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Coraline Film

Coraline

Gib mir deine Augen, Kleines!

| Bettina Schuler |

Mit Coraline hat Henry Selick einen unheimlichen Kinderfilm geschaffen, der das Publikum in die Tiefen des Unterbewusstseins entführt.

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Als Coraline durch die kleine verschlossene Tür im Wohnzimmer kriecht, hat sie das Gefühl, eine paradiesische Parallelwelt zu betreten. In dieser Welt gibt es Mango-Shakes und Kuchen zum Frühstück und die Eltern haben ebensoviel Nonsens im Kopf wie das blauhaarige Mädchen mit den großen dunklen Augen selbst. Alles wäre perfekt, wären da nicht die dunklen, braunen Knöpfe, die anstelle der Augen ihre Gesichter zieren und die einen Hauch von Unheimlichkeit durch das kunterbunte Schlaraffenland wehen lassen. Doch möchte sie für immer in dieser arkadischen Welt bleiben, muss auch sie ihre Augen gegen Knöpfe eintauschen.

Der Verlust der Augen als Symbol für den Verlust der Seele ist ein bekanntes Motiv, auf welches in der Literatur und in Filmen wie Jack Hills House of Evil (1968) gern zurückgegriffen wird. Bereits E.T.A. Hoffmann nutzte es in seiner Erzählung Der Sandmann, wo der sensible Nathanael seit einem traumatischen Kindheitserlebnis darum bangt, von einer bösen Macht seiner Augen beraubt zu werden. Ob es sich dabei um eine reelle, übersinnliche Gefahr handelt oder ob sich diese Bedrohung allein in seinem Kopf abspielt, lässt Hoffmann bis zum Schluss offen. Ein Kunstgriff, den der Schriftsteller immer wieder in seinen Geschichten anwandte, um ihnen eine unheimliche Atmosphäre zu verleihen, die den Leser mit seinen kühnsten Albträumen und Ängsten konfrontiert. Es verwundert daher nicht, dass sich auch Sigmund Freud in seinem Essay Das Unheimliche (1919) Hoffmanns Erzählung bedient, um an dieser zu erklären, wie eine unheimliche Stimmung entsteht und welche verdrängten Ängste durch eine als unheimlich empfundene Situation wieder zu Tage treten. Der Essay wird bei der Interpretation von Literatur und Filmen immer wieder gern herangezogen, um, ausgehend von Aspekten der Unheimlichkeit, Rückschlüsse auf den inneren Konflikt der Protagonisten zu ziehen – er eignet sich auch trefflich, um ein besseres Verständnis von Henry Selicks neuem Film Coraline zu erlangen. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes als eine visuelle Reise in das Unterbewusstsein seiner präpubertären Heldin, die sich partout weigert, erwachsen zu werden.

Das Unheimliche des entfremdeten Vertrauten

Freud schreibt in seinem Aufsatz, dass eine Situation dann als unheimlich empfunden wird, wenn etwas Vertrautes, Heimliches in einer entfremdeten Form wieder auftritt. Das Wort „heimlich“ versteht er dabei nicht gemäß unserer heutigen Assoziation als „im Verborgenen“, sondern in seiner ursprünglichen Bedeutung als „heimisch, an einem bestimmten Ort zu Hause“. Dieses Heimische kann jedoch laut Freud in einer verfremdeten Form wieder ins Bewusstsein gelangen, wenn es an einen unverarbeiteten infantilen Komplex geknüpft ist, den wir ins Unterbewusstsein verbannt haben und den wir mit der Konfrontation mit dem Unheimlichen neu bewältigen müssen. In Coraline ist es die verfremdete Darstellung der Eltern, die auf einen unverarbeiteten Konflikt der kindlichen Protagonistin hinweist und die den Zuschauer erkennen lässt, worum es eigentlich bei Coralines Reise in die phantastische Welt jenseits der Tür geht: den Übergang von der Kindheit in die Prä-Pubertät und die damit verbundene Abnabelung von den Eltern. Dies wird bereits zu Beginn des Films deutlich, als Coraline mit ihren Eltern in die schaurige, heruntergekommene Villa auf dem Land zieht und im Gegensatz zu früher keine Lust mehr verspürt, das Haus und seine Umgebung zu erforschen. Coraline spürt, dass sich ihr neugieriger kindlicher Blick auf die Welt verflüchtigt und sie immer mehr in die Welt der Erwachsenen eintaucht – was für sie alles andere als erstrebenswert ist, da ihre Eltern den ganzen Tag nur am Schreibtisch sitzen und es nebenher nie schaffen, ein anständiges Essen auf den Tisch zu bringen. Gelangweilt von dieser tristen Welt beginnt Coraline sich ihr eigenes Universum zu kreieren, in dem es sprechende Katzen und Kanonen gibt, die mit rosa Zuckerwatte schießen. Doch sie kann nicht mehr zurück in ihre kindlich-heile Welt; längst hat sie begonnen, sich von ihren Eltern freizuschwimmen. Bloß hat sie diesen Umstand verdrängt. Durch ihren Traum von einer märchenhaften Welt, in der ihre Eltern durch Knopfaugen entfremdet sind, tritt die Verdrängung an die Oberfläche und Coraline ist gezwungen, sich mit ihren Ängsten auseinander zu setzten.

