Mit „Verblendung“, geschrieben vom glühenden Antifaschisten Stieg Larsson, kommt nun ein Hauptwerk der neueren schwedischen Kriminalliteratur, die sich traditionell betont politisch gibt, auch bei uns ins Kino.
Im internationalen Filmgeschehen gibt es, wie überall sonst im Leben, Zyklen. Genres kommen und gehen, Stars kommen und gehen, und auch Länder kommen und gehen. Im Moment, das steht außer Frage, ist das schwedische Filmschaffen auf einem Höhepunkt angelangt, und das hat seine Gründe (siehe ray 05/09): Man hat es geschafft, mithilfe massiver staatlicher und regionaler Unterstützung und dank vorbildlicher Zusammenarbeit mit den anderen skandinavischen Ländern, mit denen man auch sonst – trotz aller nachbarlichen Rivalität – in gutem Einvernehmen lebt, eine funktionierende und tragfähige Filmindustrie aufzubauen. Das beschert den schwedischen Filmen im Heimatland einen beeindruckenden Marktanteil (32,4 Prozent im ersten Halbjahr 2009), und mittlerweile lassen sich nicht nur Selbstbaumöbel aus Schweden bestens exportieren.
Nach dem cleveren und stimmungsvollen Neo-Vampirfilm So finster die Nacht erreicht nun ein weiteres filmisches Flaggschiff die hiesigen Gestade. Verblendung, gedreht nach dem Bestseller-Roman von Stieg Larsson, dem ersten Teil seiner so genannten Millennium-Trilogie, ist ein Film, der die Bezeichnung „Blockbuster“ quasi vor sich herträgt. Das beweist zunächst der gigantische Erfolg in Schweden selbst: 1,19 Millionen Menschen, rund 12,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, haben den Film (Start: Ende Februar 2009) bisher gesehen. Zum Vergleich: Der neueste Harry Potter hält bei schlappen 560.000 Besuchern. Und das war nur der Anfang: Auch in den übrigen skandinavischen Ländern, in Frankreich, wo der Film fast parallel zum Filmfestival in Cannes gestartet wurde, in Spanien und Italien stürmten die Zuschauer die Kinos.
Ein kalter Fall
Es ist vielleicht nicht falsch, das Titelchaos näher zu beleuchten, um im Folgenden den Faden nicht zu verlieren: Der Originaltitel des Buches (und natürlich auch des Films) lautet sehr zutreffend Män som hatar kvinnor (= Männer, die Frauen hassen). Im Englischen, für den Export, wurde daraus The Girl with the Dragon Tattoo, was schwer von der Hand zu weisen ist, wenn man den Rücken der weiblichen Hauptfigur Lisbeth Salander sieht. Auf Deutsch schließlich, unergründlich wie so oft, heißen Buch und Film Verblendung. Dabei ist Verblendung das geringste Problem, mit dem der prominente Aufdeckungsjournalist Mikael „Kalle“ Blomkvist zu kämpfen hat. Eben erst hat er einen Prozess gegen den mächtigen Industriellen Hans-Erik Wennerström verloren, der ihn wegen übler Nachrede geklagt hat. Die Zukunft seines Magazins Millennium scheint gefährdet. Kaum macht er sich auf den Weg in die innere Emigration, erhält er über einen Anwalt ein Angebot des betagten Konzernchefs Henrik Vanger, der sich seit über vierzig Jahren über das mysteriöse Verschwinden seiner Nichte Harriet grämt, die eines schönen Tages im September 1966 nicht mehr nach Hause gekommen war. Seit diesem Zeitpunkt allerdings erhält der alte Mann jedes Jahr ein besonderes Weihnachtsgeschenk, das, wie er vermutet, Harriets Mörder ihm schickt, um ihn zu quälen.
Wer jetzt überrascht ist, dass Blomkvist den Auftrag, nach einigem Zögern, annimmt, dem kann nicht geholfen werden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag macht sich der frustrierte Journalist, der – selbstverständlich, möchte man sagen – geschieden ist und im Buch (im Film kommt das nicht vor) mit Vorliebe Romane amerikanischer Krimiautorinnen liest, auf den Weg in den hohen Norden. Schon bald wird ihm klar, warum die US-Polizei und die Medien einen lange ungelösten Fall cold case nennen, und das im doppelten Sinne. Zum einen ist es bitterkalt auf der Insel, auf dem die Vangers residieren, zum anderen ist die Geschichte um Harriet völlig undurchschaubar, und die spärlichen Spuren verlaufen umgehend im Nichts. Ein Zettel mit Frauennamen und Zahlen, die ganz offensichtlich Telefonnummern darstellen, erweist sich als ebenso harte Nuss wie der damals ermittelnde, mittlerweile pensionierte Polizeibeamte, der wenig Lust zeigt, den kalten Fall noch einmal aufzurollen.
