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Antichrist – Feel-Bad Movies

Feel-Bad Movies

| Benjamin Moldenhauer :: Dieter Wiene |

Seine Filme erzählen von der als notwendig empfundenen Ordnung. Formal und narrativ arbeiten sie sich an dem Konflikt von Kontrolle und Chaos ab. Das große Thema, die Unverbesserlichkeit der Welt, korrespondiert mit der ausdauernden Obsession des Regisseurs für Regeln und Regelverstöße. Aus Anlass des Exorzierstücks Antichrist: Ein Blick auf das depressive Kino des Lars von Trier.

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Szenen einer Ehe. In Lars von Triers Antichrist nagelt eine Frau ihrem Mann einen Schleifstein ans Bein und schneidet sich mit der Gartenschere die Klitoris ab. Am Schluss, inzwischen hat der Mann begriffen, dass der Antichrist existiert, das Chaos regiert und die Natur von Grund auf böse ist, überlebt nur einer der beiden. In den Filmen Lars von Triers geht es drastisch zu. Womit haben wir es hier zu tun? Ein misogynes Spektakel für Menschen, die anderen gerne beim Leiden zuschauen, sich aber zu fein für die Niederungen des Genrekinos sind? Bedeutung suggerierender, letzten Endes aber leerer Ästhetizismus? Oder doch das religiös gefärbte Kino eines Moralisten, verborgen hinter formalen Spielereien und bösen Bildern? Von Triers Werk reizt zur Spekulation und lässt sich in alle möglichen Richtungen drehen. Es sind zur Zeit nur wenige Regisseure unterwegs, über deren Filme sich so herzhaft streiten ließe, die Zahl der Deutungsversuche zu Antichrist wächst ins Unüberschaubare. Vielleicht führt es weiter, wenn man die stilistischen Strategien Lars von Triers ernst und seine Erzählungen beim Wort nimmt.

Auch formal sind die Filme nicht ohne weiteres zu verorten. Von Trier arbeitet mit Versatzstücken des Genrekinos, der Geschichte des Melodrams vor allem, und bezieht sich zugleich auf die Tradition der großen philosophischen Autorenfilmer. Anders aber als bei den immer wieder ins Feld geführten Fixpunkten Carl Theodor Dreyer, Ingmar Bergman und Andrej Tarkowskij dienen hier die Plots eher als Gerüst für mehr oder weniger klare Thesen, die von seinen Figuren, die allerdings mehr Typen als glaubwürdige Charaktere sind, gleichsam verkörpert werden. Einige von ihnen tauchen in fast jedem seiner Filme auf: das weibliche Opfer, der scheiternde Idealist, der gewalttätige Mann. Die Erzählungen sind mehr fatalistische Lehrstücke als Geschichten. Was also hält das Werk zusammen? Auf den ersten Blick bekommen wir das Weltbild eines Misanthropen vorgeführt. Unermüdlich erzählen diese Filme von der Bösartigkeit der Menschen, vom Leiden der Frauen, die von den Männern geknechtet und getötet werden. Interessant wird es, wenn man sich anschaut, welche Dynamiken den von Trierschen Lehrstücken zugrunde liegen: Das große Thema, die Unverbesserlichkeit der Welt, korrespondiert mit der ausdauernden Obsession des Regisseurs für Regeln und Regelverstöße. Die Filme Lars von Triers sind formvollendetes depressives Kino.

Überforderung und Angst

„Depressives Kino“ meint nicht, dass die Laune nach Ansicht eines Lars von Trier-Films oftmals schlechter wäre als zuvor (obwohl dergleichen vorkommen soll). Auch geht es hier nicht um den viel diskutierten Gesundheitszustand des Regisseurs, der während der Promotion-Tour zu Antichrist nicht müde wurde, zu erzählen, er sei während des Drehs komplett überfordert gewesen und hätte vor lauter Angst und Erschöpfung die Kamera nicht mehr halten können. Gemeint ist „Depression“ im Sinne des französischen Soziologen Alain Ehrenberg, der den Begriff für ein Gefühlsgemisch aus Überforderung, Angst und Fatalismus verwendet, dessen Entstehung mit der Auflösung eindeutig lesbarer Regeln und Verbote verknüpft ist: „Die Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative“, schreibt Ehrenberg in seiner Studie „Das erschöpfte Selbst“. Der Depressive leidet anders als der Neurotiker nicht an Tabus und Verboten, die ihn daran hindern würden, seinen Wünschen und Neigungen nachzugehen. Die Neurose entsteht in der Reaktion auf das einschnürende Gesetz, die Depression hingegen speist sich aus dem Gefühl der Überforderung in einer Welt, in der alles möglich sein soll und klare, von Autoritäten ausgegebene Werte und Normen sich nur noch schwer definieren lassen. Der Gegensatz erlaubt–verboten, der das Individuum bis in die Fünfziger und Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts bestimmt habe, hätte seine Wirkung verloren: „Das inflationäre Bemühen, wieder an das Gesetz zu erinnern, das Gerede von der dringenden Notwendigkeit neuer strukturierender Bezugspunkte und von ‚Grenzen, die nicht übertreten werden dürfen‘ haben hier ihren Ursprung.“

Lars von Triers Filme erzählen von der als notwendig empfundenen Ordnung. Sie arbeiten sich sowohl auf der formalen als auch auf der narrativen Ebene an dem Konflikt von Kontrolle und Chaos ab.