Visuell spiegelt sich diese Reise ins Unterbewusste sehr deutlich in dem Gang wieder, welcher die Tür in der Realität mit jener in der phantastischen Welt verbindet und den Coraline durchschreiten muss, wenn sie ihren perfekten Eltern einen Besuch abstatten will. Denn in seiner bläulich schimmernden Konsistenz erinnert dieser Weg stark an einen menschlichen Gehörgang, der sich von Außen einen Weg zu unserem Gehirn bahnt und durch den Coraline quasi in ihr eigenes Bewusstsein schreitet. Ein Symbol, das sich übrigens in einer ähnlichen Form in Spike Jonzes Film Being John Malkovich (1999) wieder findet. Nur dass dort der Protagonist Craig Schwartz (John Cusack) durch das Durchschreiten der Tür nicht sein eigenes Inneres, sondern jenes von John Malkovich betritt.

Von der kindlichen Welt in die symbolische Ordnung

Ein weiterer wichtiger Hinweis auf Coralines beginnende Abnabelung ist die Abwendung der Mutter, die laut dem Psychoanalytiker Jacques Lacan ein wichtiger Schritt für den Übergang in die Erwachsenenwelt und Reifung zum selbstständigen Individuum ist. Coraline versucht dieser natürlichen Entwicklung zu entkommen, in dem sie sich utopisch perfekte Eltern imaginiert. Ein Versuch, der natürlich zum Scheitern verurteilt ist, weshalb sich die knallige Zuckerwattewelt schon bald in einen Albtraum à la Wilhelm Hauff verwandelt, in dem Coraline mit ihrer „Second Mom“ kämpft. Dieser Kampf zwischen der langgliedrigen Mutter mit den Fingern aus Metall ist als Visualisierung ihres inneren Reifungsprozesses zu verstehen, aus dem Coraline, indem sie die Wandlung zum Erwachsensein zu akzeptieren beginnt, selbständiger hervorgeht. In der Bewältigung des Konflikts beginnt sich Coraline mit der Welt ihrer Eltern zu arrangieren und diese, statt wie bisher dagegen anzukämpfen, zusammen mit ihnen zu verschönern. Sie beginnt Interesse für die Arbeit ihrer Eltern zu zeigen, die beide Autoren für eine Gartenzeitschrift sind, und nähert sich ihnen dadurch auf einer neuen, reiferen Ebene. Die Eltern wiederum bringen der Tochter ihren Job näher, indem sie zusammen mit Coraline und den einsamen alten Nachbarn den verrotteten Garten der alten Villa neu bepflanzen.  Mit Coraline, der auf dem gleichnamigen Roman des britischen Autors Neil Gaiman beruht, ist Henry Selick ein wunderbar verspielter Film gelungen, der wie schon Nightmare Before Christmas (1993, nach einer Story von Tim Burton) im traditionellen Stop-Motion-Verfahren gedreht wurde und auch hinsichtlich der Puppengestaltung – überlange Gliedmaße, skurrile Proportionen – an Selicks Weihnachtsmärchen visuell anschließt. Was Coraline darüber hinaus zum Kinoerlebnis macht, ist der der Erzählung adäquate Einsatz der 3D-Technik. Diese verstärkt den Sog, der die Heldin in ihre Parallelwelt hineinzieht und lässt Momente des Schreckens und der Erkenntnis mit physischer Kraft auf den Zuschauer einwirken.

Besonders lobenswert: Der im deutschsprachigen Raum ab 6 Jahren freigegebene Film scheut sich (im Gegensatz zu biederen Kinderfilmen wie Prinzessin Lillifee (2009) oder Felix – Ein Hase auf Weltreise (2005) keineswegs, die jungen Zuschauer mit einer unheimlichen Geschichte und gruseligen Gestalten zu konfrontieren. In Zeiten, in denen Grimm‘sche Märchen mit all ihren Schrecken aus den deutschsprachigen Kinderzimmern verbannt werden, bildet Coraline eine willkommene Ausnahme. Denn er lässt sich nicht von dem Wahn anstecken, dass Kindergeschichten ausschließlich in einer heilen Märchenwelt spielen dürften. Zu den Märchen, die man als Kind richtig spannend fand, gehört nun mal eine Hexe, die Angst und Schrecken einflößt. Auch wenn sie am Ende im Ofen landet.