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Ein russischer Sommer / The Last Station

Filmkritik

Ein russischer Sommer

| Michael Ranze |

Rekonstruktion der letzten Lebensmonate Leo Tolstois

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Leo Tolstoi (1828–1910), Autor von Weltliteratur wie „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“, zusammen mit Fjodor Dostojewski wohl der berühmteste Schriftstellers Russlands, mehr als das: ein geistiger Führer, der seinen Anhängern, den sogenannten Tolstoianern, Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit predigte. Der neue Film von Michael Hoffman (One Fine Day) rekonstruiert nun, basierend auf dem Roman „Tolstois letztes Jahr“, die letzten Monate im Leben des Schriftstellers. Dabei konzentriert er sich zum einen auf den Ehekrieg zwischen Tolstoi und seiner Frau Sofia, zum anderen auf sein literarisches Erbe, das der Öffentlichkeit gehören soll.

Ehekrieg? Dabei hatte es so idyllisch begonnen: Sofia (Helen Mirren) legt sich zu ihrem schlafenden Mann (Christopher Plummer) und legt ihm die Hand auf die Brust. Ein Bild der Verbundenheit, das man im Hinterkopf behalten muss, will man die folgenden Konflikte richtig einordnen. Sofia ist seit 48 Jahren mit Tolstoi verheiratet, 13 Kinder hat sie ihm geboren, sechs Mal hat sie „Krieg und Frieden“ abgeschrieben. Nun besteht sie mit Nachdruck darauf, dass die Rechte an seinen Romanen ihr und der Familie zufallen. Wladimir Tschertkow (Paul Giamatti) – engster Vertrauter Tolstois und Anführer der Tolstoianer – setzt hingegen alles daran, dass der alte Mann die Rechte der Allgemeinheit überlässt. Zwischen die Stühle gerät Tolstois neuer Sekretär Walentin Bulgakow (James McAvoy), der soeben auf Jasnaja Poljana, dem Landsitz des Dichters, angekommen ist und nun beide Parteien im Auftrag der jeweils anderen ausspionieren soll. Tolstoi ergreift vor den heftigen Auseinandersetzungen die Flucht und verlässt Jasnaja Poljana. Doch auf der Reise erkrankt er schwer, der Bahnhof von Astapowo wird – so die Übersetzung des Originaltitels – „die letzte Station“. Hier ist Tolstoi am 20. November 1910 gestorben.

Das Ensemble bietet ganz großes Schauspielerkino. Bewundernswert, wie Helen Mirren einer Furie gleich durch die Flure fegt, sich mit Christopher Plummer wortreich duelliert und Paul Giamatti zur Schnecke macht. Plummer hingegen thront mit weißem Bart und langen Haaren wie ein Buddha über dem Geschehen – weise, gelassen und manchmal auch pathetisch. Neben diesen grandiosen Darstellerleistungen gibt es noch anderes zu entdecken: die wortreichen Diskussionen der Tolstoianer, die auch Jasnaja Poljana bevölkern, und der Medienrummel um Tolstoi, der die Sensationsgier und den Starkult von heute vorwegnimmt.