ray Filmmagazin » Themen » The Lovely Bones – Der erste Kreis des Himmels
The Lovely Bones

The Lovely Bones

Der erste Kreis des Himmels

| Jörg Schiffauer |

Mit „The Lovely Bones“ ist Peter Jackson ein ebenso ungewöhnlicher wie beeindruckender Film gelungen.

Werbung

Es ist eine geradezu idyllische Kindheit, die die 14-jährige Susie Salmon (Saoirse Ronan) 1973 in Norris-town, einem malerischen Vorort von Philadelphia, verbringt. Mit ihren Eltern, die ihre Kinder im liberalen Geist der 68er-Generation erziehen, verbindet sie ein liebevoll-freundschaftliches Verhältnis, auch mit ihren beiden Geschwistern versteht sie sich gut. Susie ist ein fröhliches, aufgewecktes und kreatives Mädchen, noch voll kindlich-unbefangener Neugier, das jedoch auch schon die positiven Seiten des Heranwachsens durch eine sich abzeichnende erste Liebe erfahren darf. Doch schon nach wenigen Filmminuten wird der Zuschauer aus dieser idyllischen Atmosphäre gerissen, Susie wird nichts mehr von der Welt erfahren dürfen, denn – ihre Stimme aus dem Off verkündet es selbst – sie wird das Opfer eines sadistischen Kindermörders. Es ist ausgerechnet der nur etwas kauzig wirkende Nachbar George Harvey (Stanley Tucci), der das kindliche Urvertrauen, das Susie noch besitzt, eiskalt ausnützt, um das Mädchen in ein vorbereitetes Versteck zu locken und brutal zu töten. Die Exposition mit den idyllischen Bildern von Susies glücklichen Familienleben mutiert zu einem qualvollen Warten auf den angekündigten unausweichlichen Moment ihrer Ermordung. Für ihre Eltern ist dies jedoch der Beginn eines jahre-

langen Albtraums, denn Susies Leichnam wird nie gefunden, zum Verlust der Tochter kommt nun auch noch die quälende Ungewissheit über deren Schicksal hinzu. Susie befindet sich nach ihrem Tod im Jenseits, einer harmonischen Welt, die – Susies Fantasie folgend – geradezu paradiesisch schöne Gestalten annimmt. Doch zu plötzlich war Susies gewaltsamer Tod, als das sie ganz von ihrem irdischen Leben loslassen könnte, in flüchtigen Impressionen verfolgt sie, wie ihre Familie vergeblich versucht, den Verlust zu verarbeiten. Und Susie bemerkt, dass sie durch ihr Festhalten noch nicht im Himmel angekommen ist, sie befindet sich in einer Art von Zwischenwelt, die neben aller Schönheit auch furchterregende Visionen für das Mädchen bereithält. Erst wenn man bereit ist – so wird Susie erfahren –, sich von seinem irdischen Dasein zu verabschieden, wird man den Weg in den richtigen Himmel finden können. Doch das Loslassen fällt Susie schwer, sieht sie doch nicht nur den Schmerz ihrer Angehörigen, sondern auch ihren Mörder, der noch immer nicht für seine Tat zur Rechenschaft gezogen wurde und auf der Suche nach seinem nächsten Opfer Susies Schwester ins Visier nimmt.

