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Romuald Karmakar

Diagonale | Romuald Karmakar

Die Dinge zur Kenntnis bringen

| Benjamin Moldenhauer |

Romuald Karmakar ist einer der wenigen, die es schaffen, Grenzbereiche zu erforschen, ohne dabei in die Dämonisierungsfalle zu tappen. Im Rahmen der diesjährigen Diagonale präsentiert der Filmemacher neben seinem aktuellen DJ-Porträt „Villalobos“ eine Auswahl seiner Filme, im Anschluss an das Festival startet eine umfassende Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

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Romuald Karmakar hat sein Handwerk im Dokumentarfilm gelernt, einem Genre, das meist als ein eher unfilmisches gilt. Um zu dokumentieren, so will es das unkaputtbare Klischee, müsse man einfach nur abfilmen, was ist. Es stellt sich allerdings die Frage, warum, wenn das so einfach wäre, bei den meisten dokumentarischen Arbeiten das Gefühl entsteht, man würde sich von den gezeigten Dingen eher entfernen, als dass man wirklich etwas von ihnen erfahren würde. Karmakar hingegen schafft in seinen Filmen etwas Außergewöhnliches, etwas, das für Dokumentationen eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber nur selten gelingt. Ein so weit wie möglich neutraler Blick – „es gibt ja nichts Neutrales“, weiß Karmakar –, der die Dinge zur Kenntnis bringt, anstatt uns vorzuschreiben, was wir von ihnen zu halten haben. Weder die Kamera noch ein wertender Kommentar nehmen dem Zuschauer die Arbeit ab. Sowohl die Dokumentar- als auch die Spielfilme zeigen uns die Menschen, von denen sie erzählen, anstatt sie präventiv zu erklären und einzuordnen.

Der dreistündige Warheads (1993) erzählt vom Handwerk eines britischen Söldners und eines ehemaligen Fremdenlegionärs. Die Nachfragen sind ruhig und interessiert und eben nicht „kritisch“. Man spürt, dass die Interviewten dem Filmteam vertrauen. Der Film nimmt sich Zeit und lässt seine Figuren in langen Einstellungen von ihrer Arbeit und aus ihrem Leben berichten. Die im Wortsinn unheimliche Ruhe von Warheads lässt Raum für Reflexionen, die im deutschen Kino ansonsten kaum aufgeworfen werden. Was wollen wir überhaupt gezeigt bekommen? Etwas, das wir nicht wissen wollten oder konnten, bis der Film es uns vor Augen geführt hat? Etwas, das wir schon wussten? Dass Gewalt eine schreckliche Sache ist zum Beispiel? Oder dass Menschen, die professionellerweise oder aus Leidenschaft Gewalt ausüben, fehlgeleitet und krank sind, jedenfalls wesenhaft anders als wir? Es ist genau diese Trennung, die Trennung zwischen dem guten Eigenen und dem bösen Anderen, die von Karmakars Filmen unterlaufen wird.

Das gilt nicht nur für die Dokumentar-, sondern auch für die Spielfilme, vor allem für den 1995 entstandenen Der Totmacher. Grundlage des Drehbuchs sind die Protokolle der Vernehmungen des siebzehnfachen Mörders Fritz Haarmann. Anstatt an die Tradition des Serial Killer-Films anzuschließen, inszeniert Karmakar sein Psychogramm Haarmanns als Kammerspiel auf engstem Raum. Sowohl Der Totmacher als auch Die Nacht singt ihre Lieder (2004), die Verfilmung eines Stückes von Jon Fosse, sind an der Schnittstelle von Theater und Kino situiert. Paradoxerweise wird insbesondere an diesen beiden Filmen offensichtlich, wie reflektiert und präzis Karmakar und sein Kameramann Fred Schuler arbeiten. Die spartanischen Mittel lassen das Geschehen auf den ersten Blick eher unfilmisch und theatralisch wirken. Erst beim zweiten Sehen wird deutlich, dass etwa die Kamera in Der Totmacher nicht nur die Rede der Figuren, sondern vor allem ihre Blicke festhält. Zwischen Psychologe, Mörder und Protokollant entsteht ein „Blickgeflecht“, das vom Sehen selbst erzählt: „Eine Kamera, die das Sehen sichtbar macht“, schreibt der Filmwissenschaftler Klaus Kreimeier über Der Totmacher, „ist natürlich viel mehr als eine Protokollinstanz.“  Auch für Die Nacht singt ihre Lieder, einem Porträt einer Liebesbeziehung im Auflösungsstadium, gilt, was schon Warheads und Der Totmacher nachhaltig verstörend hat wirken lassen: Man ist als Zuschauer immer mit gemeint. „Die meisten Leute wollen etwas mitkriegen, ohne davon etwas abzukriegen“, erklärte Karmakar 2004 im Interview mit der „taz“. „Wie in einem Panoptikum schaut man sich an, wie das ist in Südafrika oder im britischen Arbeitermilieu. Es werden Angebote gemacht, etwa in der Art, dass es mit einem selber bloß nichts zu tun hat. Aber es muss doch noch etwas anderes geben. Warum soll der Schmerz, der in der Liebesbeziehung steckt, nicht auch auf den Zuschauer übertragen werden?“ Diese Übertragung gelingt selbst noch in Manila (2000), dem einzigen der Spielfilme, der streckenweise dazu neigt, sich über seine Figuren zu erheben.

