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Capitalism: A Love Story – What the Fuck Happened?

What the fuck happened?

| Oliver Stangl |

Der aktionistische Dokumentarist Michael Moore wirft eine weitere Polemik auf den Markt. Diesmal hat er sich dem Kampf gegen die Gier, sprich gegen den Kapitalismus, verschrieben.

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„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Michael Moores neuer Film Capitalism: A Love Story wirkt über weite Strecken so, als habe die berühmte Sentenz Bertolt Brechts hier Pate gestanden. Schon die ersten Bilder lassen – wer hätte von Moore auch anderes erwartet? – erahnen, welche Haltung der Filmemacher zum Thema Kapitalismus vertritt. So zeigt die furiose Eröffnungsmontage, von einem fetzigen Iggy-Pop-Song unterlegt, Bankräuber, die bei der Ausübung ihrer Tätigkeit von Überwachungskameras festgehalten wurden. Eine drastische Darstellung des Systems Kapitalismus, das Moore unverhohlen kriminell findet. Die nächsten knapp 120 Minuten setzt er auch alles daran, um diese Meinung zu erhärten. „A system of taking and giving. Mostly taking“, wie er mit seiner samtweichen Stimme aus dem Off kommentiert. Im Folgenden erscheinen auch nicht die Bankräuber als die eigentlichen Bösen, sondern die Banken selbst. So bekundet das männliche Oberhaupt einer delogierten Familie, die Moore mit der Kamera begleitet, dass er jetzt verstehen könne, warum Menschen Banken überfallen. Um trocken hinzuzusetzen, dass er vielleicht selbst bald einen Banküberfall verüben werde müssen. Und man ist sich nicht sicher, ob es sich hier bloß um Galgenhumor handelt oder ob der Mann es ernst meint.

„What the fuck happened?“, fragt Moore angesichts der Verzweiflung, die viele Familien ob der Wirtschaftskrise befallen hat, die von den Lockangeboten der Banken dazu verführt wurden, Kredite auf ihre Häuser aufzunehmen, sich die Raten nun nicht mehr leisten können und von Zwangsräumung bedroht sind.

Um zu erläutern, wie aus dem amerikanischen Traum vom Eigenheim ein Alptraum werden konnte, unternimmt Moore einen Rückblick – und zunächst scheint er dem System Kapitalismus auch noch einiges abgewinnen zu können: Eine Montage zeigt Bilder aus dem Amerika der Fünfziger und Sechziger Jahre – Frauen, die in traumhaft eingerichteten Küchen Festmähler zubereiten, Männer, die in chromblitzenden Superschlitten vor dem Einfamilienhaus vorfahren. Eine Zeit, in der der Wohlstand der Nation keine Grenzen zu kennen schien, in der alles expandierte und in der die USA unangefochten das reichste Land der Welt waren. Auch der junge Michael Moore ist auf Super8-Film zu sehen, ein stets lächelnder All American Boy. „Wenn das Kapitalismus war, dann liebte ich ihn.“

Doch es wäre nicht Moore, wenn er diese scheinbar nostalgische Rückschau auf das „gute“ Amerika nicht ironisch brechen würde. So verweist er neben dem Vietnamkrieg darauf, dass die US-Auto-industrie deshalb florierte, weil die deutsche und die japanische im Zweiten Weltkrieg in Grund und Boden gebombt worden waren. Dennoch schien das US-System zumindest für die eigenen Bürger großteils gerecht zu sein. Die Reichen zahlten hohe Steuern, und in den Mittelschichtfamilien reichte es, wenn der Mann arbeiten ging. Eine Weile schien es auch so weiterzugehen. Bis große Teile der USA in den Achtziger Jahren zu verelenden begannen.

