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„Lourdes“ Film von Jessica Hausner

Lourdes

Wunderwerk Lourdes

| Helene Sorgner |

Egal ob Auftraggeber oder Angriffsfläche, Kirche und Religion liefern jederzeit reichlich Stoff für künstlerische Auseinandersetzung. Mit „Lourdes“ gelang Jessica Hausner eine vielschichtige Parabel über menschliche Hoffnungen vor dem opulenten Hintergrund einer katholischen Pilgerstätte.

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Am Anfang war die Vision. 1858 erlebte ein junges Mädchen in einer Felsgrotte im Süden der französischen Pyrenäen mehrere Marien-Erscheinungen. Der Ort und die Zeugin Bernadette wurden fortan verehrt und Lourdes mit seiner Heilquelle zu einem der populärsten Wallfahrtsziele in Europa. Diese wahrhaft wundersame Geschichte, schon von Franz Werfel zu einem Roman verdichtet, ist eine der jüngeren und am besten dokumentierten aus der legendenreichen Tradition des Katholizismus und Hintergrund eines bis heute anhaltenden Kultes.

Für ihren neuen Film ging Jessica Hausner weniger den sagenhaften Ursprüngen als den Erscheinungsformen dessen nach, was heute noch als Wunder bezeichnet wird. In Lourdes fand sie nicht nur eine märchenhafte Filmkulisse vor, sondern auch jene Art von an höchster Stelle genehmigtem Wunderglauben, die existenzielle Ängste und Hoffnungen mit der ältesten Form des Tourismus verknüpft. Denn Lourdes ist vor allem eine Pilgerstätte der Kranken: Viele, die hierher kommen, erhoffen sich oft bereits im Angesicht des Todes seelischen Trost und Linderung ihrer körperlichen Leiden.

Der Film begleitet eine vom französischen Malteserorden speziell für Menschen mit besonderen Bedürfnissen ausgerichtete Gruppenreise nach Lourdes. In der Eingangssequenz filmt die Kamera schräg von oben einen hallenartigen, anonym wirkenden Speisesaal, der sich zu den Klängen von Schuberts „Ave Maria“ nach und nach mit leuchtend rot uniformierten Malteserinnen und ihren Schützlingen füllt. Tische werden fertig gedeckt, ein Rollstuhl saust herum, und bevor man zu essen beginnt, verkündet die Reiseleiterin noch das Programm für den nächsten Tag. Die kurze Szene macht die gerade angekommenen Pilger wie Kinogäste mit den straff durchgeplanten Abläufen einer Wallfahrt bekannt: Grotte, Messe, Heilbäder, Beichte und vieles mehr sollen in den nächsten Tagen pünktlich und gemeinsam absolviert werden; um das seelische und leibliche Wohl der Gäste kümmern sich die ehrenamtlichen Mitglieder des Malteserordens sowie ein Priester; und am letzten Abend wird ein Preis für den/die beste Pilger/in verliehen. Christine (Sylvie Testud), die an Multipler Sklerose leidet und im Rollstuhl sitzend nur noch den Kopf bewegen kann, betrachtet den Ort und sein elaboriertes Pilgerprogramm von Anfang eher skeptisch. Mehr kulturelles Angebot wäre ihr lieber gewesen, immerhin sind solche betreuten Gruppenreisen ihre einzige Möglichkeit, ein wenig herumzukommen. Doch Christine ist geduldig und begegnet dem frommen Treiben wie der manchmal ungeschickten Impulsivität ihrer jugendlichen Pflegerin mit gleichbleibend distanzierter Freundlichkeit. So vergehen mehrere Tage, bis sie sich eines Nachts völlig unerwartet aus ihrer Bewegungslosigkeit befreien kann und damit in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rückt: Was ist hier passiert? Ein unwahrscheinlicher, aber medizinisch erklärbarer Heilungsschub oder tatsächlich ein Wunder? Und warum ist es dann gerade ihr widerfahren?

