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Taking Woodstock

Ein Schmetterling lernt fliegen

| Andreas Ungerböck |
Ang Lee hat es wieder getan. Sich eines historischen Ereignisses angenommen und viel mehr als dieses gefunden: die Geschichte hinter der Geschichte von Woodstock.

Von 15. bis 17. August 2009, falls dies jemandem entgangen sein sollte, jährte sich zum 40. Mal die Abhaltung des berühmten Woodstock-Musikfestivals im kleinen Ort Bethel im US-Bundesstaat New York. Es war dies, auch wenn heute bisweilen dieser Eindruck entsteht, keineswegs das erste große Musikfestival (man denke an Newport 1965, als Bob Dylan es zum Entsetzen seiner konservativen Fangemeinde wagte, seine Gitarre elektrisch zu verstärken), aber es war das erste gigantische Musikfestival. 500.000 Menschen waren da, sagt Michael Lang, einer der Organisatoren, und noch einmal so viele seien auf dem Highway im endlosen Stau, der bis in die Stadt New York zurückreichte, stecken geblieben.

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Das Woodstock-Festival ist durch einen Film (Regie: Michael Wadleigh) und eine Dreifach-LP bzw. auf DVD und CD hinlänglich dokumentiert. Man sollte meinen, dass es nichts gäbe, was man nicht über Woodstock wüsste – ein Irrtum. Denn wer wusste denn schon wirklich, wie alles kam, wie beispielsweise ausgerechnet ein verschlafenes Kaff im einst von den New Yorkern geschätzten, aber in den Fünfziger und Sechziger Jahren völlig verödeten Naherholungsgebiet der Catskills zu der zweifelhaften Ehre kam, von „den Hippies überrannt“ zu werden und der Gefahr ausgesetzt zu sein, dass diese die lokalen Kühe ficken würden, wie es einer der Stadt-, oder besser, Dorfväter im Film ausdrückt.

Elyahu Teichberg

Dass dem so war, ist im Wesentlichen einem Mann zu verdanken: Elliot Tiber, geboren 1936 als Elyahu Teichberg in Brooklyn, New York. Er war es, der seine Eltern, die die hirnrissige Idee hatten, ausgerechnet in den Catskills ein völlig heruntergekommenes Motel zu kaufen, bei ihren verzweifelten Bemühungen unterstützte, den Zeitpunkt des völligen Bankrotts möglichst lange hinauszuzögern. Er tat dies (im realen Leben) mit seinen Einkünften als (Gebrauchs-) Künstler in New York. Elyahu hatte in den Jahren vor 1969 in den Sommermonaten ein kümmerliches Musikfestival in Bethel über die Bühne gebracht, mit jeweils zwei Handvoll an Zuschauern. Aber immerhin: Er besaß eine gültige Lizenz, so etwas zu veranstalten. Und er war, mangels Alternativen, Präsident der lokalen Handelskammer. Dieser junge Mann las eines Tages im Juli 1969 in der Zeitung, dass die Dorfväter am ursprünglichen Woodstock-Schauplatz in ihrer unergründlichen Weisheit beschlossen hatten, das Festival abzusagen, mit ähnlichen Argumenten wie ihre Kollegen in Bethel. Elyahu, verzweifelt wegen der wirtschaftlichen Situation, griff zum Telefonhörer und tat etwas Unglaubliches: Er lud die Veranstalter ein, nach Bethel zu kommen und sich das Gelände hinter dem elterlichen Motel anzuschauen. Gesagt, getan, mit dem Hubschrauber eingeflogen, für zu sumpfig befunden, dafür eine riesige Wiese auf dem Anwesen des Milchbauern Max Yasgur entdeckt – die perfekte Location. Der Rest ist Geschichte.

