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Filmvertrieb – Nur zuschauen war gestern

Filmvertrieb

Nur zuschauen war Gestern

| Pamela Jahn |

Die Filmvertriebs- und Marketingszene befindet sich dank Web 2.0 im Umbruch: Crowd-Funding, digitale Vertriebskanäle, Video-on-demand-Plattformen und Virusmarketing setzen neue Standards.

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Es war wie verhext. Seit die beiden Debütanten Daniel Myrick und Edward Sanchez mit The Blair Witch Project vor gut zehn Jahren zunächst Amerika und kurz darauf den Rest der Welt das Fürchten lehrten, hat Hollywod es immer wieder versucht, das geschickt inszenierte virale is-it-real?-Marketingkonzept zu kopieren, mittels dessen die gefakte Low-Budget-Doku damals zum grandiosen Box-Office-Hit avancierte. Vergebens. Der damals so unglaublich wirksame Mix aus Hexenmythos, verschwundenen Studenten, erfundenen Gerüchten, zwiegespaltenen Kritiken und perfekt inszenierter Guerilla-Werbung, mit dem sich schon Monate vor dem eigentlichen Filmstart mehrere Millionen Internetnutzer und Mundpropaganda-Opfer wie mit einem Virus infiziert hatten, wollte sich offenbar nicht ohne weiteres neu aufkochen lassen. Dann kam Cloverfield, bei dem man schließlich versuchte, den Hype nach dem ungekehrten Prinzip hochzukurbeln, indem man vorab so gut wie gar keine oder sogar falsche Informationen im Netz verbreitete. Doch obwohl Matt Reeves’ Kreaturen-Thiller damit an den US-amerikanischen Kinokassen durchaus ordentliche Ergebnisse einspielte, blieb der Erfolg von The Blair Witch Project weiterhin ungeschlagen. Bis im vergangenen Herbst in Amerika ein Film eine neue Viruswelle lostrat, die alle bisherigen Word-of-Mouth-Kampagnen in den Schatten stellte: Paranormal Activity.

In Oren Pelis Mockumentary hat ein junges Pärchen mit einem bösartigen Dämon zu kämpfen, woraufhin sie kurzerhand beschließen, sich im Schlaf mit einer Kamera zu filmen, um damit etwaige paranormale Phänomene aufzeichnen zu können. Ähnlich wie bei den Vorgängerfilmen, strickte man auch hier im Vorfeld der Veröffentlichung einige hanebüchene Geschichten um den pseudodokumentarischen Grusel-Thriller, die sich via Blogs, Chats, Internetforen und Twitter-Nachrichten wie Lauffeuer im Netz verbreiteten. Demnach sollte etwa Steven Spielberg seine Sichtungskopie in einem Müllbeutel zurück ins Büro gebracht haben, nachdem sich während des Filmschauens die Türen seiner Villa wie von Geisterhand verschlossen hätten. Und auch wenn Oren Peli mittlerweile in Interviews eingestanden hat, dass „die Sache mit der Mülltüte“ lediglich ein Marketing-Gag gewesen sei, ist eine Tatsache nicht von der Hand zu weisen: Die 15.000 Dollar Produktion spielte landesweit innerhalb weniger Wochen über 100 Millionen Dollar ein und gilt damit nun als der „profitabelste Film aller Zeiten“, wie das Branchenblatt „Screen International“ unlängst bestätigte.