An das Gesetz erinnern

Sucht man eine den Filmen gemeinsame stilistische Handschrift, fallen vor allem die zuerst in von Triers Melodram Breaking the Waves (1996) eingeführte wacklige Handkamera und die vordergründig unmotivierten Jump Cuts ins Auge, mit denen sich von Trier von den aufwändig komponierten Bildern der EUROPA-Trilogie (1984–1991) verabschiedet hatte. Vor allem aber arbeitet nahezu jeder der Filme mit einer neuen stilistischen Strategie, die die Ästhetik wenigstens in zentralen Szenen bestimmt.

Im Schnelldurchlauf: Das nach dem Regelwerk des notorischen Dogma-Manifests gedrehte Gruppenexperiment Idioten (1998) ging in dem Versuch, jeglichen Illusionismus zu vermeiden, noch weiter als Breaking the Waves. Dogma postulierte die weitgehende Reduktion der technischen Mittel. Kein künstliches Licht, keine nicht-diegetische Musik. Die am intensivsten diskutierte Szene des Films: ein Gruppensex-Szenario mitsamt erigiertem Penis und „echtem“ Sex, das allerdings gegen das Authentizitäts-Gebot des Dogma-Manifests verstößt – die Schauspieler werden von Body Doubles vertreten. Der nächste Film, das Musical Dancer in the Dark (2000), lässt die Dogma-Regeln schon wieder hinter sich und fährt für die Tanz-Szenen rund hundert Kameras auf. Die nächsten zwei Filme wiederum üben sich in Askese. Dogville (2003) und der schon wieder vergleichsweise illusionistisch daherkommende Manderlay (2005) sind auf einer Theaterbühne inszeniert worden, die nicht einmal Kulissen, sondern nur ein paar Props und Kreidezeichnungen auf dem Boden kennt. In der vergleichsweise gelösten Komödie The Boss of It All (2006) wählt ein Zufallsgenerator die Kameraperspektiven an von Triers Stelle aus – eine kontrollierbare Abgabe von Kontrolle.

In Lars von Triers bisherigem Werk findet sich also beides: ein rigoroses Insistieren auf strengen formalen Rahmenbedingungen bei gleichzeitigem Stilbruch mit dem jeweiligen Vorgängerfilm. Diese Variationsbreite wird zumeist als spielerisch und experimentell gedeutet, verweist aber gerade nicht auf ein von Beschränkungen befreites Filmemachen. Das Dogma-Manifest war eben kein Befreiungsschlag gegen die vorgeblich einengenden Konventionen der amerikanischen Kinotradition, sondern der zugleich ernst und ironisch gestimmte Versuch, sich ein rigoroses Regelwerk zu schaffen, das man, wenn es schon nicht von außen kommt, eben selbst entwerfen muss. Bei Dogma ging es darum, sagt von Trier, sich einer Autorität zu unterwerfen, „die ich in meiner humanistischen und linkskulturellen Erziehung nicht erfahren habe.“ Einer der zahlreichen ironischen Twists in der Mockumentary The Five Obstructions (2003) deutet in die gleiche Richtung. Der dänische Regisseur Jørgen Leth soll fünf Remakes seines Kurzfilmes The Perfect Human von 1967 fabrizieren, von Trier diktiert die formalen Rahmenbedingungen (keine Einstellung länger als zwölf Bilder, die vierte Fassung soll ein Cartoon sein, die erste auf Kuba gedreht werden usw.), ist aber unzufrieden mit dem Ergebnis – „zu brillant“ – und überlegt sich die in seinem Sinne schlimmste Bestrafung: den nächsten Film muss Leth ganz ohne Vorgaben drehen.

Was auf den ersten Blick als experimentelle Regelverletzung erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein Versuch, Grenzen überhaupt erst wieder herzustellen. „Aus dogmatischen Gründen“, schreibt Dietrich Kuhlbrodt, „hatte von Trier sich so ziemlich alles verboten, was Ästhetik und professionelle Normalität des Kinohandwerks ist, womit lustvoller Verstoß, unkeusches und sündiges Treiben wieder programmiert waren.“ Das Verbot birgt die Gefahr der Neurose, während das trügerische und überfordernde Gefühl des anything goes die formlose Hölle der Depression befeuert, gegen die diese Filme Gesetze installieren, welche es wieder zu übertreten lohnt.

