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The Blind Side

The Blind Side

Der sanfte Riese

| Jörg Schiffauer |

„The Blind Side“, die Verfilmung der außergewöhnlichen Lebensgeschichte des Football-Stars Michael Oher, wurde zu einem Überraschungserfolg.

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Am 25. April 2009 wurde im Draft der National Football League – dem alljährlichen Auswahlprozess des US-amerikanischen Profi-Footballs, bei dem die Mannschaften der NFL die talentiertesten jungen Spieler verpflichten – an 23. Stelle dieses Rekrutierungsverfahrens Michael Oher von den Baltimore Ravens unter Vertrag genommen. Eigentlich keine Meldung von besonderem Nachrichtenwert, denn Oher galt schon in den vier Jahren, die er im Rahmen seiner Studienzeit in der Mannschaft der Universität von Mississippi gespielt hatte, als Ausnahmetalent auf der Position des „Left Tackle“. Auch die Tatsache, dass Michael Oher seinen Weg gemacht hatte, obwohl er – einmal vorsichtig formuliert – in tristen Verhältnissen aufgewachsen war, wäre noch keine wirkliche Besonderheit gewesen, sind doch in den Vereinigten Staaten herausragende athletische Fähigkeiten und die damit verbundene Chance auf eine Karriere im Profisport für Angehörige sozial schwacher Schichten oft die einzige Chance, Armut hinter sich zu lassen und den sozialen Aufstieg zu schaffen. Doch die Biografie des Michael Jerome Oher ist ein wenig komplexer als die übliche Geschichte vom Aufsteiger, der sich mit Zähigkeit und dem unerschütterlichen Glauben an sich selbst einfach über alle Widerstände hinwegsetzt. Sie war sogar so außergewöhnlich, dass seine Geschichte schon Gegenstand eines Buchs („The Blind Side: Evolution of a Game“) und der eingangs erwähnten Verfilmung ist, obwohl der Protagonist noch nicht einmal 25 Jahre alt ist.

Dabei schien Michael Oher schon auf dem direkten Weg ins gesellschaftliche und soziale Abseits. Von seiner drogenabhängigen Mutter völlig vernachlässigt, wurde er zwischen Waisenhäusern und Pflegefamilien hin- und her geschoben, wechselte elf Mal die Schule und musste sich zwischenzeitlich auch als Obdachloser auf den Straßen von Memphis durchschlagen, ehe er dank der Vermittlung eines Bekannten auf einer privaten, konfessionellen Schule aufgenommen wurde. Doch der mittlerweile sechzehnjährige Oher war zunächst hoffnungslos überfordert, ein Schulabschluss schien völlig unmöglich. Doch dann fiel der junge Mann mit der riesenhaften Gestalt, der zumeist allein, verloren und ziellos über den Schulhof schlenderte, dem Ehepaar Tuohy, deren Kinder dieselbe Schule besuchten, auf. Kurzerhand beschlossen die beiden, Michael bei sich aufzunehmen, sich um ihn zu kümmern und ihn schließlich sogar zu adoptieren. Was ohnehin ein außergewöhnliches Maß an sozialer Verantwortung darstellte, bekam im US-amerikanischen Süden eine zusätzliche Dimension der besonderen Art, zählten die Tuohys doch zur (weißen) Upper-Class von Memphis, Michael Oher ist dagegen afro-amerikanischer Abstammung.

Aufrechte Amerikaner

Das Zusammentreffen Ohers mit der Familie Tuohy bildet dann auch den Ausgangspunkt des Films The Blind Side. Es ist eine Geschichte, der man – wäre sie nicht tatsächlich so abgelaufen – ankreiden würde, die soziale Realität geradezu naiv beschönigend zu zeichnen. Fast völlig friktionsfrei verläuft das Zusammenwachsen der von ihrer Herkunft doch so unterschiedlichen Charaktere, Spannungen und Probleme werden auf eine vorbildlich konsensuale Art und Weise zielorientiert gelöst.