Paranormal Marketing

Ein genauerer Blick auf die Veröffentlichungsgeschichte lässt vermuten, dass sich auch der Erfolg von Paranormal Activity weniger in der Qualität des Films begründet, als vielmehr in der cleveren Marketing-Kampagne via Social Networks, kombiniert mit einer klug kalkulierten, regional begrenzten Veröffentlichung des Films in ausgewählten Programmkinos. Vertriebsveteran Thomas Mai sieht in Paranormal Activity zumindest in erster Linie „ein Paradebeispiel dafür, wie man mit der richtigen Strategie und Kreativität sein Publikum findet und damit Zuschauerzahlen maximiert“. Denn Peli und der US-Verleih Paramount Pictures setzten auf ein Modell, mit dem bisher ausschließlich Bands vermarktet wurden: Über die Internetseite Eventful.com konnten Zuschauer den Film „einfordern“, das heißt, kämen insgesamt genügend Stimmen zusammen, würde Paranormal Activity in ihrer Stadt gezeigt. Zudem startete der Verleih den Film Ende September mit Mitternachtsvorstellungen in 13 ausgewählten College-Städten, in denen eine hohe Dichte an jungen Horrorfans zu erwarten war. „Die Musikindustrie ist uns in dem Bereich fünf Jahre voraus“, sagt Mai, dessen eigene Verleihfirma Festival Darlings sich auf den digitalen Vertrieb auf Plattformen wie Video- und Cinema-on-Demand konzentriert. In der Musikbranche habe man längst begriffen, dass es nicht mehr in erster Linie um die Musik geht, sondern um den Event-Effekt und um den Hype, den man um das Produkt schafft. Ein weiterer entscheidender Erfolgsfaktor sei die emotionale Bindung der Fans an den Film: „Indem man ihnen die Möglichkeit gibt, in einen Bereich einzugreifen, der bis dato allein vom Verleiher kontrolliert wurde, schenkt man ihnen ein hohes Maß an Vertrauen“, sagt Mai, „und das zahlt sich eben aus.“ Binnen kurzer Zeit wurden die Vorführungen von Paranormal Activity auf 20 Städte ausgedehnt, Mitte Oktober kam der Film schließlich landesweit heraus. Dass der Kartenverkauf weitestgehend übers Internet lief, erwies sich für den Verleih ebenfalls als eine sinnvolle Sache, denn die Tickets waren zumeist schon vor den jeweiligen Kinostarts verkauft, egal, was Freunde, Kritiker oder Twitter im Nachhinein über den Film sagten. Aber auch das macht offenbar eine perfekte virale Marketing-Kampagne aus: Grundsätzlich sind positive wie negative News gut für den Hype. Hauptsache ist, man bleibt im Gespräch.

Filmbook

Die Frage ist nur, wie kommt man ins Gespräch? Denn die wenigsten jungen Filmemacher haben das Glück, dass ihr Erstlingswerk gleich auf dem Schreibtisch eines Mega-Studiobosses landet. Und auch Peli hatte wohl damit nicht gerechnet, als er zur Premiere seines Films auf dem 2007 Slumdance Festival zunächst jedem x-beliebigen Festivalbesucher eine DVD in die Hand drückte – mit der Bitte, sich am Verleih seines Films zu beteiligen. Im Prinzip sei das zwar schon der richtige Ansatz, so Mai, allerdings sollte die Einbindung der Zielgruppe idealerweise bereits viel früher passieren, um das Potenzial von Social Media Netzwerken und Online-Communities, ganz gleich ob Facebook, Twitter oder LinkedIn, vollends ausschöpfen zu können. Während Produzenten wie Filmemacher früher lediglich damit beschäftigt waren, ihre Filme fertig zu stellen und auf eine erfolgreiche Festivalpremiere zu hoffen, hätten sie nun die Chance, Leute rund um den Globus direkt an ihrem jeweiligen Projekt teilhaben zu lassen – vorab garantierte Zuseherschaft inklusive. Womit zugleich eine weit verbreitete wie realitätsfremde These an den Pranger gestellt sei: dass Filme entweder Werke gesichtsloser Komitees seien, oder aber von passionierten Autoren aus den Untiefen der Seele geschöpft. „Nichts spricht gegen leidenschaftliche Filmemacher“, sagt Mai, „aber es ist doch Schade, wenn diese Leidenschaft in Projekten verbraten wird, die unheimlich viel Geld kosten, aber die am Ende niemand sehen will.“ Vielmehr ginge es darum, mit den Leuten vorab in Kontakt zu treten, die dieselbe Begeisterung teilen und auf diese Weise herauszufinden, ob die jeweilige Filmidee oder das Script überhaupt etwas taugen. Im Vergleich zu den herkömmlichen Finanzierungs- und Vertriebsmodellen hat das zudem den unschlagbaren Vorteil, dass die Filmemacher nun auch diese Seiten des Geschäfts selbst in die Hand nehmen können.

Wie gut das funktioniert, belegen mittlerweile etablierte Webportale wie Indiegogo.com oder Kickstarter.com. Hier werden junge Projekte vorgestellt, besprochen und zur finanziellen Beteiligung aufgerufen. Wenn ein Projekt die angegebene Zielsumme erreicht, wird produziert. Als aktueller Nachfolger des so genannten „crowd-funding“- oder auch „crowd-fundraising“-Prinzips, mit denen immer mehr Do-it-yourself-Medienmacher ihre Projekte umzusetzen versuchen, gilt die Initiative des International Film Festival Rotterdam, Cinema Reloaded, über die man sich derzeit mit einem Mindesteinsatz von schlappen fünf Euro an der Produktion von drei Kurzfilmen von Pipilotti Rist, Alexis Dos Santos und Ho Yuhang beteiligen kann. Auch hierbei handelt es sich im Prinzip um die Abwandlung einer Idee aus der Musikbranche.