Chaos regiert

Man hat es bei Von Trier mit einer fatalistischen Umkehrung des traditionell guten Ausgangs im Hollywood-Kino zu tun. Von Triers Filme sind Feel-Bad-Movies. Die Welt ist schlecht, die Menschen sind’s auch, das Ende muss ein fürchterliches sein. Gutes tun letzten Endes nur die, die sich aus bedingungsloser Liebe opfern, Märtyrerinnen, die sich von den Grausamkeiten, die ihnen ihre Mitmenschen antun, nicht vom Glauben abbringen lassen. In Breaking the Waves hat Beth auf den Wunsch ihres Mannes Jan, der nach einem Unfall querschnittsgelähmt ans Bett gefesselt ist, Sex mit anderen Männern. Je mehr sie sich quält und gequält wird, um so gesünder, glaubt sie, wird ihr kranker Gatte. Am Ende fährt Beth übers Meer, zu den Männern, von denen sie weiß, dass sie sie umbringen werden. Sie stirbt, Jan kann wieder laufen, im Himmel läuten die Glocken.

Von Triers Filme zeichnen sich – insbesondere wenn man in den Märtyrer-Erzählungen nicht viel Erbauliches finden kann – durch einen mitunter niederschmetternden Fatalismus aus. In diesem Punkt sind sie im geläufigen Wortsinne depressiv strukturiert.

Lars von Triers an sich selbst und an der Welt scheiternde Figuren sind zu einem guten Teil trist anmutende Personifizierungen emanzipatorischen Gedankenguts: die Kommunarden in Idioten, die verrückt spielen, um die Normalen zu provozieren; der Philosoph in Dogville, der der Gemeinde Vernunft und Mitmenschlichkeit beizubringen versucht; Grace, die versucht, die Sklaven in Manderlay aus der Knechtschaft zu befreien; „der Mann“ (die Protagonisten bleiben ohne Namen) in Antichrist, ein unerträglich vernünftiger Therapeut, der „die Frau“ davon überzeugen möchte, dass sie nicht das Opfer ihrer posttraumatischen Depression sein muss, sondern sich durch Einsicht und Reflexion selber retten könne – allesamt Idealisten, die sich an ihrer eigenen Hybris verheben. Und alle scheitern: Der Mann bekommt von der zunehmend teuflisch agierenden Frau das Gemächt zertrümmert; der Philosoph, selbst arg vom Trieb gebeutelt, hat nicht mit der Abgründigkeit der Dorfgemeinschaft gerechnet und bezahlt mit dem Leben; die Idioten-Kommune scheitert an der eigenen Inkonsequenz und Arroganz; in Manderlay wählen die Unterdrückten demokratisch den Fortbestand des alten Systems, der Sklaverei. Spätestens an diesem Punkt wird die weiße Aufklärerin richtig sauer und greift zur Peitsche. Manderlay bildet eine Ausnahme und ist komplexer gebaut als die anderen Filme. Nach der Bestrafung muss Grace sich von dem ausgepeitschten Sklaven das Verhältnis von Ursache und Wirkung erklären lassen: „You are forgetting one thing. You made us.“ Manderlay erzählt davon, dass Herrschaft und Unterwerfung keine Naturgesetze, sondern etwas von Menschen Gemachtes sind. Der Film variiert das Thema des scheiternden Idealisten in einem entscheidenden Punkt: Die Sklaverei hat eine Geschichte, sie ist von den Unterdrückten verinnerlicht und ihnen deswegen näher als die Vorstellung, in einer von Restriktionen befreiten Welt leben zu müssen.

Von derlei komplexen Bildern hat Antichrist sich wieder weitgehend verabschiedet. Eindeutiger waren die Figuren nie als charakterlose Archetypen inszeniert. Der Film fährt die rüdesten Mittel auf: eine Hardcore-Penetration, ein mit Händel-Musik unterlegter Kindstod und eine Genitalverstümmelung im Close-up. Antichrist ist der schwärzeste Von-Trier-Film bislang. Ein Versuch auch, in einer Welt, in der es kaum noch Nennenswertes gibt, das sich mit ästhetischen Mitteln verletzen ließe, doch noch transgressive Bilder zu inszenieren. Bloß läuft die offensichtliche Provokation ins Leere – wo sich keine Grenze mehr ausmachen lässt, kann man sie auch nur schwerlich überschreiten. Wo aber, wie uns ein sprechender Fuchs mit der Stimme von Triers erklärt, das „Chaos regiert“, muss der Rückgriff auf die großen alten Themen und Gegensätze Ordnung installieren: Mann und Frau, Gott und der Teufel, die Natur als Feind des Menschen. Mit der Pointe, dass der Film nahe legt, die Welt sei nicht vom lieben Herrgott, sondern vom Titelhelden erschaffen worden. Wenn aber der Weltenlauf im Allgemeinen und das Geschlechterverhältnis im Besonderen von ewigen mythischen Kräften bestimmt werden, können Emanzipation und geglückte Kooperationen nur als Selbstlüge gedacht werden. Da kann man nichts machen. „Der Depressive“, schreibt Alain Ehrenberg, „den eine Zeit ohne Zukunft erfasst hat, verharrt in einem Zustand des ‚Nichts-ist-möglich‘.“ Lars von Triers Filmen geht es, allen filmischen Innovationen zum Trotz, ganz ähnlich.