Dabei vermeidet Regisseur John Lee Hancock jedoch weitgehend jedes Pathos oder peinlich wirkende Glorifizierungen. Seine unaufgeregte, ruhige und betont unspektakuläre Inszenierung würde man viel eher in einem für das Fernsehen produzierten Doku-Drama vermuten als in einem Hollywood-Film. Seine Hauptfiguren werden dabei überraschenderweise von jenen gängigen Klischees ferngehalten, die man in Verbindung mit einem derartigen Stoff fast schon befürchten muss. Sean und Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock wurde für ihre Darstellung der resoluten Karrierefrau und Mutter mit einem Oscar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet) sind dann auch keine karitativen oder religiös motivierte Eiferer, sondern einfach engagierte Bürger, die einen ausgeprägten Sinn für die Community, in der sie leben, entwickelt haben. Sie entsprechen damit dem Bild des aufrechten Amerikaners – oder vielmehr jenem, das die Mehrzahl der US-Bürger so gerne von sich selbst zeichnet und das etwa James Stewart gleichsam ikonografisch zu verkörpern verstand: jemand, der/die einfach einen Instinkt dafür hat, das Richtige zu tun. Michael Oher selbst ist – zumindest The Blind Side zufolge – ein außergewöhnlicher Charakter. Denn trotz seiner hünenhaften Erscheinung und seiner gewaltigen physischen Kräfte ist er ein ungewöhnlich sanftmütiger Charakter, der trotz seines schweren Schicksals keine Spur von Aggressivität gegenüber seiner Umwelt entwickelt hat. Selbst auf dem Football-Feld lässt er zunächst jede Aggressivität vermissen – was für diesen Sport nicht gerade die ideale Voraussetzung ist –, es bedarf schon einiger psychologischer Tricks, um ihn zumindest zum regelkonformen Einsatz seiner Körperkräfte zu bringen. Recht treffend vergleicht ihn seine Ziehmutter Leigh Anne wiederholt mit Ferdinand, dem sanften und gutmütigen Stier aus dem gleichnamigen Kinderbuch. Doch Oher bewältigt auch diese Hürde, wird zum Star seiner High School, die Cheftrainer der besten College-Teams stehen Schlange, um dem jungen Mann eines der heiß begehrten Sportstipendien anzubieten, schlussendlich entscheidet er sich für jenes der Universität von Mississippi, der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte.

Überraschungserfolg

Doch die Erfolgsgeschichte blieb nicht auf Michael Oher beschränkt, spielte doch The Blind Side allein in den Vereinigten Staaten bislang mehr als 250 Millionen Dollar ein, was vermutlich alle Erwartungen bei weitem übertraf. Warum ein Film, der aufgrund mangelnder Konflikte dramaturgisch ohne besondere Höhen und Tiefen auskommen muss und mit Sandra Bullock nur einen Starnamen mit im dramatischen Fach beschränkter Wirkung aufweisen konnte, zu einem der größten Überraschungserfolge der letzten Jahre wurde, bedarf wohl einiger Erklärungsversuche. Einer der Erfolgsfaktoren ist mit Sicherheit die enorme Popularität, die Football in den USA genießt und die damit zusammenhängende enge Verbindung von Sport und Entertainment. Die unglaubliche Karriere des Michael Oher zählte schon während seiner Zeit an der Universität von Mississippi – College-Sport ist dabei der emotionale Favorit der ohnehin sportverrückten US-Amerikaner gegenüber den Profiligen – zu den Dauerbrennern sämtlicher Sportjournalisten, die Geschichte verfügte also über einen enormen Bekanntheitsgrad. Ein Vorteil in den USA, der dem Film in Europa fehlen dürfte.

Zudem hat die positive Botschaft der Geschichte gerade in Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise und allen damit verbundenen Ängsten vom sozialen Abstieg sicherlich auch einen Nerv getroffen. Trotz seiner optimistischen Grundstimmung blendet The Blind Side nicht aus, dass so etwas wie ein soziales Netz in den Vereinigten Staaten kaum vorhanden ist. Schlussendlich bleibt es aber – ganz im Sinn der in den USA weit verbreiteten protestantischen Tradition – engagierter Eigeninitiative vorbehalten, systemische Defizite aufzufangen. Für Michael Oher hat dieses Rettungsnetz – offenbar ganz zum Gefallen des Publikums – glänzend funktioniert. Dass eine große Zahl von US-Bürgern dabei ins Bodenlose fallen könnte, bleibt in The Blind Side jedoch nicht mehr als eine Fußnote.