Was folgt, ist eine überzeugende Darstellung menschlichen Verhaltens in einer Ausnahmesituation: Ein Wunder mag zwar ein gewichtiges Argument göttlicher Gnade sein, doch auch Gläubige können es nicht völlig widerspruchslos geschehen lassen. Da ist einerseits der Stolz und die Freude jener, die ihre Anstrengungen belohnt und ihre Überzeugungen bestärkt sehen, andererseits instinktiv aufflammender Neid auf die Begnadete und begründeter Zweifel. Wunder, auch medizinisch bestätigte, kamen hier zwar schon vor, doch die letzten waren angeblich nicht von Dauer. Der Fall muss also genau geprüft werden; es scheint, als würde eine einzige körperliche Heilung gegenüber allen anderen, die nur noch auf die Gesundung ihrer Seele hoffen können, einen Affront und im alltäglichen Wallfahrtsbetrieb eher eine Störung darstellen. Für Christine selbst aber tun sich mit einem Mal Kapitel ihres Lebens auf, die sie schon längst abgeschrieben hatte: Eine selbständige Zukunft, ein Beruf und sogar eine romantische Beziehung rücken nun in greifbare Nähe.

Die große Stärke des Films besteht in seiner distanzierten Darstellung sowohl der religiösen als auch der zwischenmenschlichen Handlungen. Hausner geht mit dem teilnahmslos beobachtenden Blick ihrer Protagonistin den Glaubensgeschäften nach, ohne sich im Trubel des Wallfahrtsortes oder dem Versuch einer satirischen Darstellung zu verlieren. Zwischen Dokumentation und Inszenierung schwankend (für Massenszenen etwa wurden keine Statisten engagiert, sondern beispielsweise bei einer Segnung in Absprache mit den Priestern der übliche Betrieb gefilmt), wird hier das Geschehen in und um Lourdes nicht in aufdringlicher Weise gewertet. Es dient vielmehr als Schauplatz für das eigentliche Thema, das Wunder und seine ambivalenten Auswirkungen auf die Beteiligten. Dementsprechend viele Deutungsmöglichkeiten und Lesarten lässt der Film offen, und je nach Erklärungsversuch kann auch die Handlung verschieden interpretiert werden: Vielleicht war Christine nie krank, wenn sie gar so schnell wieder herumläuft und ihre Erzählungen wie auswendig gelernt vor den anderen abspult? Vielleicht träumt sie ihre Heilung nur? (Dafür sprächen die verhaltenen Reaktionen ihrer Umwelt und die sich allzu märchenhaft entwickelnde Romanze mit einem feschen Pfleger, die in einem Kuss vor Bergpanorama gipfelt …) Oder handelt es sich doch um ein veritables Wunder im allerchristlichsten Sinn, von dem man eben beim besten Willen nicht sagen kann, wie, wann und warum es jemandem zuteil wird?

Wie gut diese vieldeutige Darstellungsweise funktioniert, zeigt sich bereits in der unterschiedlichen Rezeption des Films, der in Venedig sowohl den SIGNIS-Preis der ökumenischen Jury als auch den BRIAN-Preis der Union der Atheisten und Agnostiker erhielt. Vermutlich ging es Jessica Hausner, die ihren Film selbst als „böses Märchen“ bezeichnet, aber weniger um eine glaubwürdige Geschichte mit eindeutiger Aussage und klarer Schlussfolgerung als um die Verhandlung der Möglichkeiten eines Wunders auf einer symbolischen und parabelhaften Ebene: Was wäre, wenn so etwas wirklich passiert?