Also: „What the fuck happened?“ Folgt man Moore, könnte man sagen: Ronald Reagan happened. Denn seine Analyse konzentriert sich vor allem auf die Steuererleichterungen für die Reichen, die die Reagan-Regierung Anfang der Achtziger Jahre einführte. Während die Gewinne der Unternehmen und die Boni der Manager in den Himmel schossen, blieben die Löhne der Arbeiterklasse eingefroren. Produktionsstätten wurden verlagert, um Kosten zu sparen und im Kampf mit der deutschen und japanischen Autoindustrie nicht unterzugehen. Auf diese Weise gingen Arbeitsplätze im eigenen Land verloren. Das hat Moore in seinem Erstlingswerk Roger & Me (1989) anhand seiner Heimatstadt Flint, Michigan, thematisiert. Aus dieser Doku über die desaströsen, zu Verelendung führenden Auswirkungen, die die Schließung des GM-Werks auf die Stadt und ihre Umgebung hatte, zitiert Moore übrigens in Capitalism: A Love Story. Eine der witzigsten Szenen ist Moores erneuter Versuch, in eine GM-Zentrale zu gelangen, um mit einem der Verantwortlichen zu sprechen; in Roger & Me war ihm dies den ganzen Film über nicht gelungen, und auch hier scheitert er bereits an den Sicherheitskräften.

Eine eindrucksvolle, weil überaus beklemmende Sequenz findet sich freilich am Anfang des Films: Eine Familie filmt sich im Inneren eines ziemlich leer wirkenden Hauses. Man wartet anscheinend auf ein Ereignis, sieht immer wieder aus dem Fenster. Dann kommen einige Wagen, angeführt vom Auto des Sheriffs. Zunächst wird an der Tür geklopft, doch als sich die Familie weigert, freiwillig zu öffnen, wird die Tür aufgebrochen. Nächstenliebe hat ausgedient, Rechnung und Räumungsbefehl haben das Sagen, die Familie muss das Haus verlassen. Die letzte Demütigung für eine andere delogierte Familie trieft vor Zynismus: Die Bank zahlt ihnen einen kleinen Betrag für die Beseitigung ihres Hab und Guts, um sich eine teure Entrümpelungsfirma zu ersparen. Obwohl er auch in diesem Film wieder selbst in Erscheinung tritt, hat man den Eindruck, dass Moore hier zurückgenommener agiert als in seinen früheren Werken. Insgesamt wirkt Capitalism persönlicher als die letzten Filme, schließt wieder mehr an Roger & Me an. Doch auch in Capitalism erweist sich Moore als furioser Agitator, Propagandist, Polemiker. So bietet er etwa Priester auf, die das System des Kapitalismus als Sünde bezeichnen, vergleicht die von der Finanzkrise angeschlagenen USA mit dem Römischen Imperium, was er mit Clips aus pseudohistorischen Sandalenschinken höchst amüsant unterlegt oder taucht bei den großen Companys auf, um „Bürgerverhaftungen“ der CEOs vorzunehmen. Allerdings schießt er auch manchmal übers Ziel hinaus: So bleibt die Kamera entschieden zu lang auf den tränenüberströmten Gesichtern eines Mannes und seiner Kinder, deren Mutter starb, weil sie sich keine adäquate Behandlung leisten konnte.

Als Gegenmodell zum „Bösen“ verortet Moore Demokratie und Bürgerengagement: Er zitiert aus einem internen Citibank-Memo, das unter anderem die Wahlfreiheit als Bedrohung für das eine Prozent der Superreichen angibt. Im Fall einer Abstimmung über Milliardenhilfen für Großkonzerne, die der Senat durchsetzen wollte, ging das Ergebnis nach geballten Bürgerbeschwerden zunächst tatsächlich gegen die Konzerne aus. Der Fall von Arbeitern, die sich weigerten, ihre von Schließung bedrohte Fabrik zu verlassen und von der lokalen Bevölkerung unterstützt wurden, wird im Film zu einer Feier der Solidarität.

Man mag Michael Moore einen einseitigen Blick und einen lockeren Umgang mit Fakten vorwerfen, wie dies viele Kritiker ja auch seit Jahren tun, und könnte einwenden, dass vor allem das letzte Drittel des Films ein wenig vor sich hinplätschert – doch alles in allem ist Capitalism: A Love Story eine wichtige Provokation in einer Zeit, in der viele im Glauben, die Krise sei schon wieder vorbei, erneut hemmungslos der Gier verfallen.