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Der Räuber

In freier Wildbahn

| Roman Scheiber |

„Der Räuber“, die pulsierende Inszenierung einer Fluchtbewegung im Dauerlauf, angelehnt an einen spektakulären Fall der österreichischen Kriminalgeschichte, erlebt ihre Premiere im Wettbewerb der Berlinale. „ray“ war mit Romanautor/Drehbuch-Mitautor/Laufcoach Martin Prinz und Hauptdarsteller/Laufeleven Andreas Lust beim Wintertraining.

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Einsamkeit kann wie eine Säure, die langsam aus einer Flasche tropft, das Herz verätzen, ohne dass der Betroffene es merkt. Sie ist wie ein scharfes zweischneidiges Schwert. Sie bietet Schutz, kann jemanden jedoch gleichzeitig von innen durchbohren. Dieser Gefahr bin ich mir – wohl durch Erfahrung – bewusst geworden. Deshalb musste ich die Einsamkeit, die mich umfängt, heilen und ihr entgegenwirken, indem ich meinen Körper ständig in Bewegung hielt und manchmal sogar bis an seine Grenzen trieb, nicht vorsätzlich, sondern eher instinktiv.
Haruki Murakami, „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“

Wer sich in der Freizeitlaufszene bewegt, begegnet Menschen mit ganz unterschiedlichen Zugängen. Viele absolvieren einfach die paar nötigen Wochenkilometer, um sich fit zu fühlen und die gewünschte Portion Wohlfühlhormone auszuschütten. Anderen macht es Spaß, ihre Kondition zu testen, sich spielerisch mit Laufkollegen zu messen, sich physisch zu steigern. Die eine will spüren, wie es ist, einmal einen Marathon geschafft zu haben. Der andere genießt es, bei einem Volkslauf von einem Massenpublikum beachtet zu werden, und sei es nur als namenloses, winziges Zucken einer sich voranwälzenden Menschenlawine.

Und dann gibt es diejenigen, die an der Startlinie eines Laufbewerbs mit angespannten Gesichtern die vorderen Reihen belegen. Die den Startschuss kaum noch erwarten können, nach monatelangem, nahezu täglichem Training, über das sie oft penibel Buch führen oder das sie per Herzfrequenzkontrolle, Effizienzkurven und GPS-Messdatenabgleich mit dem Computer überwachen. Mit Profiathleten haben solche Läufer in diesem Moment gemeinsam, was an Rennpferde in der Startbox denken lässt: Das unbändige Bedürfnis, die aufgestaute Energie endlich in gleichmäßigen schnellen Schritten auf die Strecke zu bringen. Es sind vereinzelte, wenn nicht einsame Kämpfer zwischen Elite und Masse – internationalen Spitzenläufern hetzen auch die ambitioniertesten Freizeitsportler bei Wettkämpfen regelmäßig deutlich hinterher. Nicht selten fragen sich außen Stehende, was diese rennsüchtigen Amateure eigentlich antreibt. Was wollen sie sich beweisen? Können sie sich anders nicht mehr spüren? Laufen Sie am Ende vor irgendwas davon? Vor ihrer ansonsten leerläufigen Existenz? Vor sich selbst?

Keine Ahnung

Der Marathonläufer in Der Räuber heißt Johann Rettenberger. Er läuft, weil er nicht anders kann. Allerdings läuft er nicht nur, weil er nicht anders kann. Er überfällt auch Banken, weil er nicht anders kann. Der zweite Teil jedes Überfalls ist – naturgemäß – die Flucht. Das Aus-dem-Staub-Machen und später das buchstäbliche Davonlaufen ist unvermeidbare Konsequenz der obsessiv wiederholten Regelverletzung, ist jeweils notwendiger Rollenwechsel vom Angst einflößenden, überpräsenten, unantastbaren Bewaffneten in der Bankfiliale zum verschwindenden Verfolgten, der prompt die Ordnungshüter auf den Fersen hat. Durch die Trainingsläufe verbessern sich seine Laktatwerte. Durch die Überfälle optimiert er sein Geschick, davon zu kommen.