The age of cleverness

Franny Armstrongs Doku-Drama The Age of Stupid, das ausschließlich mittels „crowd-funding“ finanziert wurde, wäre hier ein Vergleichsmodell. Um bei der Produktion und vor allem inhaltlich möglichst unabhängig zu sein – der Film erkundet die Auswirkungen globaler Erwärmung auf das Leben von fünf Menschen rund um den Globus – sammelten Armstrong und die Produzentin Lizzie Gillett das nötige Geld (500.000 Pfund) über ihre eigene Website. „Graswurzel-Filmförderung“, nennt Gillett das und hat zugleich ein anschauliches Rechnungsmuster parat: „Am Anfang boten wir 100 Anteile zu je 500 Pfund an mit einer Gewinnrate von 0,05 Prozent über zehn Jahre. Jedem, der sich beteiligen wollte, haben wir gesagt, das der Gewinn nach zehn Jahren etwa 50 Pfund sei, wenn wir mit The Age of Stupid so viel Geld machen würden wie mit Frannys letztem Film [McLibel, Anm.]. Wenn der Film allerdings so viel einspielen würde wie Michael Moores Fahrenheit 9/11, wären das am Ende für jeden 64.000 Pfund.“ So verlockend das Angebot jedoch klingen mag, „crowd-funding“, betont die Engländerin, hat nichts mit Geldmacherei zu tun, sondern funktioniert in erster Linie über die Identifikation mit Ideen: „Die Leute haben sich an unserem Film beteiligt, weil sie an uns und unser Projekt geglaubt haben.“ Und sie haben sich nicht getäuscht. Nach der rekordverdächtigen „Global Premiere“ von The Age of Stupid im September vergangenen Jahres in New York, die live via Satelit in rund 400 Kinos in die USA und zeitversetzt in mehr als 200 Kinos weltweit übertragen wurde und in nicht beteiligten Ländern kostenfrei via Skype im Internet zu sehen war, konnten Armstrong und Gillett rund 1.500 Vorstellungen des Films allein in ihrem Heimatland Großbritannien verbuchen. Denn auch den Verleih regelt das engagierte Filmteam weitestgehend selbst: Seitdem The Age of Stupid aus den Kinos ist, kann man den Film über die eigens dafür programmierte Website Indiescreenings.net gegen eine geringe Gebühr für private und öffentliche Vorstellungen buchen, ein Angebot, von dem derzeit vor allem Bildungseinrichtungen, Festivals und die in kleineren Ortschaften verbreiteten „Film-Societies“ Gebrauch machen würden. Abgerechnet wird fair und einfach: Während sich die Filmemacher die Lizenzgebühr in die Tasche stecken dürfen, bleiben die Einnahmen gänzlich den Organisatoren überlassen. Nur die Verleiher haben bei so viel Eigeninitiative das Nachsehen.

iFilms & filmflix

In dieser Situation verwundert es kaum, dass digitale Filmvertriebe wie Festival Darlings von Thomas Mai in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden stießen. Und selbst die „klassischen“ Verleihfirmen bauen immer öfter Online-Vertriebe auf, während sie zugleich Lizenzen an andere Unternehmen wie Amazon oder Apple vergeben. Video-on-Demand-Plattformen wie The Auteurs, Amazon und Netflix weisen mittlerweile eine recht umfangreiche Auswahl an Kurz- und Spielfilmen auf, bieten Serien an und locken teilweise mit kostenlosen Schnupper-Downloads. Auf das in diesem Zusammenhang schon altbekannte Problem verweist Thomas Mai: „Die meisten Leute, die heute am Laptop sitzen und VoD-Plattformen nutzen würden, wissen zumeist auch, wie sie umsonst an die Filme kommen. Deshalb bleibt die Zahl der tatsächlichen VoD-Kunden noch immer relativ gering.“ Filmpiraterie schadet nach wie vor dem Geschäft, jedoch scheint der Stein der Weisen im Grunde längst gefunden. Teun Hilte jedenfalls, Mitbegründer des in Europa und den USA operierenden digitalen Filmvertriebs Content Republic, zeigt sich optimistisch: „Die massiven illegalen Downloads belegen doch in erster Linie eine hohe Nachfrage nach Online Content Delivery, ganz gleich ob Musik oder Film. Die Herausforderung für die Filmindustrie besteht darin, endlich einen besseren Service anzubieten als die illegalen Video-Download-Platforms, und zwar zu den möglichst günstigsten Konditionen. Ich denke, das ist das beste Gegengift.“ Auch Mai kann dem nur zustimmen: „Man muss sich nur iTunes als Beispiel vor Augen führen. Da geht es doch auch, einfach, legal, und die Leute kaufen es ja.“ Ein Schritt in die richtige Richtung könnte der Versuch von YouTube sein, ins Filmverleihgeschäft einzusteigen. Neben den zahlreichen kostenlosen Videos, die derzeit auf der Videoplattform angeboten werden, könnten in Zukunft auch reine Bezahl-Angebote hinzukommen. Erst einmal fängt YouTube aber klein an: Derzeit sind noch keine Hollywood-Blockbuster der großen Studios im Angebot (obwohl auch das seit einiger Zeit im Gespräch ist), sondern zunächst einmal einige wenige ausgewählte Independent-Filme.