Die phantastischen Welten des Peter Jackson

Betrachtet man den Plot von The Lovely Bones, könnte man auf den ersten Blick meinen, einem Hybrid aus Familiendrama, Thriller und überbordender Fantasy-Geschichte gegenüberzustehen, die sich nur schwer in eine brauchbare Form bringen lässt. Allein dem Versuch, das Jenseits abseits satirischer Darstellungen in Bilder zu fassen, droht die eminente Gefahr, zwischen Banalität und Verkitschung zu scheitern. Doch der Adaption des als eigentlich unverfilmbar geltenden Romans von Alice Sebold hat sich mit Peter Jackson einer der kreativsten Visionäre des gegenwärtigen Kinos angenommen und – um es gleich einmal vorwegzunehmen – es ist ihm auf brillante Art und Weise gelungen. Es erscheint angesichts des gigantischen Erfolges, den Jackson mit den Blockbusters seiner The Lord of the Rings-Trilogie verbuchen konnte, ein wenig paradox, doch man muss zunächst einmal bereit sein, sich auf Peter Jackson und seine Welten einzulassen. Das gilt wie für alle seine Filme auch für The Lovely Bones, denn am kleinsten gemeinsamen Nenner des Mainstream-Geschmacks haben sich Jacksons Inszenierungen noch nie orientiert. Mit der Rezeption eines Jackson-Films betritt man nämlich immer auch ein idiosynkratisches Universum, das der gebürtige Neuseeländer in jedem seiner Filme entwirft. Die Welten des Peter Jackson sind zwar durchaus unterschiedlicher Ausprägung – das Spektrum reicht da von bizarr-skurril in seinen frühen Low Budget-Arbeiten Bad Taste (1987) und Braindead (1992) über das erschreckend reale Grauen in Heavenly Creatures (1994) bis hin zum ultimativen Fantasy-Epos The Lord of the Rings –, sie sind jedoch immer eigenwillig, bildgewaltig und unglaublich detailreich.

Es trägt vermutlich nicht unwesentlich zu Peter Jacksons singulärer Position als Filmemacher bei – ganz abgesehen davon, dass sich die Manie des geradezu besessenen Filmemachers Jackson in jedem Kader niederschlägt –, dass er seine fantastischen Welten mit einer Kompromisslosigkeit  sondergleichen umzusetzen pflegt und sich dabei wenig um erzählerische Konventionen oder zeitgeistige Trends schert. Das hat manchem seiner Filme Kritik in Richtung Naivität und Gigantomanie eingetragen, doch Jacksons Hang zum Phantastischen entspringt eher einer fast kindlichen Unbefangenheit gegenüber Neuem und Unbekanntem und der Bereitschaft, sich darauf einmal einzulassen – eine Herangehensweise, die er offensichtlich mit Steven Spielberg teilt, der bei The Lovely Bones als Executive Producer fungiert. Peter Jacksons Filme sind jedoch trotz all ihrer fantastischen Elemente keineswegs naiv oder gar eindimensional.

So greift The Lovely Bones eine ganze Reihe ernster Themen wie Verlust, Trennung und das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit auf, und es spricht für Jacksons Inszenierung, dass es ihm gelingt, derartige Motive mit einem phantastischen Element, wie eben die Darstellung des Jenseits, zu verknüpfen. Jacksons Vision des Himmels reiht sich da durchaus in seine Vorstellung von Harmonie und Schönheit ein, wie sie sich auch in seinen bisherigen Arbeiten manifestierte. Da blühen dann die Wiesen und Felder, über die bunte Vogelschwärme ziehen, in besonders intensiven Farben, dazu formt die eigene Vorstellungskraft der Protagonistin noch ihre neue Zwischenwelt. Das mag man, isoliert betrachtet, als kitschig abtun, im Gesamtkontext von The Lovely Bones macht Jacksons Konzeption jedoch durchaus Sinn und erscheint keineswegs als pittoreske Banalität.

Ordnung und Chaos

Es wäre jedoch eine zu kurz greifende Auslegung von Peter Jacksons Arbeiten, würde man seine Suche nach Eindruck hinterlassenden Bildern für seine erzählerischen Universen auf eine Suche nach Harmonie und plakativen Schauwerten reduzieren. Natürlich ist das Streben, seinen eigenen Platz in der Welt zu finden und dabei einen gewissen Gleichklang herzustellen, in Jacksons Werk ein zentrales Motiv. Doch mindestens ebenso große Bedeutung kommt dabei dem Konflikt zu, der bei dem Versuch, diesen Platz behaupten zu dürfen, entsteht, und dieser Konflikt ist beinahe ein Dauerzustand in den Welten des Peter Jackson. Ordnung und Chaos, Harmonie und Konflikt, Schönheit und Hässlichkeit sind jene Gegensatzpaare, die permanent aufeinanderprallen und die dabei entstehenden Auseinandersetzungen sind an Schrecklichkeit kaum zu überbieten.

