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Henri-Georges Clouzot

Der Besessene

| Jörg Schiffauer |

Henri-Georges Clouzot zählt zu den ganz großen Namen des Weltkinos. Selbst die Fragmente seines nie fertig gestellten Films „L’Enfer“ zeigen die Genialität des Meisterregisseurs.

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In einem Ausschnitt aus einem alten Fernsehinterview, der zu Beginn des Dokumentarfilms L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot zu sehen ist, meint Clouzot, er sei eigentlich nicht besonders an pathologischen Verhaltensweisen interessiert. Eine Äußerung, die man rückblickend wohl nur als Koketterie von monumentalem Ausmaß des für seine zynischen Bemerkungen berüchtigten Meisterregisseurs ansehen kann. Denn L’Enfer, jenes grandiose Projekt Clouzots, auf dessen Spuren sich die Dokumentation begibt, dreht sich vornehmlich um die krankhafte Eifersucht des Protagonisten, die schließlich pathologisch-zerstörerische Dimensionen annimmt. Zudem war das Scheitern des Films zu einem nicht geringen Ausmaß Clouzots Streben nach Perfektion, das geradezu zwanghafte Züge annahm, geschuldet. Es sollte allerdings das einzige Mal bleiben, dass die akribische Arbeitsweise des Henri-Georges Clouzot in einem Fehlschlag mündete – ein Fehlschlag, der kurioserweise über die Jahre hinweg seinen Ruf als eine der legendären Figuren des Weltkinos nur noch nachhaltiger festigen sollte.

Frühe Höhen und Tiefen

Geboren am 18. August 1907 in der Kleinstadt Niort, studierte Clouzot zunächst Politikwissenschaften in Paris, begann jedoch bald schon als Dialog- und Drehbuchautor zu arbeiten. 1931 konnte er seine erste Regiearbeit, den Kurzfilm La Terreur des Batignolles, verwirklichen. 1935 erkrankte er jedoch an Tuberkulose, die nächsten Jahre musste er deshalb in der in Abgeschiedenheit eines Sanatoriums verbringen. Clouzot nützte die Zeit vornehmlich dazu, um seine Fähigkeiten als Drehbuchautor bezüglich Erzähltechnik und Dramaturgie zu perfektionieren. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich arbeitete Clouzot zunächst wieder als Autor, aufgrund seines fragilen Gesundheitszustandes blieb ihm die Einberufung zur französischen Armee nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erspart. In der Zeit der nationalsozialistischen Besetzung konnte Clouzot weiterarbeiten und inszenierte mit dem Thriller um die Jagd nach einem Serienmörder, L’Assassin habite au 21 (Der Mörder wohnt in Nr. 21, 1942), seinen ersten langen Spielfilm, der ein beachtlicher Erfolg bei Publikum und Kritik wurde. Im darauf folgenden Jahr inszenierte er Le Corbeau (Der Rabe), die Geschichte um eine Serie anonymer Briefe mit verleumderischem Inhalt, die unter den Bewohnern einer Kleinstadt für Unruhe sorgen. Misstrauen und Verdächtigungen vergiften bald das Klima – mit fatalen Auswirkungen. Mit seiner düsteren Grundstimmung und seinen vordergründig ganz normalen Charakteren, die jedoch zu jeder Bösartigkeit fähig sind, nimmt Le Corbeau einige der für Clouzots Arbeiten typischen Motive bereits vorweg. Wegen seines pessimistischen, zynischen Tenors musste Le Corbeau schon nach seiner Premiere Kritik von den unterschiedlichsten Seiten einstecken. Weil der Film von einer von den deutschen Besatzern kontrollierten Firma produziert worden war, wurde Clouzot nach Kriegsende der Kollaboration beschuldigt und zunächst mit einem lebenslangen Berufsverbot belegt. Nachdem sich jedoch Jean-Paul Sartre, Jean Cocteau, René Clair und Marcel Carné für ihn eingesetzt hatten, wurde die drakonische Maßnahme schon 1947 wieder aufgehoben.

Seine Reputation beim französischen Publikum blieb jedoch von diesen Vorwürfen weitgehend unangetastet, denn bereits mit dem Krimi Quai des Orfèvres (Unter falschem Verdacht, 1947)  konnte er einen mehr als respektablen Erfolg verbuchen. Gestärkt durch die positive Rezeption des Films griff Clouzot in Manon (1949) ein für die damalige Zeit durchaus brisantes Thema auf: Ein Widerstandskämpfer der Résistance rettet ein Mädchen, das beschuldigt wird, mit den Nazis kollaboriert zu haben, vor der Lynchjustiz. Das Risiko sollte sich für Clouzot lohnen, denn der Film gewann beim Festival in Venedig den Goldenen Löwen. Mit Miquette et sa mère (1950) versuchte sich Clouzot an einer Komödie, der jedoch vor allem finanziell kein Erfolg beschieden war. Es folgte jener Film, der Henri-Georges Clouzot auf ewig als feste Größe des Weltkinos etablieren sollte.

