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Japan – Der Weg in die Freiheit

Der Weg in die Freiheit

| Roland Domenig |

Eine Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum präsentiert das Gesamtwerk des großen japanischen Regisseurs Ôshima Nagisa. Um eines seiner Hauptwerke, Nacht und Nebel über Japan, entbrannte 1960 eine heftige Kontroverse.

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Der Weg der Freiheit“ lautet der Titel eines Essays in der 1982 auf Deutsch erschienenen Schriftensammlung „Die Ahnung der Freiheit“ von Ôshima Nagisa. In dem erstmals 1965 in der japanischen Filmzeitschrift „Eiga geijutsu“ („Filmkunst“) publizierten Text reflektiert Ôshima über seinen Werdegang als Filmemacher und über seine „Schaffenspause“, die weniger selbst gewählt war, als vielmehr das Resultat einer Reihe von Umständen, die dazu führten, dass Ôshima rund drei Jahre lang keine Filme für das Kino machen konnte und sich mit Arbeiten für das Fernsehen und Radio über Wasser hielt.

Ôshima selbst hat in zahlreichen Interviews und Schriften wiederholt die vorzeitige Absetzung seines vierten Spielfilms Nacht und Nebel über Japan (Nihon no yoru to kiri, 1960) durch das Studio Shôchiku als Grund für seine Entscheidung genannt, das Studio zu verlassen und als unabhängiger Filmemacher seine Karriere weiterzuverfolgen. In den meisten Darstellungen über Ôshimas Karriere heißt es folglich auch, der Regisseur habe nach der vorzeitigen Absetzung von Nacht und Nebel über Japan aus Protest Shôchiku verlassen und seine eigene Produktionsgesellschaft Sôzôsha gegründet.

Nun ist nicht zu leugnen, dass die Entscheidung von Shôchiku, Nacht und Nebel über Japan nach nur vier Tagen aus dem Programm zu nehmen und den üblicherweise eine Woche dauernden Kinolauf auf die Hälfte zu verkürzen, dem Verhältnis zwischen Ôshima und dem Studio Schaden zufügte und letztlich dazu führte, dass Ôshima das Studio verließ, doch spielten bei seinem Austritt eine Reihe von weiteren Faktoren eine nicht unwesentliche Rolle.

Seit seinem Regiedebüt Eine Stadt voller Liebe und Hoffnung (Ai to kibô no machi, 1959) hatte Ôshima in knapp einem Jahr vier Filme für Shôchiku gedreht und wurde als Hauptvertreter der sogenannten „Shôchiku Nouvelle Vague“ gefeiert, einer Gruppe junger Regisseure, von der sich das auf Melodramen spezialisierte Studio neue Impulse erhoffte, um die durch rückgängige Kinobesucherzahlen und ausbleibende Kassenerfolge entstandene finanzielle Krise zu überwinden. In den Fünfziger Jahren war es innerhalb des Studios zu einem personellen Rückstau gekommen, und das durchschnittliche Alter, in dem Regisseure ihre ersten Filme drehen konnten, war kontinuierlich gestiegen. Dass Ôshima nach nur fünf Jahren als Regieassistent in dem für Shôchiku geradezu sensationell jungen Alter von 28 Jahren erstmals mit der Regie eines Films beauftragt wurde, sorgte zwar bei den übergangenen älteren Regieassistenten, die mitunter bereits mehr als zehn Jahre auf eine Beförderung zum Regisseur warteten, für erheblichen Unmut, zeigte jedoch – wie die im Jahr darauf folgenden Debüts von Shinoda Masahiro, Yoshida Kijû (Yoshishige) und Tamura Tsutomu, die ebenfalls alle noch in ihren Zwanzigern waren – dass das Studio eine Verjüngung anstrebte, wohl mit dem Ziel, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Von der Presse als „Shôchiku Nouvelle Vague“ tituliert, kamen der jungen Generation personelle Veränderungen innerhalb des Studios zugute, insbesondere der Rücktritt von Studiodirektor Kido Shirô im Februar 1960, der damit die Verantwortung für das Defizit im vorangegangenen Rechnungsabschluss – das erste nach dem Krieg – übernahm.

