ray Filmmagazin » Filmmuseum » Ein Genie wie du und ich

Das Dezember-Programm des Filmmuseums zeigt das Gesamtwerks jenes Filmkünstlers, dessen Attribute – Bärtchen, Stock und ausgebeulter Hut – ihn zur wohl bekanntesten Figur der Filmgeschichte machten: Charles Chaplin. Eine Gelegenheit, sich sowohl seine gefeierten Meisterwerke zu Gemüte zu führen, als auch einen Blick auf das selten gezeigte Früh- und Spätwerk des menschlichsten aller Künstler zu werfen. Zwischen „Making a Living“ (1914), seinem ersten Filmauftritt, und seinem Abschied mit „A Countess from Hong Kong“ (1967), in dem er Marlon Brando und Sophia Loren auf der Leinwand dirigierte, gibt es viel zu entdecken. Zur Einstimmung eine Bildstrecke mit Zitaten des Meisters und seiner prominenten Fans.

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Ich bekam einen Platz hinter drei stämmigen Mexikanern, die mit verschränkten Armen den Beginn des Films erwarteten. Ich nahm an, dass etwas Bewegung in sie hineinkommen würde, wenn der Film anlief. Aber nichts geschah. Sie blieben unbeweglich wie drei Felsen. Ein panischer Schreck überfiel mich, als ich mich nach dem übrigen Publikum umblickte. Es war nicht einer unter den Besuchern, der auch nur einen Gesichtsmuskel verzogen hätte. Mein Magen begann sich zu drehen. Ich drängte nach draußen zur Toilette und übergab mich. Draußen redete ich mir ein, dass das einfach nicht wahr sein könnte, und ging wieder zurück. Im Theater war es so still wie in einem Grab. Ich fand die drei Mexikaner noch genau so vor, wie ich sie verlassen hatte – reglos, mit verschränkten Armen. Sie faszinierten mich. Warum war bei ihnen nicht die geringste Reaktion zu verspüren? Ich musste wieder auf die Toilette. Vier- oder fünfmal eilte ich im Verlauf des Films nach draußen, um mich zu übergeben.
Charles Chaplin über eine Preview von „City Lights“ oder „The Gold Rush“

A Woman of Paris: A Drama of Fate (1923)

Zum ersten Mal erleben wir auf der Leinwand keine Marionetten mit frisierten Seelen, keine Schwarzweiß-Zeichnung. Chaplin schafft echte Menschen. Er glaubt überdies an die Fatalität. Die Szene, in der Jean Marie mit ein paar Worten zurückgewinnt, erinnert in ihrer leicht wirren Grazie und offenen Unlogik an Stendhal. Der eigentliche psychologische Wert des Films geht einem jedoch erst am Ende auf. Man bringt es nämlich nicht fertig, die Figuren des Stückes nach der Salon- und Plüschkonvention der Bühne einzuordnen. Da ist niemand ganz böse oder ganz gut. Die Handlungen der Menschen hängen ein wenig von ihrem Willen, in der Hauptsache aber vom Zufall ab.
René Clair, „Le Théâtre“, Mai 1924

The Gold Rush (1925)

In München, in Stuttgart, in Heidelberg und anderen Städten läuft jetzt der Film Goldrausch. Wenn man abends an den Kinos vorübergeht, hört man, bis auf die Straße hinaus, die armen, unterernährten, tief bekümmerten Bayern, Schwaben und Badenser so laut lachen, dass die Trümmer in der Nachbarschaft wackeln.
Erich Kästner, „Neue Zeitung“, 25.10.1945

The Circus (1928)

Der Zirkus ist das erste Alterswerk der Filmkunst. Charlie ist älter geworden seit seinem letzten Film. Aber er spielt sich auch so. Und das Ergreifendste an diesem neuen Film ist, zu fühlen, dass Chaplin den Kreis seiner Wirkungsmöglichkeiten nun überblickt, entschlossen ist, mit ihnen und nur mit ihnen seine Sache zu Ende zu führen. Überall geht die Variante seiner größten Motive in voller Herrlichkeit auf. Die Verfolgung ist in einen Irrgarten verlegt, das unerwartete Auftauchen muss einen Zauberer verblüffen, die Maske des Unbeteiligtseins macht ihn zur Marionette in einer Jahrmarktsbude.
Walter Benjamin, „Rückblick auf Chaplin“,
in: „Literarische Welt“, 8.2.1929

Modern Times (1936)

Beim Fließbandterror verliert er die Nerven, aber nicht die Formen: Plötzlich schwebt er mit verzückt-graziösen Sprüngen, zierlich wie eine Ballettprinzessin, durch die Fabrikhallen. Charlie läuft nicht Amok, er tanzt Amok. Im Total- und Brutalkapitalismus der Fabrik ist er der einzige und letzte Sensible. Während die Kollegen, allesamt klobige Gesellen, in der Mittagspause stumpf an ihren Stullen kauen, kämpft Charlie den Kampf mit dem Fließband pantomimisch weiter. So überragt Charlie mit Zwergencharme seine plumpe Unterwelt: Lumpenaristokrat und Herrenmensch, kein hilflos-sentimentaler Clown. Lassen ihm Verfolgungen und Katastrophen auch nur einen Augenblick Zeit, erwacht seine Eitelkeit, sein zierlicher Despotismus. Kaum ist er dem Löwen entronnen (in Circus), spielt er schon lässig den Dompteur. Kaum glaubt er sich am Ziel seiner Liebeswünsche, tritt er einem anderen in den Bauch. Auch in Modern Times beweist Chaplin, dass er mithalten kann. Zweimal erobert er sich die Arbeit – und zweimal zeigt er, wie man das macht: indem man die anderen zur Seite boxt.
Benjamin Henrichs, „Süddeutsche Zeitung“, 25.2.1972

The Great Dictator (1940)

Nicht dass, aus Respekt vor welthistorischer Größe, das Lachen über den Anstreicher verboten; nicht das Gremium, welches die Machtübernahme inszenierte, keine Bande gewesen wäre. Aber solche Wahlverwandtschaft ist nicht exterritorial, sondern wurzelt in der Sozialität selbst. Daher ist der Spaß des Faschismus, den auch Chaplins Film registrierte, unmittelbar zugleich das äußerste Entsetzen. Wird das unterschlagen, wird über die armseligen Ausbeuter von Gemüsehändlern gespottet, wo es um Schlüsselpositionen geht, so verpufft der Angriff. Auch der Große Diktator verliert die satirische Kraft und frevelt in der Szene, wo ein jüdisches Mädchen SA-Männern der Reihe nach eine Bratpfanne auf den Kopf haut, ohne dass es in Stücke gerissen würde.
Theodor W. Adorno, „Dialektik des Engagements“, in „Die Neue Rundschau“, Nr. 1, 1962