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Hunger, Steve McQueen

Hunger

Extreme Measures

| Roman Scheiber |

„Hunger“, das Spielfilmdebüt des britischen Künstlers Steve McQueen, ist eine physisch eindringliche Untersuchung von Menschen, die für Freiheit bis zum Äußersten gehen.

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Ein sorgfältig rasierter Mann steht vor dem Badezimmerspiegel. Nachdem er seine Ringe abgelegt hat, legt er die deutlich versehrten Hände in ein kleines Waschbecken. Der Gesichtsausdruck, den der Spiegel zurückwirft, lässt vermuten, dass er einen harten Tag vor sich hat. Auf dem Bett im Schlafzimmer liegt millimetergenau gefaltete Kleidung bereit. Als er am Frühstückstisch sitzt, kommt die Hand seiner Frau ins Bild und setzt ihm Eier, Speck und Würstchen vor. Er zwingt sich ein Lächeln ab. Toastkrümel rieseln auf eine handgestickte Serviette auf seinem Schoß.

Bevor der Mann zur Arbeit fährt, sieht er sich auf der Straße um. Die Ordnung im properen Backsteinhaus-Vorort wird in Kürze vom Chaos am Arbeitsplatz abgelöst. Dort sieht man ihn später wieder die Hände in ein Waschbecken legen, doch dieses Mal wird das Wasser sich rot färben. Der Mann heißt Raymond Lohan und ist Gefängniswärter im Maze Prison, auch H-Blocks genannt, einem Hochsicherheitsgefängnis nahe Lisburn in Nordirland, wo Aktivisten der IRA inhaftiert sind. Die republikanischen Insassen sehen sich selbst als Kriegsgefangene, doch die Stimme Maggie Thatchers verkündet via Radio das von oben verordnete Motto: „Es gibt keine politischen Morde, politische Bombenangriffe oder politische Gewalttaten. Es gibt nur kriminelle Morde, kriminelle Bombenangriffe und kriminelle Gewalttaten. Wir sind hier zu keinen Kompromissen bereit. Es gibt keinen politischen Status.“

Hören und sehen

Hunger, der erste lange Spielfilm des mit dem Turner-Preis ausgezeichneten britischen Künstlers Steve McQueen, untersucht die konkreten Auswirkungen einer Situation, in der keine Kompromisse gemacht werden. Und keine Kompromisse macht auch der Regisseur selbst, denn er kümmert sich nicht im Geringsten um dramaturgische Konventionen und nur wenig um Psychologie. Stattdessen zeigt er menschliche Körper, denen übel mitgespielt wird. Mit dem Übergang von ruhigen, langen, handlungsarmen Einstellungen (Kamera: Sean Bobbitt) zu dras-tischen, hektisch montierten Gewaltszenen (Schnitt: Joe Walker) versucht er in aller Schärfe nachvollziehbar zu machen, wie es sich anfühlt, in einem Konflikt auf Leben und Tod gefangen zu sein. McQueen über seine Intention: „Ich will zeigen, wie es 1981 im H-Trakt war, zu sehen, zu hören, zu riechen und zu berühren. Was ich darstellen will, ist etwas, was nicht in Büchern oder Archiven zu finden ist, das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche.“

Die Fakten aus Büchern übernehmen in Hunger Textinserts, die den Film umrahmen. Begleitet vom Mülldeckel-Getrommel einer Protestkundgebung, die danach kurz in der Großaufnahme einer Frau ins Bild kommt, steht am Anfang: „Nordirland, 1981. 2.187 Menschen haben ihr Leben in der „Auseinandersetzung“ verloren. Die britische Regierung hat allen paramilitärischen Gefangenen ihren Status als politische Gefangene entzogen. Irische Republikaner im Maze-Gefängnis befinden sich im Deckenstreik und im Waschstreik.“ Vor dem Abspann steht: „Bobby Sands starb am 66. Tag seines Hungerstreiks. In dieser Zeit wurde Sands für die Gemeinden Fermanagh und South Tyrone ins britische Parlament gewählt. Der Hungerstreik wurde nach sieben Monaten beendet, nachdem weitere neun Männer gestorben waren. 18 Gefängniswächter wurden während des Wasch- und Deckenstreiks von Paramilitärs ermordet. In den folgenden Tagen und Monaten gewährte die britische Regierung alle Forderungen der Häftlinge, ohne jedoch ihren politischen Status formal anzuerkennen.“

