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Es muss was geben

Crossing Europe | Es muss was geben

In Linz begann's

| Didi Neidhart |

„Es muss was geben“ porträtiert die Linzer Musikszene seit den Siebziger Jahren. Wesentlich für den Gründungsmythos: die Punkband Willi Warma.

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Mitte der 1970er ist Linz ein nicht nur für Jugendliche trostloses Pflaster. Die Stadt an der Donau ist vor allem für ihre Industrie bekannt. Die aus den 1938 errichteten Reichswerken Hermann Göring und den Stickstoffwerken Ostmark hervorgegangenen Unternehmen VÖEST-Alpine und Chemie Linz AG prägen zusammen mit den im Dritten Reich errichteten und im Volksmund „Hitler-Bauten“ genannten Arbeiterhochhäusern das Stadtbild. Kulturell ist wenig los. Weltbekannt ist eigentlich nur die Linzer Torte. Zudem ist Linz erst seit 1966 Universitätsstadt. Um vom Stahlstadt-Image wegzukommen, erinnert man sich an den in Linz tätigen Anton Bruckner und eröffnet 1974 das Brucknerhaus an der Donaulände. Fünf Jahre später findet die erste Ars Electronica statt. Natürlich hat Linz auch eine Popmusikszene mit den symphonischen Progressive-Rockern Eela Craig und dem Ö3-Hitparaden-Duo Waterloo & Robinson als exemplarische Aushängeschilder. Beides jedoch nichts, mit dem man seine Jugend verschwenden will.

Ende 1976 besuchen die Klassenkameraden Kurt Holzinger und Peter Donke ein Konzert im Katholischen Schülerzentrum STUZ, dem einzigen Jugendtreff mit Niveau und interessanten Kids in der verschlafenen Donaustadt Linz.

Von besonderem Interesse für Donke und Holzinger ist an diesem Abend der Solo-Gitarrist der auftretenden Band Julius Zechner. Eigentlich ein großer Verehrer von Johnny Winter, hat er wie kein zweiter die Riffs und Soli von Iggy & The Stooges zu deren „Raw Power“-Zeit verinnerlicht. Zudem fesch, nett, offen schwul und stolz darauf. Prompt wird er der Band entwendet, wenig später werden zusammen mit dem Drummer Christian Unger, der nicht nur ein Schlagzeug, sondern auch ein sogenanntes Jagdzimmer als Proberaum in der väterlichen Villa besitzt, die ersten gemeinsamen Songs eingeprobt.

Jetzt fehlt nur noch ein Name. Wie es der Zufall so will, war Julius Zechner im Sommer 1977 in London und berichtet von einem Sex-Shop-Besuch, bei dem er gehäkelte Schwanzwärmer namens “Willie Warmer” entdeckt und gekauft hatte. Der Name war gefunden: Willi Warma – gleichzeitig geheimnisvoll wie verrucht, auf Punk wie auf Glamrock verweisend und darüber hinaus so sexy wie sonst nichts in der damaligen österreichischen Musikszene.

Wenn Pop meint, immer mehr zu wollen, als das Leben hergibt, und Punk dafür steht, alles zu wollen, nur nicht zu wissen was, dann gilt für Willi Warma beides. Punk als Idee von Pop und Pop als Idee von Punk macht hier den Blick frei auf jene übersehenen subversiven Pop-Potenziale, auf die sich auch die vermeintlichen direkten Vorbilder (Velvet Underground/Lou Reed, The Stooges, The Kinks, New York Dolls, David Bowie) beriefen. Beat war dabei ebenso wichtig wie Sixties-Girlgroups, Rhythm & Blues, Glam- und Pub-Rock oder Phil Spector. Mittlerweile ein vertrauter Kanon, zu Zeiten von Willi Warma für viele ein noch zu entdeckendes Wunderland.

In diesem allgemeinen Aufbruchsgeist wird mit dem nahe der Nibelungenbrücke in Alt-Urfahr Ost gelegenen ehemaligen Tanzpalast Café Landgraf eine idealer, ebenso heimelig-zerschlissener wie trashig-altmodischer Auftrittsort entdeckt, der sich binnen kurzer Zeit vom Treffpunkt für einsame Schachspieler zum Hot Spot der Linzer Punk-, New Wave- und Underground-Szene wandelt. Willi Warma spielen dort erstmals im Februar 1978, wenig später wird das Lokal zum Band-Domizil. An der Theke gibt es „Willi Warma Brötchen“, die Jukebox wird mit Stooges, Velvet Underground und genau jenen Rock ’n’ Roll-Singles bestückt, die auch in Martin Scorseses Mean Streets den Soundtrack zum desperaten Nightlife liefern.

