. Vor allem gehen sie nicht Mesrines Selbstzeugnissen auf den Leim, seiner Prahlerei und dem Opportunismus, der ihn smart den Zeitgeist aufgreifen lässt. In einer Epoche, als der Terror der Roten Brigaden und der Baader-Meinhof-Gruppe zwei Nachbarländer Frankreichs in Angst und Schrecken versetzte, gefiel sich auch Mesrine als ein politisch Verfolgter. Cassel rechnet diese Figur, die sich als Robin Hood gefällt und doch das eigene Wohlleben als einzigen Maßstab akzeptiert, scharf aus. Zusehends paranoid und egozentrisch wird auch die Inszenierung. Mesrine beansprucht die Hoheit im Bildraum und entwindet sich zugleich ständig dem Gefangensein im Kader. Die Anarchie, die der Film ihm zugesteht, ist eine kinetische: Seine stärkste Motivation ist das Adrenalin.