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36 Ansichten des Pic St. Loup

Filmkritik

36 Ansichten des Pic St. Loup

| Barbara Fuchs |

Abschied und Tod prägen die morbide Zirkus-Geschichte von Altmeister Jacques Rivette.

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Da der Originaltitel im Französischen mehrdeutig aufgefasst werden kann („vues“ als Ansichten, Aussichten oder Kameraeinstellungen) muss das deutschsprachige Kinopublikum wohl mit einer vagen und wenig aussagekräftigen Übersetzung auskommen. Damit hat man auch sogleich die Quintessenz von Jacques Rivettes vielleicht letztem Film erfasst, denn wie in seinem bisherigen rätselhaften Werk lässt er die Zuschauer vorerst im Ungewissen: Ohne ein einziges Wort zu sagen, behebt Vittorio die Autopanne der ihm unbekannten Kate am Berg Pic Saint Loup. Als sie sich in einem Dorf erneut treffen, erfährt Vittorio langsam mehr über das Leben von Kate. Nachdem sie fünfzehn Jahre lang verschwunden war, ist sie vor drei Tagen in den Zirkus ihres plötzlich verstorbenen Vaters zurückgekehrt, um die Sommertournee fortzuführen. Ihr Vater hatte sie aufgrund eines Unfalls fortgeschickt. Vittorio ist fasziniert von dem Zirkus und der mysteriösen Kate. Er heftet sich an die Fersen der Truppe und möchte Kate mittels Schocktherapie zu ihrem Seelenfrieden verhelfen.

Erneut setzt Rivette einen Störfaktor – hier Vittorio – in komplexe Beziehungen voller Geheimnisse, die am Ende nicht gänzlich gelöst werden. Auch das Motiv des Theaters, das er seit seinem ersten Langfilm Paris nous appartient als Reflexionsmittel zum Filmgeschehen einsetzt, taucht in Form des Zirkus wieder auf. In 36 vues du Pic Saint Loup wird eine Nummer der Clowns im Laufe des Films fortgesetzt. Das spärliche Publikum gibt sich zurückhaltend, lachen kann nur Vittorio, der den Clowns mit Tipps à la „manchmal ist weniger mehr“ helfen möchte. Diese Aussage reflektiert den Film selbst, denn bei einer üblichen Dauer von zwischen zwei und zwölf Stunden ist dieser mit 84 Minuten äußerst kurz geraten. Rivette zeigt in Andeutungen zahlreiche Ausschnitte seines Werkes und lässt daraus ein stimmiges, sich selbst würdigendes Ganzes entstehen. Er spielt gekonnt mit den theatralen Auftritten seiner Schauspieler, die er zwischen ernsten Monologen und Slapstick wechseln lässt. Die Darsteller, allen voran Jane Birkin (Interview), agieren darin ein wenig unbeholfen. Birkin, deren Charme aber gerade dieser Unbedarftheit entspringt, hat mit Rivette bereits La Belle noiseuse am Pic Saint Loup gedreht. Für ihre dritte Zusammenarbeit sind sie in die pittoreske Landschaft zurückgekehrt, um einen morbiden, aber zugleich äußerst unterhaltsamen und berührenden Film zu liefern, der hoffentlich nicht das Testament von Jacques Rivette darstellen wird.