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Martin Scorsese – Eine stetig brennende Flamme

Eine stetig brennende Flamme

| Peter Patzak :: Andreas Ungerböck :: Roman Scheiber :: Jörg Schiffauer :: Oliver Stangl |

Das Filmmuseum präsentiert das Gesamtwerk seines Ehrenpräsidenten Martin Scorsese.

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The Living Fish
Meine Begegnung mit Martin Scorsese.

Es war ein Wintermonat im Jahr 1984. Die Landung in Peking erfolgte bei Dunkelheit. Weder Außenlicht noch Kabinenbeleuchtung. Aufstehen, aussteigen. Erst lostauen aus dem Eisenkorbsitz der chinesischen Truppentransportflugmaschine. Mit einer Delegation von chinesischen Filmschaffenden empfing mich eine Kälte, die kaum erlaubte,  die mir entgegengestreckten Hände zu umschließen.

Ich war unterwegs zur ersten Begegnung zwischen fremdländischen und chinesischen Filmemachern. Eine Vortragsreihe in den Studiobetrieben Pekings und Shanghais.

Nach einigen Stunden in einem Betonkubus mit Fenster und Tür, zwischen Schlaf und Wachen wurde ich im Morgengrauen durch einen mir fremden Lärm in Unruhe versetzt.

Ein Surren unbekannter Art. Kratzen an der Eisschicht am Fenster. Der Blick in brüchige Dunkelheit. Tausende Radfahrer. Einheitskleidung, unbeleuchtete  Einheitsräder. Einheitstakt beim In-die-Pedale-treten. Kalte Radschläuche auf eisbedecktem Beton.

Eröffnungsveranstaltung in einem Flugzeughangar. Ansprachen, Filmvorführungen, Vorstellungen, Begrüßungen. Die Gäste: Shohei Imamura und Sachiko Hidari aus Japan, Godfrey Reggio und Martin Scorsese aus Amerika, Shyam Benegal aus Indien, Peter Patzak aus Österreich. Zähneklappern. Kälte, die man sich ausdenken, aber mit der man nicht leben kann.

Ein Essen für tausend Menschen. Scorsese zittern die Hände. Die Speisen, aus einer unsichtbaren Küche, erreichen die Tische ausgekühlt. Ich wende mich an den Studioboss, der sich uns Englisch sprechend vorgestellt hat. „My name is Mister Wonderful.“ Er ist erstaunt und hat rote Wangen. Er gibt laute Anweisungen. Militärmäntel werden gebracht. Schweres Material, aber nicht wirklich wärmend.

Wir sind in einer Art Kaserne untergebracht.  Zumindest gibt es Patrouillen beim Eingang. Kein Ausgang nach den Veranstaltungen. Wir treffen uns im Kubus von Shyam Benegal.

Er hat Whisky in seiner Reisetasche. Wir beschließen, auszubrechen, einen geheizten Ort und heißes Essen zu suchen. Die Militärmäntel und Filzkapuzen machen das über einen Nebenausgang möglich. Gebeugt plagen wir uns gegen den eisigen Wind. Ohne Stadtplan, ohne Orientierung. Der Wind dreht, schiebt uns in eine parkähnliche Anlage, auf einen  Pavillon zu. In den verhängten Fenstern Lichtpunkte. Menschenlärm. Ein Restaurant? Tür auf, hinein. Lautes Stimmengewirr. Hitze. Schwitzende  Gesichter. Rauchige Luft. Dampfende Küche. Eine Anmut aus der Russisches-Roulette-Hölle in dem Film The Deer Hunter.

Es wird still, als wird entdeckt werden. Anstarren. Ein älterer Mann mit faltigem Gesicht ist jetzt bei uns. Er deutet zur Tür. Ich spreche ihn Englisch an. Er winkt uns weg. Ich versuche es mit Zeichensprache. Er drängt uns zum Ausgang. Ich packe ihn und sage leise auf Wienerisch: „Lieber Mann, uns friert, wir haben Hunger und Durst. Gib uns was zu essen.“

Die angestrengten Falten im Gesicht des Mannes verschwinden. Er ruft etwas in den Raum. Die Gesprächslärm-Hölle setzt wieder ein. Er deutet auf einen freien Tisch in einer Ecke.

