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Sophie Maintigneux

Sophie Maintigneux

„Kameraleute sollten Raucher sein“

| Günter Pscheider |

Ein Gespräch mit der renommierten Kamerafrau Sophie Maintigneux über Éric Rohmer, Bildkomposition und die Arbeit an einem österreichischen Filmprojekt.

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Sophie Maintigneux wurde 1961 in der Nähe von Paris geboren und begann bereits mit 14 Jahren als Praktikantin erste Erfahrungen in der Filmbranche zu sammeln. Nach einigen Kurzfilmen hinter der Kamera wurde die 23-jährige von Eric Rohmer für den Spielfilm Das grüne Leuchten (Le Rayon vert, 1986) engagiert. Obwohl ihr nach King Lear (1987) von Jean-Luc Godard in Frankreich alle Türen offen standen, zog sie Ende der Achtziger Jahre nach Berlin, wo sie noch heute lebt. Sie drehte einige Filme mit Michael Klier und arbeitete mit Regisseuren wie Jan Schütte, Rudolf Thome, Philip Gröning oder Marcel Gisler zusammen. Neben ihrem umfangreichen Spielfilmwerk engagierte sie sich auch stark im Dokumentarfilmbereich, wo sie in den letzten zwanzig Jahren viele junge Regisseurinnen – darunter Aysun Bademsoy – bei ihren Anfängen unterstützte. Ihr Werk ist geprägt von einer Vorliebe für künstlerische und technische Herausforderungen und einem starken Hang zu kontroversiellen Themen in Filmen, bei denen die Regisseure oft ein besonderes visuelles Konzept erproben wollten. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen gewann sie für Lilo Mangelsdorffs Damen und Herren ab 65 (2002) und Maria Teresa Camoglios Die dünnen Mädchen (2008) den deutschen Kamerapreis. Maintigneux unterrichtete an vielen deutschen Filmhochschulen, ist derzeit Co-Leiterin der Kameraabteilung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB) in Berlin und engagiert sich stark für die Gleichbehandlung der Geschlechter in der Filmbranche. Das Gespräch fand im Rahmen der EU XXL Filmtage in Wien statt, in deren Rahmen sie eine Master Class leitete.

Warum wollten Sie Kamerafrau werden?
Sophie Maintigneux:
Es gab da ein richtiges Schlüsselerlebnis für mich. Ich habe mit elf Jahren in einem Kurzfilm mitgespielt, zusammen mit meinem 10-jährigen Bruder. Eine sehr poetische Geschichte über zwei Kinder, die allein zu Hause typische Mädchen- und Jungenspiele ausprobieren, wobei sich jeweils einer der beiden langweilt. Dann schlägt das Mädchen vor, dass sie „die Hure und der Soldat“ ausprobieren könnten. Am Ende sind beide nackt und berühren einander auf dem Boden sitzend. Da war eine Frau hinter der Kamera, die später Regisseurin geworden ist, die mich sehr beeindruckt hat. Ich habe mir sofort gedacht, dass ich diese Position haben will, hinter diesem Gerät zu stehen. Ich war komplett fasziniert von ihrer Art, das Licht zu setzen. Außerdem hat sie uns mit ihrem mitfühlenden Blick in eine Art beschützende Höhle versetzt, was sehr wichtig war, immerhin waren wir buchstäblich nackt vor der Kamera. Das große Glück in meinem Leben war, dass meine Eltern im positiven Sinne ein bisschen verrückt waren. Sie wollten nicht, dass wir Kinder in die Schule gehen. Wir haben alles zu Hause gelernt. Vorher hatte ich nie etwas mit Fotografie zu tun, es gab auch keinen Fernseher im Haus. Sie haben mich aber sofort unterstützt, als ich meinen Wunsch, Kamerafrau werden zu wollen, geäußert habe. Mit 14 hatte ich das Glück, bei Coline Serreaus Pourquoi pas als Assistentin im Kamerateam mitarbeiten zu dürfen. Das war eine moderne Dreiecksgeschichte, eine große Produktion mit grandiosen Schauspielern. Da war mir sofort klar, dass das meine Welt ist. Wegen meiner Jugend war ich natürlich etwas Exotisches in dieser Maschinerie, zusätzlich war ich sehr schüchtern, fast scheu. Deswegen haben mir die Leute auch sehr geholfen.