Der Räuber sieht in diesem Film nicht so aus, als benötige er das Geld oder den Adrenalinschub aus den Überfällen. Wie auch seine Läufe nicht einfach Fluchtbewegungen aus einem „eigentlichen“ Leben sind. Vielmehr rennt Rettenberger in beiden Fällen um sein Leben. Ein anderes Leben, ein braves bürgerliches Dasein, gibt es für ihn nicht. Beides, die seriellen Läufe und die seriellen Überfälle, sind essenzielles Triebwerk einer Existenz, die irgendwo zwischen Raubtier und Maschine verortet scheint – einer Existenz, deren soziale Regungen stark eingeschränkt sind, die von ihrem inneren Antriebsmechanismus selbst keine Ahnung hat und bloß eine vage Ahnung, dass moralisch falsch sein könnte, was sich in ihrem großteils instinktiv ablaufenden Programm so unumgänglich anfühlt.

Der Räuber ist die Filmadaption des gleichnamigen Romans von Martin Prinz unter der Regie von Benjamin Heisenberg. Der Roman wiederum ist die Aneignung einer „wahren“ Begebenheit, deren Kulmination zwischen 11. und 16. November 1988 die österreichische Öffentlichkeit in Atem hielt: Johann Kastenberger, Gewinner von Volksläufen, Rekordhalter eines Bergmarathons, von den Medien wegen seiner beim Serienbankraub bevorzugten Utensilien Gewehr und Reagan-Maske „Pumpgun-Ronnie“ getauft, war verhaftet worden, sprang aber wenig später im Zuge einer Einvernahme aus einem Fenster im ersten Stock der Kaserne Rennweg und lief einem Massenaufgebot der Exekutive tagelang buchstäblich davon.

Pathologien opfern

Der Räuber von Prinz und Heisenberg betrachtet den Bankraub gleichsam als Ausgleichssport zum Dauerlauf. Beide Sportarten übt er mit höchster Intensität aus. Die Getriebenheit und die Tragik der langen letzten Flucht dieses Mannes waren es, die den Regisseur an der Geschichte faszinierten. Heisenberg, der 2005 mit der reflektierten Post-9/11-Studie Schläfer auf sich aufmerksam machte, wurde von der Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion, die im selben Jahr die Option an dem Roman erworben hatte, mit der Verfilmung beauftragt. Vom realen Hintergrund der Geschichte erfuhr Heisenberg erst nach der Lektüre des packenden Romans. Sein Wunsch war es, das Drehbuch gemeinsam mit Autor Martin Prinz zu entwickeln.

Zur Inspiration vertieften sich die beiden in The Getaway (Sam Peckinpah, 1972) und Thief (Michael Mann, 1981), lösten einzelne Schlüsselszenen aus dem Roman heraus und überzogen das Skelett mit filmischem Gewebe, unter anderem mit einer im Roman nur angedeuteten Liebesbeziehung des Räubers. Über die Mischung aus realen und fiktiven Elementen sagt Heisenberg in einem Interview mit der Austrian Film Commission: „Um den realen Menschen Kastenberger noch stärker zu erzählen, hätte man eine viel pathologischere Figur erzählen müssen. Ich fand die Liebesgeschichte, den Aspekt des Sportlichen und den Raub als Herausforderung so interessant, dass es mir wichtiger war, gewisse Pathologien der Figur zugunsten einer durchlässigeren Lebendigkeit zu opfern.“

Von der umwegreichen Arbeit am Drehbuch war bereits ausführlich in „ray“ 07+08/07 die Rede, zweieinhalb Jahre später wurde das Endprodukt in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen. Der für die Titelrolle ausgewählte Andreas Lust musste vor und zwischen den Drehblöcken im Frühjahr und Herbst 2008 ein monatelanges Dauerlauftraining absolvieren, um die Figur des Rettenberger tatsächlich verkörpern zu können (hier trifft der oft sinnwidrig verwendete Begriff). Glaubwürdig und locker auszusehen, während man beim Vienna City Marathon den Anschluss zum Spitzenfeld nicht verlieren darf oder auf einem Bergmarathon-Anstieg gleich mehrere Mitläufer überholt, geht ohne korrekten Laufstil und aufwändiges Training nicht.