Kido hatte zwar Ôshimas Debüt aktiv gefördert, doch missfiel ihm das Ende des Films, und er war dadurch mit Ôshima in Streit geraten. Kidos Rücktritt ebnete den Weg zu Ôshimas zweitem Film, Grausame Geschichten der Jugend (Seishun zankoku monogatari), den er im Frühsommer 1960 drehte und der sich zu einem großen Kassenerfolg entwickelte. Im August 1960 kam Ôshimas dritter Film, Das Grab der Sonne (Taiyô no hakaba), ins Kino, und obwohl er nicht ganz an das Einspielergebnis des Vorgängerfilms herankam (welcher im deutschsprachigen Raum unter dem Titel Nackte Jugend in den Kinos lief) schaffte er es in die Top 10 der umsatzstärksten Filme von Shôchiku in diesem Jahr. Am 9. Oktober 1960, wenige Monate nach dem gescheiterten Widerstand gegen die Unterzeichnung des Amerikanisch-Japanischen Sicherheitsvertrages, kam schließlich Ôshimas vierter Film in die Kinos. Nacht und Nebel über Japan war sein bislang experimentellster und politischster Film, eine Abrechnung mit der japanischen Linken, insbesondere der Kommunistischen Partei, und erwartungsgemäß kein Kassenschlager wie die beiden vorangegangenen Filme. Dass der Film am 12. Oktober abgesetzt wurde, am selben Tag, an dem der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Japans, Asanuma Inejirô, während einer Wahlkampfrede auf offener Bühne von einem jugendlichen Rechtsradikalen mit einem Schwert attackiert und tödlich verletzt wurde (es war das erste politische Attentat nach dem Krieg), war für Ôshima ein klares Indiz dafür, dass der Film aus politischen Gründen zurückgezogen wurde. Das Studio hingegen begründete die Rücknahme des Films mit zu geringen Besucherzahlen. Leidtragender war übrigens nicht nur Ôshima, sondern auch sein Regiekollege Yoshida Kijû, dessen zweiter Film Getrocknetes Blut (Chi wa kawaiteru, 1960), der mit Nacht und Nebel über Japan als Double Feature gezeigt wurde, von der Absetzung ebenfalls betroffen war.

Das Studio fand es nicht der Mühe wert, Ôshima über die frühzeitige Absetzung des Films zu informieren, der Regisseur erfuhr davon erst am darauf folgenden Tag von einem Zeitungsreporter. Der unerwartete Rückzieher des Studios, die Verweigerung einer genaueren Begründung sowie die Tatsache, dass Shôchiku den Film für jegliche weitere Vorführung blockierte (der Film blieb über drei Jahre unter Verschluss) brachten Ôshima verständlicherweise in Rage, und er warf dem Studio in einer Reihe von Zeitungskommentaren und Artikeln politische Intervention vor. Die Hochzeitsfeier Ôshimas mit der ebenfalls bei Shôchiku unter Vertrag stehenden Schauspielerin Koyama Akiko am 30. Oktober 1960 geriet zu einer Abrechnung mit dem Studio. In Ansprachen griffen Freunde und Kollegen Ôshimas die anwesenden Vertreter des Studios an und forderten eine Herausgabe des Films.

Zwar belastete die Affäre rund um Nacht und Nebel über Japan das Verhältnis zwischen Ôshima und den Verantwortlichen von Shôchiku, zu einem unmittelbaren Bruch mit dem Studio kam es allerdings nicht. Es mangelte auch nicht an Versuchen von Seiten des Studios, das angeschlagene Verhältnis wieder zu verbessern. Dass Ôshima im Juni 1961 dennoch das Studio verließ, hing nicht nur damit zusammen, dass er bei Shôchiku keine wirklichen Möglichkeiten mehr sah, seine Vorstellungen von Kino umsetzen zu können, sondern auch weil sich für ihn neue Möglichkeiten eröffnet hatten. Vom Studio Tôei hatte er ein Angebot erhalten, einen Film mit dem Schauspieler Ôkawa Hashizô zu drehen (Amakusa Shirô Tokisada), vom Studio Daiei kam das Angebot einer japanischen Verfilmung von Stendhals „L’Abbesse de Castro“ mit der Schauspielerin Yamamoto Fujiko (das Projekt Ama to nobushi wurde nicht realisiert), und die unabhängige Produktionsgesellschaft Palace Films Productions war an ihn herangetreten, den Roman „Der Fang“ („Shiiku“) von Ôe Kenzaburô, dem späteren Literaturnobelpreisträger, zu verfilmen.