Da sitzen wir eingeschüchtert. Er stellt Moutai-Schnaps auf den Tisch. Endlich Wärme von Innen und Außen. Er fragt uns etwas. Wir nicken einfach. Dann bringt er einen großen gusseisernen Topf mit siedendem Wasser, dann zwei lebende Fische, so groß wie Arme. Blitzartig bindet er die Köpfe der Fische mit den Schwanzflossen zusammen. Schiebt eine Stange durch die Fesselung und hängt die Fische in kochendes Wasser. Der Kopf und der Schwanz bleiben in  der Luft. Krümmen, Winden, Augenrollen, Zappeln, Zittern. Dann wirft er die Fische auf eine große Blechplatte. Trennt die Verknotung. Die Fische zucken. Blickkontakt. Der Koch fordert uns auf zu essen. Er schnalzt mehrmals mit der Zunge. Keiner von uns rührt sich, wir halten die Stäbchen wie Analphabeten den Bleistift. Er demonstriert. Nimmt dem Fisch ein Stück Fleisch von den Gräten. Der Fisch bäumt sich auf. Wir haben verstanden. Das ist die Spezialität. Der Fisch muss sein Aufgegessenwerden kommentieren. Zögerlich machen wir uns, von hunderten Augen beobachtet, an die Arbeit. Dazwischen Moutai in großen Schlucken. Wir beschließen: Jeder von uns soll mit dieser grausamen poetischen Bildlichkeit einen Film beginnen lassen. Martin Scorsese will, dass ich in seinem nächsten Film eine Rolle übernehme. Wir telefonieren viel. Ich bin Verpflichtungen eingegangen und kann Wien nicht verlassen. So muss Griffin Dunne in der Rolle des Programmierers Paul Hackett meinen Namen aussprechen lernen und mich zumindest in dem Film After Hours suchen.

Das Filmprojekt „The Living Fish“ wurde so nicht realisiert. Aber Streifen dieser Sinnesdaten kann man fragmentarisch in allen Arbeiten der Beteiligten verfolgen. Der Mensch, der eine Welt erkennt, ist der Mensch mit dem Menschen.

Peter Patzak

 

Martin Scorsese – Das Gesamtwerk

Seine Liebe zum Kino ist eine stetig brennende Flamme, sein Einfluss auf das internationale Kino der vergangenen vier Jahrzehnte ist kaum überschätzbar. Der 1942 in New York geborene, katholisch erzogene und ab 1950 in „Little Italy“ aufgewachsene Immigrantensohn Scorsese ging erst ins Priesterseminar, wurde dann aber kein kreativer Gottes-, sondern ein spirituell beeinflusster Kinomann – zur Freude jenes Publikums, das Amerika besser verstehen möchte. „Seine Filmbegeisterung ist niemals nur eine Begeisterung für stilistische Virtuosität, sondern vor allem dafür, wie dieses Medium an der Selbstreflexion und Geschichtsschreibung des modernen Menschen mitwirkt“, schreibt Alexander Horwath.

Zum Auftakt der Saison zeigt das Österreichische Filmmuseum eine Gesamtretrospektive  Scorseses, des vielleicht bedeutendsten lebenden Filmemachers Hollywoods. ray möchte mit der obigen Reportage von Peter Patzak und mit den folgenden vier Miniaturen zu persönlichen Redaktions-Favoriten darauf einstimmen.


Mean Streets
(Hexenkessel, 1973)

 

Von einer Jugend im Fegefeuer aus Besäufnissen, Gaunereien und Katholizismus erzählt Scorseses furioser Film, sein erstes true masterpiece. Harvey Keitel ist als small time crook Charlie in New Yorks Little Italy in eine Frau verliebt, die seinem Mafia-Onkel aufgrund ihrer Epilepsie als nicht standesgemäß erscheint, während Robert de Niro als sein psychotisch-anarchischer Freund Johnny Boy auf die Abschussliste der Mafia gerät. Für Charlie, der Entscheidungen gern ebenso aufschiebt wie das Erwachsenwerden, wird die Wahl zwischen Liebe, Freundschaft und Karriere zur Glaubensfrage, versinnbildlicht durch das stets präsente Kreuz. Scorsese kreiert einen dichten, realistischen Kosmos und bevölkert ihn mit Menschen, die über ihr eigenes Viertel nie hinauskommen. Die in rotes Licht getauchte Stammkneipe, in der Italoschnulzen auf peitschende Rockrhythmen treffen, erscheint als Hölle der Leidenschaften, zeitbezogene Themen wie der Vietnamkrieg sind ebenso organisch eingearbeitet wie der Rassismus der Italo-Amerikaner gegenüber Schwarzen. Ein überaus einflussreicher Film: Die Vorstellung der Protagonisten mittels Kurzszene und Namensinsert kopierte Danny Boyle in Trainspotting, das ziellose Herumdriften der Figuren, die sich die Zeit mit sinnlosen Aktionen vertreiben, kann als Vorbild diverser Slacker-Movies gelten.