Triptychon

Hunger ist, grob betrachtet, in drei Teile gegliedert. Der erste und der dritte Teil sind von hoher taktiler Qualität, der zweite Teil ist eine Plansequenz, die Worte wie Fäuste sprechen lässt.Mit dem Wärter Raymond Lohan (Stuart Graham) betrat die Kamera zunächst das Maze, beim zweiten Mal begleitet sie den jungen Davey Gillen (Brian Milligan) und übernimmt gleich auch den Blick des neuen Gefangenen. Wie die anderen IRA-Insassen verweigert er die Anstaltskleidung. Er muss sich nackt ausziehen, bekommt eine Decke ausgehändigt und wird in eine mit Kot verschmierte, winzige Zelle geführt. Sein Blick fällt auf den Mithäftling Gerry Campbell (Liam McMahon), dessen Gesicht vor lauter Haaren kaum auszumachen ist. Seine Finger spielen mit einer Fliege, die am Draht vor dem Zellenfenster herumtaumelt. In der Folge zeigt McQueen, im Wechsel mit ähnlich gemessenen Einstellungen wie der eben beschriebenen, die Eskalation der Gewalt bis zur gegenseitigen Erschöpfung.

Als Kampfansage lassen die Häftlinge gesammelten Urin gleichzeitig durch ihre Zellentürschlitze auf den Gang rinnen. Ihr Anführer Bobby Sands (Michael Fassbender) wird dafür unter Schlägen von den Wärtern in einen Waschraum geschleift, geschoren, in eine Badewanne geschmissen und von Lohan mit einem Bodenschrubber traktiert. Das Wasser in der Wanne wird rot, wie jenes im Waschbecken, in das Lohan danach seine Hände taucht. Einfache, gezogene Streicher-Akkorde untermalen dessen deprimierte Stimmung nach der aggressiven Eruption (Musik: David Holmes, Leo Abrahams).

Statt wie versprochen mit eigener Zivilbekleidung werden die Häftlinge mit Clowns-Uniformen bestückt, die man nicht einmal dem Club der toten Dichter zugemutet hätte. Kollektive Zelleninventar-Zertrümmerung ist die Folge, geschnitten im Sekundenbruchteiltakt. Schließlich wird eine Spezialeinheit der Polizei ins Gefängnis beordert, um Rektalinspektionen der Gefangenen mit Prügeln zu orchestrieren. Das Knüppel-Getrommel der Staatsdiener auf ihre Metallschilde schließt die Klammer zum Mülldeckel-Getrommel der Protestierenden auf das Straßenpflaster zu Beginn. Es schwillt zu einer Lautstärke, dass einem zum Sehen auch noch das Hören vergeht. Dann Stille.