Filme, die die Verlagerung des Gewaltvollen oder Schmerzhaften in ein Außen nicht mitmachen wollen, haben es nicht immer leicht. Karmakar rückt die zwei Soldaten in Warheads, den Totmacher und das Paar in Die Nacht singt ihre Lieder in eine Nähe, die nicht nur beklemmend, sondern auch erkenntnisträchtig ist. Man muss selbst entscheiden, was man mit den Menschen auf der Leinwand anfängt. Bloß hält hier jemand, auch das ist selten, das Kinopublikum ganz offensichtlich für wach genug, um diese Entscheidung selbst zu treffen. Es hat es ihm nicht immer gedankt. Während der zahlreichen Publikumsdiskussionen zu Warheads waren die immer gleichen Bedenken zu hören: Karmakar hätte sich von seinen Hauptfiguren verführen lassen. Der Vorwurf der mangelnden Distanz hat die Filme seitdem begleitet.

Das Himmler-Projekt (2000) und Hamburger Lektionen (2006) bedienen sich zunehmend reduzierter filmischer Mittel. In Das Himmler-Projekt liest der Schauspieler Manfred Zapatka die gesamte Posener Rede Heinrich Himmlers vor, eines der raren Dokumente, in dem ein Mitglied der Nazielite von der Vernichtung der europäischen Juden spricht. Ohne den semiotischen Ballast, der sonst die Inszenierung der Kino-Nazis bestimmt, hört man nur auf den Text, auf das was gesagt wird – keine Kostüme, keine Kulisse, kein Pathos. Keine Dämonisierung und kein Todeskitsch. „Re-Konkretisierung“ nennt Karmakar das, also das Gewahrwerden von Dingen, die sonst hinter dem Nebel der selbstverständlich gewordenen filmischen Konventionen verborgen bleiben. Die spröde Ästhetik von Das Himmler-Projekt führt vor Augen, welchen Aufwand das deutsche Geschichtskino betreibt, um das Publikum emotiv zu lenken und so, vielleicht ohne es selbst zu ahnen, Gefahr läuft, ihm das Denken weitgehend abzunehmen. In Hamburger Lektionen liest Manfred Zapatka ein weiteres Mal die Mitschrift einer Rede vor, zwei Predigten des sogenannten Hasspredigers Muhammed Fazazi, der 2000 in einer Hamburger Moschee gesprochen hatte. Die weitgehende Vermeidung jeglichen semiotischen Ballasts – keine Vollbärte, keine uns exotisch erscheinende Sprachmelodie – der es uns ansonsten immer allzu leicht macht, das Geschehen von uns fernzuhalten, erlaubt es, sich auf den Text selbst zu konzentrieren. Wie auch schon in Das Himmler-Projekt wird man mit der Logik der Gewalt und den „Bildern hinter den Worten“ (Tobias Ebbrecht) allein gelassen. Dem Fernsehsender 3sat war das schon zu viel des Guten. Während der Ausstrahlung von Das Himmler-Projekt wurde am oberen Bildrand immer wieder eingeblendet, dass es sich um eine Inszenierung handle. „Damit kein Besoffener, der da um Mitternacht durchzappt, denkt, es ist schon wieder so weit“, hat Karmakar freundlich-resigniert kommentiert.

Das ist vielleicht die größte Qualität dieser Filme: Sie zeigen in auf den ersten Blick einfacher, bei genauerem Hinsehen aber überaus präziser Weise Menschen, deren Wirklichkeit im Kino, wenn überhaupt, dann nur verkleistert von etablierten und simplifizierenden Bildern auftaucht. Das gilt auch für 196bpm (2003), Between the Devil and the Wide Blue Sea (2005) und Villalobos (2009), drei Musikdokumentationen, die Musiker wie Ricardo Villalobos, Alter Ego oder DJ Hell in langen Kameraeinstellungen bei der Arbeit zeigen. Karmakar bringt in seinen Filmen die Dinge zur Kenntnis, nicht mehr und nicht weniger. Man fragt sich nur, warum er, wenn das angeblich so einfach sein soll, damit in der Filmlandschaft weitgehend allein steht.