Oliver Stangl

 

Raging Bull
(Wie ein wilder Stier, 1980)

Am Ende des Kampfes gegen seinen ewigen Rivalen Sugar Ray Robinson hängt Boxweltmeister Jake La Motta (Robert De Niro) schwer gezeichnet in den Seilen, der brillante Techniker Robinson hat dem berüchtigten Schläger La Motta eine bittere Niederlage bereitet. Und doch lässt der es sich nicht nehmen, noch einmal durch den Ring zu wanken und seinem Gegner ein trotziges „You didn’t get me down, Ray“ ins Gesicht zu schleudern – Jake La Motta hat eben seine ganz eigene Vorstellung, wann man wirklich geschlagen ist.

Es ist dies eine emblematische Szene in Martin Scorseses eindringlichem Psychogramm des legendären Boxers Jake „The Raging Bull“ La Motta, die deutlich macht, nach welchem eigenwilligen Wertesystem La Motta sein ganzes Leben ausgerichtet hat. Denn geprägt vom Mikrokosmos der italienischen Gemeinde New Yorks (den Scorsese von Jugend an kennt und der von Traditionalismus, Katholizismus und der Cosa Nostra bestimmt war), hat sich La Motta seinen ganz persönlichen, verhängnisvollen Verhaltenskodex herausdestilliert, der – zwischen sturer Individualität und paranoidem Misstrauen – vor allem durch physische Gewalt als Problemslösungsstrategie determiniert ist. Was Jake La Motta im Boxring zwar zwischenzeitlich bis ganz an die Spitze bringt, führt im sozialen Leben jedoch unweigerlich zur Katastrophe. La Mottas Wüten zerstört die Bindung zu den wenigen Menschen, die ihm nahe stehen und am Schluss beinahe ihn selbst – doch ganz zu Boden geht er nie.

Jörg Schiffauer

 

Casino (1995)
Es gibt die Goodfellas-Fraktion und die Casino-Fraktion.

Die Goodfellas-Fraktion behauptet, Scorsese habe mit der retrospektiven Off-Erzählperspektive, dem frappanten Kontrast von brutaler Gewalt und schöner Musik und nicht zuletzt mit innovativer Kameraarbeit den definitiven Mafiafilm geschaffen, ein epochales Gegenepos zu Coppolas vergleichsweise romantisierender Mafiadarstellung in Godfather. Das stimmt, und Goodfellas (1990) ist ein toller Film.

Weiters sagt die Goodfellas-Fraktion, Casino sei doch nur eine Art Fortsetzung von Goodfellas in Las Vegas, mit anderen Charakteren und ähnlichen Mitteln. Das stimmt nicht, denn Casino ist ein noch tollerer Film: ein von der ersten bis zur letzten Minute hypnotisierender Bilderreigen, in dem Robert De Niro, Sharon Stone und Joe Pesci als tiefenscharfe Figuren überzeugen; eine Explosion, deren über die Spieltische verstreute Splitter ein dramatisch stimmiges Ganzes ergeben; eine Gewaltoper als Gierlehrstück, eine rockige Höllenfahrt als moderne Parabel auf Sodom und Gomorrha. Mithin, Casino ist ein mit beispiellosen Finessen angereichertes Premium-Fünfgang-Menü, wobei man zum Dessert nicht eine Schale Crème brûlée vorgesetzt, sondern einen Blaubeer-Muffin mit zu wenig Heidelbeermasse in den Hals gestopft kriegt.

Roman Scheiber

 

After Hours
(Die Zeit nach Mitternacht, 1985)

Obwohl oder gerade weil die Achtziger Jahre als das Zeitalter von Yuppies und Reagonomics galten, produzierte Hollywood ein paar wunderbare Filme, die man unter dem Begriff „Anti-Idylle“ subsumieren könnte. Im selben Jahr entstanden etwa John Landis’ Into The Night und Scorseses After Hours, Filme, in denen zwei geschniegelte jüngere Herren (Jeff Goldblum bzw. Griffin Dunne) eines Nachts aus ihren scheinbar gesicherten Existenzen gerissen werden – zweier aufregender jüngerer Damen (Michelle Pfeiffer bzw. Rosanna Arquette) wegen. Das hatte in beiden Fällen ausgesprochen viel Dynamik, Drive und Witz. Drehbuchdebütant Joseph Minion (später stellte sich heraus, dass Teile des Skripts aus einer Radioshow geklaut waren) und Martin Scorsese hetzen den armen (was sonst?) Computer-Spezialisten Paul Hackett durch die New Yorker Nacht. Was mit der viel versprechenden Aussicht auf ein nächtliches Date mit der schönen Marcy beginnt, entwickelt sich zu einem bizarren Albtraum aus Missverständnissen und Fehleinschätzungen, die ihn schwer auf Trab halten. Immerhin aber hat er Zeit, in eine Telefonzelle zu treten und seinen Gesprächspartner zu fragen: „Can I talk to Peter Patzak?“

Andreas Ungerböck