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Kinder, schaut die Kerle an!

| Bettina Schuler |

Spike Jonzes Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuch-Klassiker Wo die wilden Kerle wohnen“ wirft Fragen auf, die die Erziehungswissenschaft immer wieder beschäftigen. Und macht total Spaß.

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Langsam und leise öffnet sich die Tür zu dem geheimen Zimmer und macht den Blick frei auf einen Raum, der mit Blut getränkt ist. An den Wänden hängen zahlreiche tote Frauen, von denen einige bis aufs Gerippe verwest sind. Voller Schrecken weicht die Frau, die entgegen den Anweisungen ihres Mannes die Tür geöffnet hat, zurück, und betrachtet mit Angst und Abscheu im Gesicht den goldenen Schlüssel in ihrer Hand, der plötzlich wie in Blut getaucht scheint.

Nein, bei diesem Szenario handelt es sich nicht um eine Szene aus einem Horrorfilm, sondern um eine Passage aus dem Grimm’schen Märchen „Blaubart“ – nur eines von vielen Beispielen dafür, wie unheimlich und brutal Märchen sein können. In Medien und Gesellschaft wird denn auch immer wieder die Frage gestellt, ob es aus psychologischer Sicht gefährlich sei, dass Eltern ihren Kindern Märchen erzählen. Eine Frage, mit der bereits die Gebrüder Grimm konfrontiert wurden. Diese antworteten ihren Kritikern im Vorwort zu ihrer Märchensammlung, dass Kinder schon immer ohne Furcht in die Sterne deuteten, während andere, „nach dem Volksglauben, die Engel damit beleidigen“.

Die Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker „Where the Wild Things Are / Wo die wilden Kerle wohnen“ (1963) durch Independent-Regisseur Spike Jonze hat nun in den USA erneut eine Debatte über das Thema losgetreten, weil viele Kritiker den Film wegen seiner Charaktere – Eltern, die mit ihrem Leben und der Erziehung des Kindes überfordert sind, und Kinder, die aus Unbeholfenheit gewalttätig werden – als für Kinder ungeeignet befanden. Man solle sich gut überlegen, ob man mit seinen Kinder in den Film geht, schreibt die Kritikerin Amanda Deprospero vom „California Chronicle“. Und David Denby vom „New Yorker“ ist davon überzeugt, dass viele jüngere Kinder den Film völlig verwirrt verlassen werden, weil sie die Konflikte, welche Max und seine wilden Kerle erleben, wegen ihrer Komplexität nicht verstehen werden. Mick LaSalle vom „San Francisco Chronicle“ geht sogar so weit, den Film als Kommentar eines Erwachsenen über einen Kinderfilm zu betrachten. Doch gehören Scheidung, Eifersucht oder das Gefühl, nicht genug Aufmerksamkeit von der Mutter zu bekommen, nicht längst zu den realen Problemen des kindlichen Alltags?

Fantastische Geschichten als Helfer in der Not

Der Psychologe Hans Dieckmann verficht die These, dass phantastische Geschichten bei Kindern wie Träume funktionieren und ihnen dabei helfen können, innere Konflikte zu lösen, indem der Märchenheld anstelle ihrer selbst mit ihren Mensch oder auch Tier gewordenen Ängsten kämpft.

Eine These, die der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ ebenfalls vertritt. Bettelheim sieht selbst in so grausamen Märchen wie „Blaubart“ eine Emotion widergespiegelt, die dem kindlichen Gemüt nicht fremd ist: die der eifersüchtigen Liebe. Der mit Blut besudelte Schlüssel steht für ihn dabei als Symbol der weiblichen Untreue, die Blaubart bei seinen vorherigen Frauen, die nun tot im Zimmer an der Wand hängen, mit dem Tod rächt. Ein unrechtes Handeln, für das Blaubart am Ende der Geschichte selbst mit dem Tod bestraft wird. Woraus die Kinder wiederum die Moral ziehen können, dass Rache keine Lösung für Konflikte ist.

Dieckmann plädiert auf Grund des Fabelcharakters von Märchen dafür, diese nicht nur als einfache Geschichten zu betrachten, sondern in ihrer kulturhistorischen Tradition als Kulturprodukte zu sehen, die eine entscheidende Rolle bei der Sozialisierung von Kindern spielen. Ein Aspekt, den man durchaus auch Sendaks Buch abgewinnen könnte, das kindliche Probleme bei der Sozialisierung und Integration in die Gesellschaft behandelt und dadurch eine ebenso lebenshilfreiche Wirkung auf Kinder haben kann wie die klassischen Volksmärchen. Weiters könnte man sich fragen, ob Filme mittlerweile nicht eine wichtigere Rolle bei der Sozialisierung von Kindern spielen als alte Volksmärchen, und ob sich deshalb daraus nicht mindestens ebenso lebenshilfreiche Erkenntnisse gewinnen lassen wie aus Märchenbüchern? Denn, das stellte bereits Walter Benjamin fest, erst durch die Kamera können wir von unserem „optischen Unbewussten“ erfahren, genauso wie „von dem triebhaften Unbewussten durch die Psychoanalyse“.