Getestet wurde das erstmals beim diesjährigen Sundance Festival: Einer der fünf Filme, die man für die Dauer des Filmfests gegen eine Gebühr von 3,99 Dollar in voller Länge und für 48 Stunden „mieten“ konnte, ist Linas Phillips’ Low-Budget-Indie Bass Ackwards. Der ungewöhnliche Titel des Films (eine Umkehrung von „Ass Backwards“) sage einiges darüber aus, wie der Film zu Stande kam, erklärte Produzent Thomas Woodrow im Interview mit „Screen International“ scherzhaft, „und auch über das ziemlich absurde Vertriebsmodell“. Denn der Plan war folgender: Mit Hilfe der Marketing-Expertin Marian Koltai-Levine konnte das Team Woodrow-Phillips nach der Sundance-Premiere einen Deal für den digitalen Vertrieb und DVD abschließen (das heißt, der Film ist mittlerweile auf iTunes, Amazon, Netflix und Playstation erhältlich). Gleichzeitig lief Bass Ackwards nach dem Festival in einigen ausgewählten Programmkinos; auch ein Deal mit einem Kabel-VoD-Anbieter ist in der Pipeline. „Wir haben den größten Nutzen aus der YouTube VoD-Aktion gezogen“, resümiert Woodrow, sagt aber deutlich: „Es kommt letztlich immer auf das richtige Marketing an, und dafür ist es besser, einen Profi an der Seite zu haben. Denn was bringt es schließlich, den Film im Netz anzubieten, wenn keiner weiß, dass er existiert?“

Move your people, your film will follow

An diesem Punkt scheinen sich die Geister nach wie vor zu scheiden. Denn Filme wie The Age of Stupid belegen, dass man auch ohne die Hilfe von teuren Mittelsmännern zum Ziel gelangen kann. „Wir hatten tausend Leute, die uns bei der Promotion der globalen Premiere in New York geholfen haben und über diverse Netzwerke die Werbetrommel rührten“, sagt Lizzie Gillet im Rückblick. „Die meisten waren auch finanziell am Film beteiligt, das heißt, sie sind gleichzeitig Finanzierer, Promoter und Publikum. Unser Film wurde ein kleiner Teil ihres Lebens, und das wollen sie natürlich ihrerseits mit den Freunden in ihrer Mailing-Liste teilen.“ Demnach kann die Beteiligungslust im Mitmach-Internet Web 2.0 unabhängigen Filmemachern ebenso wie großen Studios zugute kommen, wenn man die Philosophie der Netzkulturen ernst nimmt und schrittweise in das herkömmliche System integriert. In den Augen von Profis ist dieser Prozess noch längst nicht abgeschlossen. Laut Teun Hilte sei dies das Spannende und gleichzeitig das Problematische an den neuen digitalen Möglichkeiten: „Der große Vorteil ist natürlich der Kostenfaktor, der bedeutend geringer ist als bei den herkömmlichen Marketing- und Vertriebsmodellen. Aber auch wir müssen das Publikum für jeden Film im Netz neu finden. Zwar hat das Internet den Vorteil, dass man relativ einfach eine große Anzahl von Menschen erreicht, andererseits gibt es ein derartiges Überangebot, dass es regelrecht eine Kunst ist, die richtige Message zu den richtigen Leuten zu bringen.“

Wer also angesichts der neuen digitalen Vertriebskanäle auf ein Patentrezept hofft, wie man seinen Film optimal unters Volk bringt, der hofft weiterhin vergebens. „Jeder Film bleibt eine neue Herausforderung“, sagt Thomas Mai.

Bald wird sich zeigen, ob auch die Macher von Paranormal Activity noch einmal mit derselben Strategie auftrumpfen können, oder gar zu einer neuen Höchstform auflaufen. Die Fanbase darf sich jedenfalls schon einmal freuen: Der US-Starttermin für die Fortsetzung des Films ist auf kommenden Oktober angesetzt. Einzelheiten wurden bisher „offiziell“ natürlich noch nicht bekannt gegeben. Twitter mag da schon mehr wissen.