Das größte Hindernis für Ôshima war, dass er vertraglich an Shôchiku gebunden war. Die ersten drei Filme hatte er unter seinem Regieassistenten-Vertrag gedreht, für Nacht und Nebel über Japan hatte er jedoch einen neuen Vertrag als Regisseur unterschrieben. Die fünf großen Filmstudios (Shôchiku, Tôhô, Tôei, Nikkatsu und Daiei) waren an ein 1953 geschlossenes Abkommen gebunden, das ihnen untersagte, Schauspieler und Regisseure von einem anderen Studio abzuwerben. Einvernehmlich konnten Regisseure zwar auch für andere Studios Filme drehen, da Shôchiku jedoch kein grünes Licht gab, kamen die Angebote von Toei und Daiei nicht in Frage. Ôshima nahm deshalb das Angebot von Palace Films an und verfilmte den Roman „Der Fang“ (korrekter: „Die Aufzucht“), für den Ôe 1958 mit dem renommierten Akutagawa-Literaturpreis ausgezeichnet worden war. Es war Ôshimas erster Film, der nicht auf ein Originaldrehbuch zurückging, und seine erste Auseinandersetzung mit der japanischen Kriegsvergangenheit. Um den Film realisieren zu können, musste Ôshima seinen Vertrag mit Shôchiku brechen und die entsprechenden Konsequenzen in Kauf nehmen. Produziert wurde der Film von der unabhängigen Produktionsfirma Palace Films, verliehen wurde er von der kurzlebigen Verleihfirma Daihô, die nach der Insolvenz des Studios Shintôhô gegründet worden war und nach nur drei Monaten ihre Aktivitäten wieder einstellte. Der Film konnte nur in wenigen Kinos gezeigt werden, da die meisten Kinos vertraglich an eines der fünf großen Studios gebunden waren und aufgrund einer Ausschlussklausel im Fünf-Studio-Abkommen den Film nicht zeigen durften – Ôshima war ja gegenüber Shôchiku vertragsbrüchig geworden. Obwohl dem Projekt von der Presse große Aufmerksamkeit zuteil wurde, blieb das Einspielergebnis aus den genannten Gründen sehr bescheiden, und Palace Films konnte das Produktionsbudget kaum einspielen.

Auf Initiative des Tôhô-Produzenten Fujimoto Sanezumi, einem der Hauptinitiatoren des Fünf-Studio-Abkommens, wurde das Abkommen Ende 1961 gelockert und die bis dahin geltende Ausschlussklausel de facto ausgesetzt. Seinen nächsten Film, Der Rebell (Amakusa Shirô Tokisada, 1961), seinen ersten Historienfilm, konnte Ôshima deshalb mit Tôei realisieren. Der Film fiel jedoch sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik durch, und alle Pläne für weitere Filme mit den Studios Tôei und Daiei zerschlugen sich. Noch bevor Ôshima den Vertrag mit Tôei unterzeichnete, gründete er im Oktober 1961 seine eigene Produktionsfirma Sôzôsha. Zu den Gründungsmitgliedern zählten neben Ôshima und seiner Frau Koyama Akiko die Drehbuchautoren Ishidâ Toshirô und Tamura Tsutomu, die zusammen mit Ôshima und Koyama Shôchiku verlassen hatten, Ôshimas ehemaliger Studienkollege Toura Rokkô, den er überredet hatte, seinen Beruf als Lehrer aufzugeben und als Schauspieler in seinen Filmen mitzuwirken, sowie der Schauspieler Komatsu Hôsei, mit dem Ôshima ebenfalls seit seiner Studienzeit eine enge Freundschaft verband. Der Schauspieler Watanabe Fumio, der ebenfalls oft als Gründungsmitglied genannt wird, war nicht von Anfang an dabei, sondern trat etwas später der Sôzôsha bei, ebenso wie der Drehbuchautor Sasaki Mamoru, der sich 1964 Sôzôsha anschloss.

Nach dem Misserfolg von Der Rebell dauerte es jedoch drei Jahre, bis Ôshima mit seiner Produktionsgesellschaft Filme für das Kino drehen konnte. Während dieser Zeit hielt sich Ôshima mit Arbeiten für das Fernsehen und Radio sowie als Autor von Drehbüchern über Wasser.

Dass die von Sôzôsha produzierten Spielfilme Die Freuden des Fleisches (Etsuraku, 1965), Der Besessene im hellen Tageslicht (Hakuchô no torima, 1966), Über japanische Lieder der Unzucht (Nihon shunkakô, 1967), Doppelselbstmord unter Zwang: Japanischer Sommer (Muri shinjû: Nihon no natsu, 1967) und Rückkehr der drei Trunkenbolde (Kaette kita yopparai, 1969) – wie übrigens auch Ôshimas letzter Film Gohatto (1999) – allesamt vom Studio Shôchiku verliehen und praktisch mitfinanziert wurden, zeigt deutlich, dass der Bruch zwischen Ôshima und Shôchiku kein absoluter war, und dass beide auch nach Ôshimas Austritt aus dem Studio aufeinander angewiesen waren – Ôshima auf die Verleihstruktur und die Kinos von Shôchiku, und das Studio auf den Ankauf von unabhängigen Produktionen, um die durch die Reduktion der eigenen Produktion entstandenen Löcher im Produktionsplan für das Block-Booking-System von Shôchiku auszugleichen. Erst nachdem Ôshima einen neuen Verleiher und Ko-produzenten in der unabhängigen Art Theatre Guild (ATG) fand, konnte er sich von seinem ehemaligen Studio ganz lösen und zu neuen künstlerischen Höhen aufsteigen.