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Wien Modern – Befreite Klänge, bewegte Bilder

Befreite Klänge, bewegte Bilder

| Helene Sorgner |

Wien Modern, Österreichs größtes Festival für zeitgenössische Musik, präsentiert ein breitgefächertes Programm. Zwischen Retrospektiven, Premieren und Partynächten haben aber auch kleine Filmjuwelen noch Platz …

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Zwei großen Pionieren der Neuen Musik widmet Wien Modern heuer eine Doppelretrospektive: Iannis Xenakis, der sich mit mathematisch konstruierten Klanggebäuden einen Namen machte, und Edgar Varèse, der Musik für Instrumente schrieb, die er nicht mehr erlebte. Xenakis, als politischer Flüchtling in Paris gelandet und gelernter Ingenieur, begann erst dort, während der Tätigkeit für das renommierte Architekturbüro Le Corbusier, seine musikalische Ausbildung. Die Architektur war es auch, die ihn durch den Philips-Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 international bekannt machte. Beruhend auf denselben mathematischen Modellen schuf er sowohl die visionäre Konstruktion des Pavillons als auch ein Orchesterstück – „Metastaseis“ – das neben vielen anderen seiner über hundert disziplinenübergreifenden Werke an der Grenze von Kunst und Wissenschaft im Rahmen von Wien Modern zu hören sein wird.

Edgar Varèse komponierte sein „Poème electronique“, das beim Fes-tival ebenfalls aufgeführt wird, speziell für den Philips-Pavillon und knüpfte damit an Xenakis’ Idee des raumgestaltenden Klanges an. Ziel und Motto von Varèses Werk war zeitlebens, die Klänge zu befreien; weg von den Zwängen temperierter Stimmung und seriellen Kompositionsweisen hin zu einer schöpferischen Anarchie und Erweiterung des Klangspektrums bis ins Mikrotonale. Die von ihm dafür geforderten neuen, elektronischen Instrumente standen aber bis zu seinem Tod 1965 noch kaum zur Verfügung. So arbeitete Varèse etwa mit den akustischen Möglichkeiten von Lautsprecher-Orchestern. Wien Modern stellt in einem viertägigen Projekt sein visionäres akusmatisches Schaffen neben Werke von Bewunderern und Nachfolgern wie Frank Zappa und François Bayle und lädt Varèses langjährigen Assistenten Chou Wen-Chung zum Gespräch. Varèse selbst ist aber auch zu sehen, in den Dokumentarfilmen des Niederländers Frank Scheffer beim eigens für das Festival kreierten Doku-Konzert und als Schauspieler im Stummfilm-Klassiker Dr. Jekyll and Mr. Hyde, live vertont vom Londoner Elektronikkünstler Robin Rimbaud a.k.a Scanner.

Damit nicht genug der audiovisuellen Erfahrungen, ist Wien Modern 2009 doch für ein Musikfestival ungewöhnlich reich an bewegtem Bildmaterial. Für Cineasten steht mit Victor Sjöströms düsterem Meisterwerk Körkarlen (The Phantom Carriage / Der Fuhrmann des Todes, 1921) ein Stummfilm-Juwel auf dem Programm. Basierend auf einem Roman von Selma Lagerlöf, erzählt der Film eine alte Volkssage: Der letzte Sünder, der vor Jahreswechsel stirbt, muss zur Buße ein Jahr lang den Wagen des Todes lenken und die Seelen der Verstorbenen abholen. Bei Lagerlöf trifft dieses Schicksal einen Alkoholiker aus dem Arbeitermilieu, dem bei seinem Tod noch einmal seine Vergehen vor Augen geführt werden. Die Verfilmung zeichnet sich durch eine komplexe Dramaturgie, die mehrere Erzählzeiten und Handlungsebenen in Rückblenden verknüpft, und eine düstere, mystische Bildsprache aus. Dafür wurden in aufwändiger Postproduktion mit damals gerade erst entwickelten Techniken wie Doppelbelichtungen (die besonders schwierig zu drehen waren, da noch von Hand geschwenkt wurde) und monochromen Einfärbungen Effekte erzielt, die bis heute ihre Wirkung nicht verloren haben. Da es zu Körkarlen ursprünglich keinen eigenen Soundtrack gibt, nahm sich das österreichisch-amerikanische Elektronik-Duo KTL (Peter Rehberg, Stephen O’Malley) seiner an und schuf eine beunruhigend stille Komposition, die den Film am 7. November im Gartenbaukino begleiten wird.

Wer dann immer noch nicht genug gesehen hat, kann sich im Rahmen des Porträts von Bernhard Gander jene Splattermovies zu Gemüte führen, die neben Comics-Helden und Alltagserfahrungen seine Werke inspirieren, oder die Televisionen-Lounge im brut Konzerthaus besuchen. Dort werden unter dem Titel „Neue Musik im Fernsehen“ Abend für Abend relevante Beiträge aus amerikanischen und europäischen TV-Archiven der Fünfziger bis Achtziger Jahre gezeigt – in Wohnzimmeratsmosphäre mit Barbetrieb.

Im Sinne der Förderung gegenwärtigen Musikgeschehens haben in den übrigen Programmschwerpunkten neben etablierten Komponis-tinnen und Komponisten auch junge Talente die Möglichkeit, ihre Arbeiten zu präsentieren. So wurden sechs Kompositionsaufträge an noch unbekannte Künstler vergeben, die in einer Reihe von Gesprächskonzerten in der Alten Schmiede vorgestellt werden. Zwei aufstrebenden Persönlichkeiten der österreichischen Szene ist je ein Fokus gewidmet: Philipp Quehenberger, seines Zeichens umtriebiger und genresprengender Keyboard-Künstler, hat in zwei öffentlichen Aufnahmesessions die Gelegenheit, sein improvisatorisches Können an der Grenze zum Hör- und Spielbaren unter Beweis zu stellen. Eine davon, am 12. November in der fluc-Wanne, wird sich jedenfalls ausdrücklich (auch) mit tanzbaren Formen befassen.

Eva Reiter, deren Arbeiten mit feinen Klangsynthesen zwischen akustischen Instrumenten und mitunter maschinellen Klängen beeindrucken, steuerte fürWien Modern eine neue Komposition bei und wird mit Blockflöte und Gambe auch als Interpretin englischer Renaissancemusik zu hören sein.

Internationale Zeitgenossen sind durch die Porträts von Robert Ashley, einer der prägendsten Figuren der modernen amerikanischen Oper, und Ole-Henrik Moe vertreten. Der außerhalb Norwegens kaum bekannte Schüler von Iannis Xenakis interpretiert seine experimentell-minimalistischen Kompositionen bei einer Gelegenheit auch selbst und wird mit seiner kongenialen Partnerin Kari Ronnekleiv als Violin-Improvisationsduo The Sheriffs of Nothingness auftreten.

Junge Besucherinnen und Besucher kommen im begleitenden Kinderprogramm im Dschungel Wien auf ihre Kosten, weiters ergänzen Performanceprojekte das Konzertprogramm:  theatercombinat zeigt seine „Bambiland“-Produktion nach der Aufführung im öffentlichen Raum diesmal als „konzertante Innenraum-Choreografie“, und mit „TrikeDoubleThree“ wird eine Zusammenarbeit der Choreografin Christine Gaigg und des Komponisten Bernhard Lang uraufgeführt. Drei Abende schließlich feiern zeitgenössische (Tanz)-Musik in ihrer wahrscheinlich vertrautesten Form: Zum Ausklang lädt Wien Modern jeweils am Samstag zur kuratierten „elektrophiliale“ im Gartenbaukino.