Er muss, weil er kann

Beim Einlaufen für den „ray“-Fototermin eine Woche vor Weihnachten erinnert sich Andreas Lust, wie sein Lauftrainer Martin Prinz oft „in aller Herrgottsfrüh“ an der Haustür Sturm läutete, um ihn zu einem regennassen Long Jog aus dem Bett zu holen. Prinz lächelt und zieht als Antwort das Tempo an. Später, im „Konstantin-Eck“ neben der Bowlinghalle an der Prater Hauptallee, sprechen die beiden über die Psychologie, oder vielmehr, über die Antipsychologie der Hauptfigur. Heisenberg hatte Lust erklärt, er solle die Figur wie einen Puma in freier Natur anlegen: absichtslos, abstrakt. Für Lust, der bislang eher dazu neigte, seine Figuren stark inhaltlich aufzufüllen, war das ein schwieriger Lernprozess. „Benjamin hat einen Trick verwendet, um mich davon abzubringen. Er hat immer zwei Versionen eines Takes gedreht: eine gespielte und eine, in der ich möglichst wenig gespielt habe“, erzählt Lust. „Schließlich ist mir klar geworden, dass das kein Charakter ist, sondern eher ein Symbol für Energie. Er muss, weil er kann. So wie mein acht Monate alter Sohn plötzlich im Bett steht, weil er eben kann.“ Das Zwanghafte an der Figur interessiert auch Martin Prinz: „Jeder Mensch hat sein Muster. Das Muster des Räubers macht die harmloseren Muster auch der anderen sichtbar.“

Zwischen der sportlichen Weiterentwicklung, die ja zumeist positiv konnotiert ist, und dem Hang der Figur zu persönlicher Selbstzerstörung könne man einen Widerspruch erkennen oder auch nicht, so Benjamin Heisenberg: „Der Sport ist bis zu einem gewissen Grad selbstquälerisch, und man hat gleichzeitig darin Glücksmomente. Der Moment des Sieges ist zwar ein toller Moment, ich glaube aber, dass für einen Sportler der Moment des Glücks und der Befriedigung woanders liegen muss als im Sieg. Es geht um die Tätigkeit selbst, im Marathonlaufen auch um die Form der Fortbewegung. Marathon ist ja eine Form des Durchquerens von sehr viel Raum aus eigener Kraft.“ Der Raub wiederum sei eine Form des Durchbrechens von gesellschaftlichen Grenzen: „Die Vereinzelung, die ja auch im Marathon steckt, findet noch mal auf ganz andere Weise statt, weil man von einem Moment auf den anderen aus dem Wertegefüge der Gesellschaft kippt. Das ist Befreiung und Verbannung zugleich. Und für Rettenberger gilt: Er raubt nicht des Geldes wegen, es ist ein Ausdruck seiner Natur.“

Atemzüge

Zu Beginn des Films kommt Rettenberger aus dem Gefängnis. Seine Laufrunden muss er nun nicht mehr an der Gefängnismauer entlang ziehen, er kann durch die freie Wildbahn laufen. Doch nie gewinnt man den Eindruck, als wäre er fähig, sein inneres Gefängnis zu verlassen. Mit der Möglichkeit, sich wieder in die frühere Freundin (Franziska Weisz) zu verlieben, rechnet so einer nicht. Die wenigen Momente, in denen er versucht, sich ernsthaft auf sie einzulassen, werden rasch von neuen Endorphin-Orgien überlagert. Immer wieder fällt Rettenberger in sein „Lebenssinnlosigkeitsbewältigungssystem“ (Andreas Lust) zurück, als einzige Gefühlsentäußerung bleibt ihm der Jähzorn. Ein fataler Wutausbruch treibt den Fluchtfaktor seines Bewegungsdrangs schließlich in die Höhe.

So reduziert wie Andreas Lusts Rollengestaltung stellt sich, bei aller Kinetik, auch die Anlage des Films dar: dynamisch in den dynamischen Szenen, ruhig in Rettenbergers Ruhephasen. Das Drehmoment nutzend, ohne sich in Tempo-Sperenzchen zu verlieren. Die Kamera bleibt oft nahe bei ihm, so wie sie in einem Dokumentarfilm über einen Wolf oft nahe bei dem Wolf bliebe. Eine eigentümliche Schönheit entsteht aus dieser nüchternen Beobachtung und der pulsierend rhythmischen Montage energetischer Bewegungsabläufe. Fast hat man das Gefühl, der Film atmet selbst den rasenden Stillstand dieses Mannes, der die Freiheit in seiner Existenz nicht finden kann.