Doch damit genug der Inhaltsangabe. Mörderisch spannend ist das, keine Frage, sonst wären Larssons Bücher, deren Auflagen in Schweden und im Rest der Welt schwindelerregend sind, wohl kaum ein solcher Erfolg. Einen Großteil dieses Erfolgs verdankt die Millennium-Trilogie der zweiten Protagonistin, die Stieg Larsson sich ausgedacht hat – einer genialen Figur, wie es sie in der Geschichte der Kriminalliteratur nicht oft gibt. Dem Zug der Zeit folgend, ist Lisbeth Salander, 24 Jahre alt, gepierct, tätowiert, sozial unangepasst und mit einer (angedeuteten) gewalttätigen Vergangenheit, nicht mehr und nicht weniger als eine Computer-Hackerin, deren Waffen ein Handy und ein nach einer beliebten Obstsorte benannter Laptop sind. Dass ihre Tätigkeit selbstverständlich illegal und moralisch höchst bedenklich ist, hindert eine seriöse Firma nicht, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, um geheime Daten unliebsamer Personen auszuspionieren. Ausgerechnet diese schräge junge Frau geht dem eher biederen mittelalterlichen Journalisten zur Hand. Das Band, das die beiden aneinanderkettet, ist mit freiem Auge zu erkennen: die eigenen schlechten Erfahrungen im Leben und eine fast fanatische Sehnsucht nach justice for all, jedenfalls für alle, die guten Willens sind. Dennoch entwickelt sich kein flottes buddy movie, denn es dauert eine ganze Weile, bis diese beiden unterschiedlichen Menschen miteinander klarkommen.
Bis es so weit ist, passiert allerlei, auch manches Grausige, aber das in einer Dosis, die auch der Mainstream-Besucher in seinem gepolsterten Multiplex-Sessel vertragen kann. Die heutigen Kids, die durch das Stahlbad diverser Hostel– oder Saw-Folgen gegangen sind, kann man damit wahrscheinlich kaum hinter dem Ofen (bzw. dem Computer) hervorlocken, schon gar nicht mit einer Laufzeit von – leicht übertriebenen – zweieinhalb Stunden. Nein, dafür ist ganz allein Lisbeth zuständig, die vor allem junge Frauen, die ihren Platz im Leben noch nicht so ganz gefunden haben, punktgenau ansprechen dürfte. Wie sie mit ihrem ekelhaften gesetzlichen Vormund und mit einer Gruppe grölender Randalierer in der U-Bahn umspringt, das kommt natürlich gut, gar nicht erst zu reden von ihrer beeindruckenden Computer-Kompetenz.
Während Österreich also gerade mal die erste Folge von Larssons Roman-Trilogie auf der Leinwand verfolgen kann, ist man in Skandinavien schon weiter: Eben ist der zweite Teil, The Girl Who Plays With Fire / Verdammnis, in den Kinos angelaufen, und man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass dieser den ersten in Sachen Publikumsresonanz noch übertreffen wird. Darin geht es quasi um die Vorgeschichte Lisbeth Salanders, die in Verblendung nur angedeutet wird. Der dritte Teil schließlich, The Girl Who Kicked the Hornets (eigentlich: Das Luftschloss, das gesprengt wird) / Vergebung, startet in Skandinavien Ende November.
Autor Stieg Larsson, der 2004 im Alter von nur 50 Jahren starb, erlebte weder den Erfolg seiner Bücher noch der Verfilmungen. Erst kurz vor seinem Tod hatte er die ersten drei Teile einer auf zehn Bände angelegten Serie zur Veröffentlichung angeboten – mit durchschlagendem Erfolg. Ein vierter Roman fand sich unvollendet, von Teil 5 und 6 gab es Skizzen.
Die Zahl Zehn
Dass die Serie auf zehn Teile konzipiert war, ist kein Zufall. Die gesamte höchst erfolgreiche neuere schwedische Kriminalliteratur fußt auf der Tradition des Schriftstellerpaares Per Wahlöö (1926–1975) und Maj Sjöwall (* 1935): „Es ist ungewöhnlich für eine literarische Tradition, ein richtiges Elternpaar zu haben. Noch ungewöhnlicher ist es für ein ganzes Genre … Fast alle Schwedinnen und Schweden, die Polizeiromane schreiben, werden irgendwann zu Nachfolgern von Sjöwall/Wahlöö ernannt“, schreibt der populäre Autor Arne Dahl im Vorwort zur deutschen Neuausgabe von Sjöwall/Wahlöös Und die Großen lässt man laufen (1970) – jener Arne Dahl, der zwischen 1998 und 2008 zehn Bände rund um eine Spezialeinheit der schwedischen Polizei, die so genannte A-Gruppe, schrieb, ehe er sich vom Verlag dazu überreden ließ, noch eine elfte Geschichte zu verfassen.