Wo die wilden Kerle wohnen…

Auch Regisseur Spike Jonze ging es bei der Verfilmung von Sen-daks Buch weniger darum, einen klassisch-naiven, unterhaltsamen Kinderfilm zu inszenieren, als vielmehr darum, eine visuelle Form für die Gedanken und Gefühle zu finden, die ein Kind bewegen. Dafür hat er die nur 333 Wörter umfassende Bilderbuchvorlage auf der Handlungsebene ausgeweitet, aktualisiert und zusammen mit dem Schriftsteller Dave Eggers ein Drehbuch geschrieben, das Sendaks Buch in nichts hinterher hinkt. Schon durch die Weite der Landschaft mit ihren zurückhaltenden Sepiafarben, die allein vom Blau des Meeres und des Himmels gebrochen werden, wird das Publikum in eine andere, phantastische Welt katapultiert. Auf ein Fleckchen Erde, in dem überdimensionale Hunde durch die Wüs-te spazieren und flauschige Monster mit kantigen Zähnen leben, deren puschelige Katzennasen zum Anfassen einladen. Sie alle sind bei Jonze nicht bloße Spielgefährten, sondern personifizieren zugleich die verschiedenen Probleme und Konflikte, mit denen Max in der Realität konfrontiert wird.

So kann man die Beziehung zwischen dem zurückhaltenden Mons-termädchen KW und dem ungestümen wilden Kerl Carol (dem es ebenso wenig wie Max gelingt, seine Wut zu kontrollieren) als Spiegel von Maxens Beziehung zu seiner Mutter verstehen. Beide, KW und Maxens Mutter, wissen nicht mit den Wutausbrüchen ihres Gegenüber umzugehen und ziehen sich deshalb immer mehr zurück. Was natürlich bei Max wie auch bei Carol zu einer noch größeren Wut im Bauch führt. Der kleine, weise, aber komplexbeladene Ziegenbock Alex wiederum steht für Maxens sensible Seite, die im Gegensatz zu seinem lauten Auftreten steht und die Max vor seiner Familie meist versteckt, weil er keine Schwäche eingestehen will. Die Beziehung des Monsterpärchens Judith und Ira hingegen, die entgegen aller Widrigkeiten immer zusammenhalten, könnte man als Maxens Traum von einer heilen Familie sehen, die für ihn durch die Scheidung zusammengebrochen ist.

Als er selbst zum König und somit zum Oberhaupt der Wilde-Kerle-Familie gekrönt wird, beginnt Max zum ersten Mal seine Mutter und deren Probleme zu verstehen. Denn erst jetzt bemerkt er, wie schwierig es ist, auf die Bedürfnisse aller einzugehen. Als er am Ende des Films Carol eingestehen muss, dass er kein König, sondern ein ganz normaler Junge ist, sieht er sich seiner eigenen ungezügelten Wut gegenübergestellt und muss sich in KWs Monsterbauch vor dem Zorn seines liebsten Freundes verstecken. Dort gefangen, beginnt er über sich selbst und sein Verhalten gegenüber seiner Familie nachzudenken und wandelt sich vom ungebremsten, ungestümen Jungen zu einem reflektierenden Heranwachsenden, der bereit ist, sich seinen familiären Konflikten zu stellen. Auf der visuellen Ebene spiegelt sich dieser Neuanfang sehr deutlich wider, indem KW Max durch den Mund aus ihrem Bauch herauszieht. Nicht zuletzt wegen des Schleims, der Max von Kopf bis Fuß überzieht, mutet das wie eine Neugeburt an. Auf der musikalischen Ebene drückt sich die Berg- und Talfahrt seiner Gefühle sehr deutlich durch die melancholische Musik von Karen O., der Frontfrau der Yeah Yeah Yeahs, aus.