Wie sind Sie dann zu Éric Rohmer gekommen?
Sophie Maintigneux: Das grüne Leuchten war ein Experiment, auch für Eric damals. Der Film hatte kein Drehbuch, es war eine Art Reise mit der Schauspielerin Marie Rivière, deshalb wollte er ein extrem kleines Team, das nur aus Frauen bestand. Damals gab es aber kaum Kamerafrauen. Er beschloss, dass er einen Tag mit mir drehen will und sich nach der Sichtung der Muster entscheidet. Wir haben dann eine Szene in Paris gedreht, ich weiß noch genau welche, ich war extrem nervös. Dann musste ich zwei Tage auf die Muster warten, was mich noch nervöser gemacht hat, aber schlussendlich machten wir weiter. Éric hat mir unheimlich viel Vertrauen entgegengebracht. Ab dem Moment, wo er entschieden hat, dass ich die Bilder machen werde, hat er keine Anweisungen gegeben sondern mir die komplette Freiheit der Bildgestaltung überlassen. Der Film hat dann den Goldenen Löwen in Venedig bekommen und Marie Rivière den Darstellerpreis. Das war für mich eine sehr emotionale Erfahrung, denn wenn eine Darstellerin einen Preis bekommt, hast du als Kamerafrau einen kleinen Anteil daran. Einige Jahre danach hat mich Godard angerufen.

Was ist der Unterschied in ihrer Herangehensweise?
Sophie Maintigneux: Auch bei King Lear gab es kein Drehbuch. Aber Godard spricht nicht. Gerade, weil ich so jung war damals, war es nicht einfach für mich, eine Verbindung zu ihm zu finden. Charly Huser von Schwarzfilm in Bern hat mir sehr geholfen. Wir haben jeden Tag telefoniert und er hat mir gesagt wie die Muster sind. Ich war ein bisschen in Panik. Godard ist zweifellos einer der großen Meister, er fragt sich ständig, was Kino ist. Ich respektiere ihn und habe unheimlich viel gelernt von ihm, trotzdem habe ich ein bisschen gelitten damals.

Das gegenseitige Vertrauen von Regisseur und Kamerafrau ist also sehr wichtig für Sie?
Sophie Maintigneux: Ja, auf jeden Fall. Du musst zusammen mit dem Regisseur eine filmische Sprache entwickeln und viele offene Fragen beantworten. Drehen wir mit Handkamera, mit natürlichem oder künstlichem Licht, welche Objektive, wie viele Schnitte soll es geben, wie lange sind die Sequenzen. All diese Fragen und noch viele mehr müssen mit der Regie abgeklärt werden, dazu ist es notwendig, eine tiefe Kommunikation und Vertrauen zu entwickeln. Schließlich ist man gerade am Set eine wichtige Ansprechperson für den Regisseur. Manche haben ein ganz klares Konzept, wie der Film ausschauen soll, andere verlassen sich da sehr auf den DOP. Ich habe da keine Präferenzen. Es ist sehr wichtig für mich, hinter dem Drehbuch zu stehen. Wenn ich das tue, mich für den Film entscheide, egal aus welchen Gründen, es können auch finanzielle sein, und ich die Gründe für mich herausgefunden habe, stehe ich zu hundert Prozent hinter dem Projekt. Aber ich mache kaum Filme wegen des Geldes. Eher im Gegenteil. Viele gerade junge Regisseure und Produzenten glauben, dass ich wegen meines Standings sehr teuer bin, dabei stimmt das überhaupt nicht. Mein Preis richtet sich nach dem Budget und die Gründe, einen Film machen zu wollen sind meist persönlicher oder technischer Natur.