Die „Landgraf“-Szene besteht aus einem so unvergleichlichen wie schwer unter einen Hut zu bringenden Sammelsurium zwischen Bohemia und Academia, zwischen Lehrlingen, (Mittel-)SchülerInnen, StudentInnen, (Lebens-)KünstlerInnen, Freaks und Teenies. Willi Warma treten ja nicht nur im Café Landgraf auf. Sie spielen ebenso auf der Linzer Kunstuni und pflegen gute Kontakte zum Linzer Maler, Experimentalfilmer und überzeugten Velvet Underground/The Stooges-Fan Dietmar Brehm, bei dem sie nicht nur in der Wohnung auftreten, sondern der sie auch in einem seiner Filme verewigt. Auch über den kurzzeitigen „Band-Manager“ Bernhard Praschl und den Filmemacher, Kameramann und Andy Warhol-Fan Wolfgang „Lewo“ Lehner ergeben sich (speziell auch nach der Besetzung der hinter dem Café Landgraf gelegenen Stadtwerkstatt 1979) Connections, Transfers und Überschneidungen zwischen Rock ’n’ Roll, Underground-Filmen und Pop-Art, von denen hierzulande sonst nur gelesen werden konnte, dass es so etwas anderswo gibt. Gerade durch diese mannigfaltigen Referenzfelder und sich überschneidenden Linien eröffnen sich nicht zuletzt auch Punk bzw. Popkultur allgemein als etwas, das sich nun auch – sozusagen hautnah – jenseits des ausschließlichen Musikgenusses erschließen lässt. Die Aufbruchsstimmung in Linz Ende der 1970er lässt sich nicht allein an Musik festmachen, sondern erklärt sich viel eher auch durch das Vermischen, Durchmischen und Durchdringen kurzfristig durchlässiger Szenen und Milieus mit Willi Warma als alles beschleunigendem Kulminationspunkt. Kurz: Linz (bzw. Alt-Urfahr Ost), Willi Warma und das Café Landgraf sind für gut zwei Jahre der heißeste Scheiß in der Alpenrepublik.

1980 erscheint auf der in blauem Vinyl gehaltenen „Donau-strand“-EP mit „Streetcorner Hero“ das erste offizielle (noch in Englisch gesungene) Tondokument von Willi Warma. Die von Ronnie Urini produzierte Single (mit dabei auch The Vogue, Tom Pettings Hertzattacken und Miss Molly’s Favourites) verkauft sich gut und binnen Kurzem avancieren Willi Warma zur „einzigen österreichischen Rock ’n’ Roll-Band, die auch wie eine Rock ’n’ Roll-Band aussah“ (wie der „Wiener“ schrieb).

„Die arroganteste Band im Land“ („Wiener“) erkennt rasch die Zeichen der Zeit und tauscht kurzerhand die bisher in Englisch gehaltenen Texte durch deutsche aus. Geschult durch den Sozialrealismus der Kinks, aber selber auch nicht gerade unbelesen, schreibt Kurt Holzinger nun Texte, die nicht nur ein Zeitgefühl einfangen und kommentieren, sondern auch dem Gewusel an Erfahrungen, Erlebnissen, Frustrationen, Wahrnehmungen, Wünschen und Entfremdungen einer ganzen Generation eine Artikulationsmöglichkeit geben. Beste Popmusik war schon immer ein stellvertretendes Sprechen für andere bei gleichzeitigem Aufruf zur Selbstermächtigung. Ein wilder Mix aus zusammengeklaubten und herausgerissenen Zeitungstexten, Fernsehvormittagen, Kinofilmen, Popsongs, Werbeslogans, alltäglichen Phrasen und Parolen.

Den Höhepunkt bildet dabei „Stahlstadtkinder“. Hier zeigt sich das ganze Potenzial der Band – und damit geben sie einer ganzen Szene eine unverwechselbare Hymne. Ein Song, mit dem sich alle dissidenten Stahlstadtkinder sofort identifizieren können. Jedoch findet die Single nur sehr schleppend ihren Weg in die Läden. Zusätzlich wird die neue Linz-Hymne von Ö3 (angeblich nach einer Sitzung des Linzer Gemeinderats zum Thema Willi Warma, „Stahlstadtkinder“ und des dadurch möglichen Imageschadens für die Stadt) auf den Index gesetzt.

Auch nix wird es mit „Niemand hilft mir“, der Willi Warma-Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Konrad Bayer. Dieser intuitive Weitblick (zumal auf ein Gedicht, das an sich schon ein Poptext avant la lettre ist), der Rolf Dieter Brinkmanns „Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs“ sozusagen umdreht, wird stattdessen unter dubiosen Umständen zu einem Ronnie Urini-Hit. Willi Warma – immer noch ohne Plattenvertrag – bleibt der Mythos. Geschenkt.

Kurz nach dem angewavten Single-Flop „Dein Vater ist gegen uns“ wirft Gitarrist Julius Zechner (der zu diesem Zeitpunkt auch als Kellner im legendären Linzer Künstler- und Schwulen-Treffpunkt Badcafé tätig ist) das Handtuch. Als flamboyante wie famose „Doris Gay“ macht er später bei der Drag-Queen-Truppe „La Rabiata“ die gay eighties in Linz zu einem unvergesslichen Erlebnis. Julius Zechner stirbt im Frühjahr 1992 an den Folgen von AIDS. Willi Warma lösen sich Anfang 1983 nach einem Konzert in Nürnberg während der Heimfahrt nach Linz auf.