In der Lord-of-the-Rings-Serie zerstört die dunkle Kraft des Rings die funktionierende Ordnung von Mittelerde, in seiner Version von King Kong (2005) verweist Jackson auf die katastrophalen Konsequenzen, die daraus entstehen, dass der Riesenaffe aus seinem Dschungel entführt wird.

Eine zentrale Rolle nimmt dieser Konflikt jedoch bereits in Heavenly Creatures (1994) ein. Basierend auf einem realen Kriminalfall erzählt Jackson die Geschichte zweier 15-jähriger Mädchen, die im Neuseeland der Fünfziger Jahre ihrem lieblosen und spießigen Alltag nur durch die Flucht in Tagträume entkommen können. Als diese Ausflüge in die Traumwelt intensiver werden und die Mädchen immer mehr zusammenschweißen, greifen deren Eltern durch und beabsichtigen, die beiden zu trennen. Doch der Verlust ihrer Freundschaft erscheint den Mädchen als nicht hinnehmbarer Eingriff in ihr Leben, es kommt zur tödlichen Katastrophe.

In The Lovely Bones wird die harmonische Welt der Familie Salmon gleich zu Beginn durch einen ebenso unerwarteten wie brutalen äußeren Einfluss – den Mord an Susie – zerstört. Es erscheint wie der Zusammenprall allegorischer Figuren, wenn Susie, ganz reine Unschuld, auf ihren Mörder und damit auf das absolut und abgrundtief Böse trifft (eine so nachhaltig abstoßende Rolle, die man deshalb vermutlich länger mit Stanley Tucci in Verbindung bringen wird, als dem Mann lieb sein dürfte). Die Szene, in der das Mädchen von ihrem Mörder in das Versteck gelockt wird und so aus ihrem bisherigen Leben gerissen wird, hat Jackson mit einer unglaublich bedrückenden Intensität inszeniert.

Ordnung und Harmonie sind in The Lovely Bones damit hinweggefegt. Susies Familie kommt über den Verlust auch deshalb nicht hinweg, weil die genauen Umstände ihres Todes nie aufgeklärt werden. Susie selbst sieht aus ihrem Zwischenhimmel das Leid ihrer Eltern und Geschwister, was es ihr noch schwerer macht, von ihrem irdischen Dasein endgültig Abschied zu nehmen. Doch deshalb bleibt ihr der Weg in den „endgültigen“ Himmel vorerst versagt – und jeder Blick auf die wirkliche Welt kann ihre ansonsten so paradiesische Zwischenwelt in einem Albtraum verwandeln. Der Zusammenprall zwischen Schönheit und Schrecken macht auch vor dem (Zwischen-) Himmel nicht halt.

Obwohl man Peter Jackson spätestens seit The Lord of the Rings mit dem extensiven Einsatz von Technologie und Spezialeffekten zur Umsetzung seiner Visionen in Verbindung zu bringen pflegt, beweist er mit seinem neuen Film, dass er alles andere als ein technokratischer Regisseur ist, der primär opulente Schauwerte in den Vordergrund rückt. Dass Jackson ein Gespür für Schauspieler hat, bewies er schon bei Heavenly Creatures, als er eine der beiden Hauptrollen mit der damals noch völlig unbekannten Kate Winslet besetzte. Ein ebensolcher Glücksgriff ist Jackson in The Lovely Bones mit Saoirse Ronan gelungen, die ihre Rolle beeindruckend vielschichtig interpretiert und der man nach dieser Performance ohne viel Risiko eine ähnlich steile Karriere wie Kate Winslet prophezeien darf.

Überhaupt gelingt es Peter Jacksons Inszenierung in der schwierigen Gratwanderung zwischen Drama und Fantasy einen Erzählduktus zu etablieren, der gänzlich frei von Pathos, Sentimentalität oder Banalität bleibt. Zudem ist The Lovely Bones ein Film, der trotz all seiner bedrückenden Momente etwas Tröstliches zu vermitteln vermag, das weder aufgesetzt oder gar peinlich wirkt.

Christoph Schlingensief betitelte sein Buch, in dem er seine Krebserkrankung thematisierte „So schön wie hier kann‘s im Himmel gar nicht sein“. Zumindest mit The Lovely Bones dürfte das Peter Jackson ein wenig anders sehen.