Warum sind Sie nach Deutschland gezogen, nachdem Sie in Frankreich solche Erfolge feiern konnten?
Sophie Maintigneux: Weil ich mich komplett in Berlin verliebt habe. Meine erste Begegnung mit der Stadt war 1985, also vor dem Mauerfall, als ich für einen französischen Dokumentarfilm über den Transvestiten Romy Haag die Kamera gemacht habe. Einerseits war es eine sehr traurige Stadt, alles war sehr grau und arm sowieso, es gab noch etliche zerstörte Häuser, und trotzdem war da eine Energie und Lebenslust, die mich sehr angezogen hat. Ich habe immer gedacht, ich komme zurück. Dann 1988 hat mich Michael Klier in Paris angerufen. Ich habe als erstes gefragt, wo sein Film gedreht wird und als er von Berlin sprach, habe ich sofort zugesagt. Überall ist es besser wo wir nicht sind war dann auch ein sehr wichtiger Film für mich. Damals lag der Anteil der deutschen Produktionen an der Kinokassa bei 6 Prozent, der deutsche Film war am Boden, und es war auch sehr spannend, ein klein wenig am Aufbau mitwirken zu können. Danach kamen gleich jede Menge Angebote aus Deutschland und so bin ich geblieben.

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben? Oder stellen Sie sich ganz in den Dienst des jeweiligen Projektes?
Sophie Maintigneux: Das ist eine der schwierigsten Fragen, weil wir Kameraleute dem Regisseur und der Geschichte dienen müssen. Trotzdem gibt es ganz klar eine persönliche Art, die Welt zu sehen. Jeder hat seine eigenen Vorlieben, die Bilder zu kadrieren, zu komponieren, das Licht zu setzen. Ich bin mir sicher, dass ich ebenso eine Art habe, aber ich weiß nicht genau welche oder kann es zumindest nicht gut in Worte fassen. Andere Leute können das besser. Aber ich weiß natürlich schon, was meine Stärken sind: ein gutes Gespür für die Bildkomposition und eine bestimmte Art, die Schauspieler zu fotografieren. Es liegt mir einfach am Herzen, dass die Personen schön sein sollten. Damit meine ich nicht ein hollywoodartiges Licht, sondern mehr einen gewissen Respekt den Gesichtern und den Körpern der Schauspieler gegenüber. Diese Körper müssen einen angemessenen Platz im Raum finden, und das hat sehr viel mit Würde zu tun mit. Vielleicht sieht man das ja in meinen Bildern, das hoffe ich zumindest.

Bei Ihren Arbeiten für Dokumentarfilme ist auffällig, dass Sie meist sehr nahe an die Gefilmten herankommen.
Sophie Maintigneux: Meist gibt es bei Dokumentarfilmen eine Phase des Aneinander-gewöhnens. Und an den ersten Drehtagen ist die Kamera noch kaum im Spiel, ich bin aber als Mensch und Ansprechpartner sehr präsent. Das bedeutet, einfach mit den Leuten zu sprechen. Da hilft oft eine Zigarette zusammen, deswegen glaube ich auch, dass alle Kameraleute rauchen sollten. Wenn man dann jemandem einige Male körperlich, räumlich nahe war, ist es normalerweise auch kein Problem mehr, wenn man später die Kamera auf der Schulter hat. Man muss den Menschen zeigen, dass man sie zuerst ohne Kamera kennen lernen will. Es hilft auch, die Leute nach und nach ans Equipment zu gewöhnen, also alles aufzubauen, aber nichts zu filmen. Diese Langsamkeit schafft Vertrauen zwischen dem Filmer und den Gefilmten und das ist mir sehr wichtig.