Where the Wild Things Are ist ein zauberhafter, fantasievoller Kinderfilm, der sich nicht scheut, einen problembehafteten Jungen, der seine Schwester lieber beißt, anstatt den Konflikt auf der verbalen Ebene mit ihr auszutragen, in den Mittelpunkt des Geschehens zu stellen. In dieser differenzierten Charakterzeichnung unterscheidet sich Jonzes Film auch deutlich von den üblichen Kinderfilmen, in denen die Titelhelden zumeist grundgut sind. Und vielleicht ist es genau dieser Punkt, der die Kritiker in den USA so verstörte und sie zu dem Urteil kommen ließ, der Film sei für Kinder ungeeignet: weil er ihnen kein klares Wertesystem für Sozialverhalten mit auf den Weg gäbe. Selbst in den Harry-Potter-Filmen, die ab sechs Jahren freigegeben sind, wirbeln zwar jede Menge unheimliche Gestalten durch den Plot, doch der Held bleibt immer tugendhaft und gut. Oder wird im schlimmsten Fall kurzfristig von dem Bösen verführt. Ganz anders hingegen Max: Er ist von Beginn an ein ambivalenter Held, der zu Wutausbrüchen neigt und den sich Eltern definitiv nicht zum Kind wünschen.

… ist nicht so perfekt wie in einem Disneyfilm

Auch im deutschsprachigen Raum präsentiert man den Kindern gern einen tugendhaften Helden, der wie Felix, der Hase unspektakuläre Abenteuer erlebt, bei denen er sich immer pädagogisch korrekt und vorbildlich verhält und dadurch auch alle Unwegsamkeiten bezwingt. Ein sehr belehrender Held, der mit seinem überkorrekten Sozialverhalten den Kindern jedoch kein Beispiel dafür gibt, dass man aus seinen Fehlern auch lernen kann. Dabei, so Angela Ittel, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität Berlin, „kann bereits ein Dreijähriger verstehen, dass nicht alles immer nur schwarz oder weiß ist“, weil Kinder „gar nicht so ein normatives Bild von der Welt benötigen, um sich zurechtzufinden“. Kinder können laut Ittel oft viel besser mit einem differenzierten Welt- und Familienbild klarkommen als Erwachsene denken. Trotzdem trauen sich deutschsprachige Produzenten nur selten an heikle Themen – wie in Pauls Reise, der von einem leukämiekranken Jungen erzählt und trotzdem von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ab 6 Jahren freigegeben worden ist (ebenso wie Spike Jonzes Film).

Unabhängig davon, zu welcher Einstufung die FSK kommt, ist es wichtig, dass die Eltern gemeinsam mit dem Kind über das Gesehene reflektieren. „Es reicht eben nicht, wenn man sich einfach nur daneben setzt oder gar das Kind allein in den Film gehen lässt, während man sich im Kino nebenan einen Film für Erwachsene ansieht“, so Ittel. Dasselbe gelte auch für Märchen, die nur dann bei einer Konfliktbewältigung helfen können, wenn sie von Erwachsenen begleitet werden.

Bei der Diskussion über Kinderfilme und deren Inhalte dürfe man auch nicht vergessen, so Angela Ittel, dass die Geschichte für die Kinder oft im Hintergrund steht, und diese ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf die Gestaltung der Figuren richten. Eine allgemeingültige Alterseinschätzung für einen Film zu treffen, ist schon aus diesem Grund schwierig – jedes Kind nimmt das Geschehen auf der Leinwand individuell wahr. So mag für das eine Kind der muffelige Carol mit dem schlurfenden Gang und seiner behaarten, rosa Riesennase der niedlichste Weggefährte der Welt sein, für das andere stellt er den größten Albtraum dar.

Von einem der mutmaßlich größten Fans der zotteligen Spielgefährten erhielt Maurice Sendak nach der Veröffentlichung von „Where the Wild Things Are“ einen Leserbrief. Darin erkundigte sich der kleine Verfasser danach, wie teuer denn eine Reise zu den wilden Kerlen sei, weil seine Schwester und er so gern den Sommer dort verbringen würden. Ein Wunsch, den man nach Ansicht des Films von Spike Jonze nur noch besser versteht.

Literatur
Bruno Bettelheim, „Kinder brauchen Märchen“, München 1980.
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., „Gesammelte Schriften“, Frankfurt a.M. 1980.
Hans Dieckmann, „Gelebte Märchen“, Hildesheim 1988.Verena Kast, „Märchen als Therapie“, München 1986.
Christian Metz, „Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino“, Münster 2000.„Kinder- und Hausmärchen“ („Grimms Märchen“), gesammelt von Jacob und Wilhelm Grimm, 1. Auflage 1812–1815

Filme
Felix – ein Hase auf Weltreise (2005)
Felix 2 – Der Hase und die verflixte Zeitmaschine (2006)
Harry Potter und der Stein der Weisen (2001)
Harry Potter und die Kammer des Schreckens (2002, gekürzte Fassung)
Pauls Reise (1999)