Humanismus und Klarsicht

Wenn man die Filme Ang Lees, des vielfach ausgezeichneten, seit langem in den USA lebenden taiwanesischen Regisseurs kennt, weiß man sofort: Das ist ein Stoff ganz nach seinem Geschmack. Die besten Filme Lees sind ohne Zweifel seine großen Americana: The Ice Storm (Watergate, Vietnam, die Einsamkeit der Suburbs), Ride with the Devil (der amerikanische Bürgerkrieg), Brokeback Mountain (über das Elend, in einer der konservativsten Regionen der USA eine schwule Liebe leben zu wollen). Das ergibt eine großartige Trilogie zu Amerika und seiner Geschichte, entworfen mit dem untrüglichen Auge des „ewigen Außenseiters“, wie Lee sich selber sieht, mit klarem Verstand und dem Herz eines großen Humanisten. Denn natürlich findet Ang Lee in dieser realen Geschichte, die Elliot Tiber unter dem Titel Taking Woodstock: A true story of a riot, a concert and a life gemeinsam mit Tom Monte in Buchform aufgearbeitet hat, nicht nur die historischen Fakten, sondern, wie in den erwähnten Filmen, die Menschen, die hinter der Geschichte stehen. Dabei ist interessant, dass Lee einen wesentlichen Teil der Tiber’schen (Auto-)Biografie völlig ausblendet: ärmliche Kindheit und Jugend in Brooklyn als Sohn eines Dachdeckers und einer aus Weißrussland eingewanderten, notorisch knausrigen Drugstore-Besitzerin, (homo) sexuelle Initiation in Pornokinos, Studium an der Kunsthochschule mit Mark Rothko, Begegnungen mit prominenten Schwulen wie Robert Mapplethorpe und Truman Capote, künstlerischer Erfolg und die Teilnahme an den Stonewall Riots im Juni 1969, als sich die Queer Community New Yorks zum ersten Mal gegen politische und polizeiliche Willkür zur Wehr setzte. All das kommt im Film nicht vor, ebenso wenig Tibers bitteres Resümee seiner Sozialisation und seiner Entfremdung von den Eltern.

Man darf daraus nicht den Trugschluss ziehen, Lee interessiere sich nur dafür, die Entstehung des Mythos Woodstock zu beleuchten. Im Gegenteil: Auch Woodstock selbst kommt im Film kaum vor. Als die ersten Wellen an Musik (Richie Havens‘ Freedom) von den sanften Hügeln der Yasgur-Farm in Richtung El-Monaco-Motel rollen, ist Elliot mit Arbeit mehr als eingedeckt; ein Ausflug aufs Festivalgelände und eine bizarre Sex/Drogen-Begegnung mit einem Hippie-Pärchen sind im Film breiter ausgespielt als im Buch, ebenso das legendäre Schlammrutschen und der große Regen. Aber das, was heute als Woodstock bekannt ist, ist eher eine Marginalie, darin folgt Lee der Buchvorlage sehr genau. Auch die Hippies, die in allen Farben, Schattierungen und sexuellen Orientierungen in Bethel auftauchen, stehen nicht im Mittelpunkt. Worum geht es also? Es geht um den Menschen Elyahu/Elliot, und es ist – wieder einmal – eine Freude, Ang Lee dabei zuzusehen, wie er einem Menschen bei seiner Emanzipation, bei seiner Entfaltung zusieht, wie einem Schmetterling, der sich langsam aus einer Raupe entwickelt.

Manche Kritiker, die Ang Lee vor allem als Pessimisten wahrnehmen, waren mit dieser fast fröhlichen Entpuppungsgeschichte bei der Premiere in Cannes gar nicht einverstanden, wieder andere monierten natürlich die Tatsache, dass der Film dann aus ist, wenn das Festival beginnt. Mag ja sein, dass Lee und sein langjähriger Drehbuchautor James Schamus ein wenig zu viel an den Ecken und Kanten der Vorlage gefeilt haben: Schon allein der fesche, schlanke Hauptdarsteller Demetri Martin entspricht so gar nicht dem Bild, das Tiber im Buch von sich selbst zeichnet. Und auch die erfundene Figur des jungen, an einem Vietnam-Trauma leidenden Billy ist nicht ganz schlüssig. Letztlich sind das Lappalien, wenn man beobachtet, welch zutiefst menschliche, aber niemals menschelnde Geschichte vor unseren Augen abrollt. Die Versöhnung mit den Eltern etwa, vor allem mit dem zu Beginn eher schroffen und schweigsamen Vater, der im Zuge der Hippie-Invasion richtig aufblüht, gehört zum Schönsten, was man im Kino in letzter Zeit gesehen hat. Die Selbstfindung des Elliot Tiber erinnert an die des jungen Christopher Mc-Candless in Sean Penns Into the Wild, ein Film, mit dem Taking Woodstock auch einen Darsteller (Emile Hirsch) gemeinsam hat. Sie wendet sich aber in diesem Fall ins Positive, so wie die Familie Hood in The Ice Storm nach allerlei persönlichen Schrecknissen in den Tagen zuvor zum Schluss wieder Hoffnung schöpfen darf, so wie der arme Ennis Del Mar am Ende von Brokeback Mountain endlich versteht, wie sehr ihn sein nunmehr toter Freund Jake geliebt hat. Das sind Kinomomente, die man nicht vergisst.