Wie schon in Hausners Hotel scheinen die Charaktere eher exemplarische Figuren als Persönlichkeiten darzustellen, sie verweisen auf bestimmte Typen, über ihre Herkunft erfährt man nichts. Wieder verzichtet Hausner soweit wie möglich auf ein sprachliches Narrativ und lässt statt der Figuren ihre genau konstruierten Bilder sprechen. In Zusammenarbeit mit der meisterhaft geführten Kamera von Martin Gschlacht entstehen Einstellungen von eindringlicher Intensität, die vor allem mit farblichen Kontrasten (das leuchtende Rot der Malteseruniformen, das lichte Blau der Madonna von Lourdes) und symbolischer Aussagekraft auf die Emotionen der Zuseher abzielen. So sieht man eine alte Frau vor der Plastikmadonna in der Hotellobby niederknien, die Freude einer Mutter, als ihr schwerstbehindertes Kind nach dem Besuch der Heilgrotte kurz auf ihren Zuspruch zu reagieren scheint, aber auch absurde Szenen, wenn sich etwa sämtliche Kellner eines Lokals wie auf Zuruf um Christine aufstellen und ihr wortlos applaudieren. Ironische Zwischentöne sind bei aller Distanziertheit nicht zu überhören, denn für Erheiterung sorgen meist schon die frommen Pilger selbst. Da sind etwa zwei ältere Damen, die den ganzen Film hindurch sämtliche Ereignisse mit naivem und altklugem Blick kommentieren, um am Schluss festzustellen, dass ja alles genau so kommen musste. Oder ein Priester, der so bewegende Fragen wie „Was muss man tun, um geheilt zu werden?“ oder „Warum werden manche geheilt und andere, die viel öfter hier sind, nicht?“ mit wahrscheinlich ernst gemeinten, aber äußerst unbefriedigenden Allgemeinplätzen abspeist. Schließlich geht es auch auf einer Wallfahrt lustig zu: Abends wird getrunken und geraucht, die jungen Betreuer schäkern mit den Malteserschwestern, und beim Abschlussfest dürfen alle tanzen (zumindest alle, die können).

So zeigen sich an dieser Reisegruppe im kleinen Rahmen jene elementaren Gegensätze, deren Spannungsverhältnis den Film erst interessant macht: Die Konkurrenz zwischen Gesundheit und Krankheit, Jung und Alt, die Diskrepanz zwischen der Gemeinschaft und ihren auf Zeit integrierten Außenseitern. Den größten Kontrast stellen dabei die bewegungslose, zurückgezogene Christine und ihre impulsive kindliche Betreuerin dar, die sich zu allem Übermaß für denselben Mann interessiert. Denn auch wenn Christine von Sylvie Testud mit unsentimentaler Resigna-tion verkörpert wird und niemals auf Mitleid oder Rührung pocht, erfährt man doch, wie frustrierend und nutzlos ihr das Leben als ewiger Pflegefall manchmal erscheint. Daran ändern auch Unterhaltung und fürsorgliche Betreuung nichts, denn gerade ihre Abhängigkeit von der ständigen Zuwendung anderer verhindert, dass sie ihnen jemals auf gleicher Augenhöhe begegnen könnte.

Das Scheitern von Kommunikation und die daraus resultierende Einsamkeit ist ein Grundthema, das sich durch sämtliche Arbeiten von Jessica Hausner, von Flora bis Hotel, zieht und immer dramatische Konsequenzen hat. Auch in Lourdes, ihrem bisher zugänglichsten Film, wird klar, dass die Kranken viel stärker an Kommunikationsdefiziten als an ihren körperlichen Beschwerden leiden, auch wenn dies nicht wie in Interview oder Lovely Rita zu gewaltsamen Ausbrüchen führt. Die Reise nach Lourdes, die tröstenden Worte und gemeinsamen Gebete sind nur eine kurze Ablenkung, an ihrer Situation wird sich danach freilich nichts verändert haben: Sie bleiben mit ihrer Krankheit allein.

Am Ende steht eine stringent durchkomponierte Schlussszene, in der Christines Euphorie zu den Klängen einer Karaoke-Version von Al Bano Carisis „Felicita“ nach und nach zu Fall gebracht wird; sie scheitert an ihrem Glück, und es verlässt sie. Der Wallfahrtsort Lourdes lebt von der menschlichen Grundhaltung, im Angesicht des Unausweichlichen bis zuletzt auf Rettung zu hoffen. Der Film Lourdes zeigt, dass eine solche Rettung erst recht zerbrechlich macht.