Wie sind Sie zum Unterrichten gekommen?
Sophie Maintigneux: Der Leiter der DFFB damals hat mich angerufen und ich habe ein Seminar gehalten. Es ist toll gelaufen, und wie das immer so ist, ergibt sich dann das eine aus dem anderen und ich habe in den letzten 18 Jahren jede Menge Angebote von anderen Filmhochschulen bekommen. Ich mache es auch sehr gern, weil man viel gibt, von den jüngeren Leuten aber auch viel bekommt. Es ist eine interessante Begegnung mit den Sehgewohnheiten der jetzigen Generation, nicht nur in Bezug auf die Geschichten, sondern auch auf Rhythmus, Farbe etc. Denn auch der visuelle Stil ist natürlich Modeströmungen unterworfen. In den Achtziger Jahren waren z.B. lange Brennweiten irrsinnig en vogue, heute existiert das kaum mehr. Ich bin mir aber sicher, dass es wieder zurückkommen wird. Heute ist die Kamera viel näher dran. Authentizität ist das neue Schlagwort, ein richtiger kinematografischer Wert ist das geworden, weil die Leute einander immer mehr misstrauen, sei es persönlich oder von den Ethnien, Religionen her. Es weiß zwar niemand genau, was Authentizität eigentlich sein soll, aber alle sprechen darüber. Diese Sehnsucht, nahe und direkt zu sein, hat sicherlich auch mit einem Wunsch zu tun, den vor allem medial verbreiteten Lügen etwas entgegenzusetzen. Und wir wissen natürlich immer mehr, wie Bilder lügen können. Die Unschuld gegenüber den Bildern, die es bis in die Sechziger Jahre gegeben hat, ist vollständig verschwunden. Deshalb ist es oft schon fast ein Appell der Filmemacher. Sie wollen sagen: Schaut her, ich lüge nicht, ich bin authentisch, weil ich bin so nahe dran. Das ist aber mehr als ein Trend, das sind fast kollektive Träume der Menschen. Und die verändern sich natürlich ständig. Nach den Attentaten von 9/11 war Angst einige Jahre lang das beherrschende Thema der Bewerbungsfilme für die Filmhochschule. Angst vor dem Anderen, vor dem Fremden. In den neuesten Bewerbungsfilmen spielt das keine Rolle mehr. In den Seminaren zeige ich auch immer wieder Ausschnitte aus meinen Filmen. Es ist einerseits wichtig, stolz zu sein auf seine bisherigen Arbeiten, sich aber auch zu überlegen, was man anders machen hätte können, sich einfach zu fragen, warum hast du das damals so gemacht, wie würdest du es jetzt machen. Ständige Selbstreflexion eben.

Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Klub Zwei für den österreichischen Film Liebe.Geschichte über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus?
Sophie Maintigneux: Sie haben mich angerufen und gleich einmal gesagt, dass sie kein Geld haben. Aber erstens hat mich das Thema Verdrängung sowohl auf persönlicher Ebene wie auch für ein ganzes Land sehr interessiert, zweitens war es eine Herausforderung, die Architektur der Gebäude, die für den Film eine große Rolle spielt, zu drehen. Außerdem habe ich noch nie so einen konzeptuellen Film gemacht, der über sechs Dekaden ein spannendes Thema in seiner Entwicklung transparent macht, nur mit Hilfe von Interviews und Bildern der Architektur. Es war für mich ganz klar, dass die Interviews als Kontrast zu den statischen Bildern der Häuser mit der Handkamera gedreht werden sollten. Das ist auch eine körperliche Herausforderung für eine wie mich, die eher klein und zierlich ist. 40 Minuten lang durchgehend die Handkamera ruhig zu halten ist schwierig. Generell haben die Filme vom Thema her fast immer etwas mit mir zu tun, bewusst oder unbewusst. Ich habe einige Male versucht, Filme zu machen, bei denen das nicht so war und es hat nicht gut funktioniert, fühlte sich nicht richtig an. Es gibt viele Kollegen, die können das ohne Probleme. Ich beneide sie fast ein wenig darum, denn man braucht große Kraft dafür. Aber ich habe einfach gemerkt, wenn ich nicht hundertprozentig von der Wichtigkeit des Films überzeugt bin, dann habe ich Probleme, die richtige visuelle Sprache dafür zu finden.