Dahl orientierte sich dabei selbst an Sjöwall/Wahlöö, die zwischen 1965 und 1975 (mit einem Jahr Pause dazwischen) ihre zehnbändige Serie „Roman über ein Verbrechen“ vorlegten, alle zentriert um den Stockholmer Kommissar Martin Beck, einen scheinbar ruhigen, aber im Ernstfall hart zupackenden Stoiker mit Klassenbewusstsein, und seine diversen Kolleginnen und Kollegen. Kommissar Beck, Fernsehserien-Aficionados wissen das, gehört zu den erfolgreichsten Exporten des Schwedischen Fernsehens und läuft seit Jahren in verschiedensten Ländern in aller Welt. Sjöwall und Wahlöö, selbst bekennende Sozialisten (und das heißt nicht: Sozialdemokraten), entwarfen einen Protoypen, der bis heute, natürlich variiert und mit unterschiedlichen Entourage umgeben, die schwedische Kriminalliteratur (und ihre unzähligen Verfilmungen) dominiert. Die Polizisten in dieser klassischen Serie kämpfen zwar vordergründig gegen das Böse in allerlei Gestalt, aber die Gestalt ist nicht selten eine mächtige, politisch oder wirtschaftlich einflussreiche Figur. So wie in Und die Großen lässt man laufen, einer der schärfsten Anklagen (siehe Titel) gegen eine korrupte Wirtschafts- und Finanzwelt. Aber nicht nur die kapitalistischen Bosse bekommen ihr Fett ab, sondern selbstverständlich auch die Politik, die den Missbrauch deckt, und der Polizeiapparat – in Gestalt unfähiger und vorauseilend gehorsamer hoher Funktionäre.
Beck und seinesgleichen kämpfen einen Kampf gegen Windmühlen, bei dem nicht unbedingt die Wahrheit, sondern vor allem „Resultate“ zählen. Kommissar Beck schaffte es sogar bis nach Hollywood – Der lachende Polizist, ein Titel der zehnteiligen Serie, wurde 1973 von Stuart Rosenberg mit Walther Matthau und Bruce Dern in den Hauptrollen verfilmt.
Sjöwalls und Wahlöös Kinder bzw. Enkel sind stolz auf diese sozialistische Tradition. Populäre Autorinnen und Autoren wie Henning Mankell (Kommissar Wallander), Håkan Nesser (zehn Romane um den Polizisten Van Veeteren), Leif GW Persson (unterschiedliche, aber immer recht handfeste Polizisten), Helen Tursten (Inspektorin Irene Huss) oder Liza Marklund (zehn Bände um die TV-Journalistin Annika Bengtzon) haben einen Reichtum an „sozialistischer“ Kriminalliteratur erschaffen, der seinesgleichen sucht, und das sind nur die prominentesten Namen auf einer langen Liste.
Auch Film und Fernsehen bedienten und bedienen sich dankbar. Zwei Marklund-Romane wurden von Colin Nutley verfilmt, Leif GW Perssons Mann aus Mallorca von Bo Widerberg, Mankells Die Rückkehr des Tanzlehrers mit Tobias Moretti und Veronica Ferres; Kommissar Wallander ist Held einer lange laufenden schwedischen und einer britischen TV-Serie (mit Kenneth Branagh), Irene Huss, Kripo Göteborg ist eben erst auf ARD angelaufen, und auch im Falle von Stieg Larssons Millennium-Trilogie gibt es Gerüchte, dass Hollywood in großem Stil nachlegen will: Nicht Remakes sollen gedreht werden, sondern eigenständige Adaptionen der drei Bücher. Auch Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander kämpfen in Verblendung gegen die Macht einer völlig verkommenen Industriellen-Dynastie; ob sich dieser sozialistische Ansatz in den USA durchsetzen wird, darf zumindest angezweifelt werden; der Autor war darüber hinaus aber auch glühender Anti-Nazi-Aktivist, der die rechtsextreme Szene – nicht nur in der von ihm herausgebenen Zeitschrift Expo – vehement bekämpfte. Antifaschismus und Sozialismus im Kriminalroman – ein Erfolgsrezept, das im Schweden der Sechziger Jahre erfunden wurde und bis heute reiche Früchte trägt.