Glaubensfrage

Der zweite Teil ist das kontroverse Zentrum und gleichzeitig das ideologische Doppelkammer-Herzstück von Hunger. Auch hier gibt es einen Schlagabtausch, nur findet dieser, knapp nach der Hälfte des Films, erstmals auf verbaler Ebene statt. Bobby Sands streitet mit Dominic „Dom“ Moran (Liam Cunningham), einem katholischen Priester, der sich mit gelinderen Mitteln für dieselbe Sache einsetzt. Beschränkt sich McQueens Darstellung vor dieser Szene im Wesentlichen auf eine dialogarme, präzise Beobachtung der Vorgänge im Gefängnis und die körperlich inszenierte Konfrontation der Häftlinge mit den Wachmännern, so tritt hier die Kraft von Argumenten in den Vordergrund. Wird vorher und nachher der eigene Körper benutzt, um zu protestieren, geht es jetzt um Haltungen und, natürlich in der Diskussion mit einem Priester, um Glaubensfragen. Wenn der heilige Zweck damit kaum erreicht werden kann, wozu dann die extrem qualvollen Mittel? Nach einleitendem Smalltalk begibt man sich eloquent in den Ring: Euer Hungerstreik wird die Regierung nicht in die Knie zwingen! Was würde dein kleiner Sohn dazu sagen? Willst du nicht bloß als Märtyrer in die Geschichte eingehen? Dom teilt ordentlich aus. Doch Bobby schlägt zurück, bezeichnet das Leben in Unfreiheit als wertlos und sieht im Streik der Insassen die zwar kleine, aber eben auch einzige Chance seiner Bewegung.

Wie ein Solitär steht diese rund zwanzigminütige Szene da, vertraut ganz auf die Sprachenergie der Schauspieler und auf die Schlagfertigkeit des Dialogs. Es ist eine Szene, die Romuald Karmakar gefallen könnte. Die ersten zehn Minuten sind in einer einzigen Halbtotalen gedreht, die das Duell aus neutraler Position beobachtet. Dann kommt Bobby mit einem Head Shot in den Fokus, und während dieser aus angeschlagener Position heraus eine Geschichte über Gnade, Mut und Führungsstärke aus seiner Kindheit erzählt, wird das einzige kleine Fenster im Hintergrund, das natürliches Licht auf die Szene geworfen hat, an den Rand verschoben.

Verlust von Schwerkraft

Das Möglichkeitsfenster für Verhandlungen wird von hier an geschlossen bleiben. Einen Sieger des Kampfes gibt es nicht. Wer für seine politische Überzeugung sein Leben opfert, kann nicht gewinnen. Wer sich auf Gott verlässt, ebenfalls nicht.

Der dritte Teil, die letzten zwanzig Minuten von Hunger beobachten den körperlichen Verfall des in Hungerstreik getretenen Bobby Sands. „Damit spielen sie ihre letzte Karte“, höhnt die Stimme von Maggie Thatcher via Radio für die Stammtische im Pub, doch das Bild dieser letzten Karte zeichnet Steve McQueen konturierter, als die damalige Premierministerin es sich jemals hätte vorstellen mögen.

Dass Hunger wie ein Triptychon wirkt, dem widerspricht der Künstler und Filmemacher: „Ich dachte eher an einen Fluss. Man treibt auf dem Rücken im Wasser, sehr ruhig, man hat Zeit, sich an die Umgebung zu gewöhnen, dann gerät man plötzlich in einen Strudel, die Umgebung zerfällt in Stücke, zerbricht. Am Ende ist der Wasserfall, der Verlust von Schwerkraft.“

Immer klarer nimmt Hunger am Ende die Perspektive Bobbys ein. Die Kamera erkundet seinen verwelkenden Körper, tastet ihn behutsam ab, parallel zu den Ärztefingern, die vorsichtig Wundsalbe auf seine entzündeten Hautstellen auftragen. Halluzinationen, immer tapsigere Bewegungen, Zusammensacken, Erbrechen. Nach ein paar Wochen kann er mit den Augen nicht mehr scharf stellen und hört nur mehr, als hätte er Watte im Ohr. Irgendwann liegt der knochige Körper des imposant spielenden irisch-deutschen Darstellers Michael Fassbender (unter medizinischer Anleitung heruntergehungert) nur mehr im Bett. Ein Arzt baut ihm ein Deckengerüst, um seine Haut zu schonen. Bobbys letztes Bild: Er selbst als Knabe beim Waldlauf. Krähen flattern hoch.