Düstere Weltsicht und Hochspannung

Le Salaire de la peur (Lohn der Angst, 1953) handelt von einer Handvoll Menschen, die aus unterschiedlichen und im Film nie näher erläuterten Gründen in einem Nest irgendwo mitten in Südamerika gestrandet sind. Verlassen kann man den abgelegenen Ort nur mittels Flugzeug, doch die dazu notwendigen finanziellen Mittel verdient man sich höchstens mit einem Job bei der Ölförderung – aber ein solcher ist kaum zu bekommen. Erst als eine Ölquelle explodiert, bietet sich eine unerwartete Chance: Da das Feuer nur mit Nitroglyzerin gelöscht werden kann, soll der Sprengstoff mit Lastwagen einige hundert Kilometer weit über völlig desolate, holprige Straßen zum Ort des Unglücks transportiert werden – doch schon eine kleine Erschütterung kann die brisante Ladung zur Explosion bringen. Obwohl es ein Himmelfahrtskommando mit höchst ungewissem Ausgang ist, finden sich bald vier Männer, die das Risiko bereitwillig auf sich nehmen, denn die Aussicht auf die hohe Bezahlung ist für sie die einzige realistische Chance, ihrem von Armut und Verzweiflung geprägten Dasein zu entkommen. Die anschließende Fahrt wird jedoch zu einem Höllentrip, der die vier an die Grenzen ihrer psychischen und physischen Belastbarkeit bringt – und weit darüber hinaus.

Le Salaire de la peur repräsentiert auf exemplarische Weise all jene Qualitäten, die das Kino des Henri-Georges Clouzot auszeichnen. Der Film ist zunächst einmal ein schnörkelloser, geradliniger Thriller, der seine Spannungsbögen mit einer Virtuosität und Intensität sondergleichen aufzubauen versteht. Clouzots Inszenierung entwickelt jedoch – was Cadrage und Bildkomposition betrifft – eine Präzision und Brillanz, die über bloßes Genrekino meilenweit hinausreicht. Obwohl Clouzot als Meister des spannungsgeladenen Thrillers gilt, wird es seinen Arbeiten in keiner Weise gerecht, sie primär auf diesen Aspekt zu reduzieren. Denn die allermeisten seiner Filme sind auch – und das ist ein ganz entscheidender Aspekt – psychologische Studien, die anhand von extremen Situationen menschliches Verhalten mit chirurgischer Präzision analysieren, wobei sich Clouzot bevorzugt auf die obsessiven, abgründigen Verhaltensweisen konzentriert.

Das zeigt sich auch anhand der mehr als 40 Minuten langen Exposition von Le Salaire de la peur. Zwar sind die Lebensbedingungen in dem kleinen Dorf schon erbärmlich genug, doch die Bewohner tun ihr übriges, um sich das Leben vollends zur Hölle zu machen. Die dort vorherrschende Atmosphäre, die von wechselseitigen Demütigungen und Gemeinheiten geprägt ist, macht Clouzot schon in einer der ersten Szenen deutlich: Ein Gast der heruntergekommenen Bar, der sich selbst kaum mehr einen Drink leisten kann, vertreibt sich die Zeit, indem er einen ausgemergelten Hund mit Steinchen bewirft. Das System von Treten und Getretenwerden, setzt sich in diesem unheilvollen Mikrokosmos auf allen Ebenen fort, niemand scheint sich  dem entziehen zu können. Selbst Mario (Yves Montand) – einer der vier erwähnten Männer – lässt kaum eine Gelegenheit aus, um Linda (Véra Clouzot, Ehefrau des Regisseurs), die Frau, die ihn liebt, und der einzige Mensch an diesem üblen Ort, dem er wirklich etwas bedeutet, herablassend zu behandeln. Dabei ist Mario – wie etliche von Clouzots Charakteren – nicht einfach ein übler Schurke, sondern ein Mann, der an einem anderen Platz durchaus ein guter Kumpel sein könnte. Es sind die vorherrschenden Umstände, die dazu führen, dass die schlimmsten menschlichen Eigenschaften hervortreten, und Clouzots Figuren schöpfen dabei immer aus dem Vollen, die Grenzen von Gut und Böse sind bei ihm stets diffus. Dass manchem angesichts einer so erbärmlichen Welt selbst ein hochriskanter Sprengstofftransport – den man höchstwahrscheinlich nicht überlebt – als sinnvolle Alternative erscheint, ist, der düsteren Sicht von Clouzots Universen folgend, nur die logische Konsequenz.

Diese Linie verfolgte Henri-Georges Clouzot auch mit seinem nächsten Film, Les Diaboliques (Die Teuflischen, 1955), konsequent weiter. Darin pflegt der Direktor eines Internats seine Umgebung mit geradezu diabolischer Freude zu quälen. Als die Demütigungen immer schlimmer werden, beschließen seine Ehefrau (Véra Clouzot) und seine Geliebte (Simone Signoret), das Scheusal gemeinsam umzubringen und dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Zunächst funktioniert auch alles programmgemäß, doch der Plan entpuppt sich als heimtückisches Komplott des Direktors und seiner Geliebten, um die herzkranke Ehefrau in den Tod zu treiben. Les Diaboliques war ein stilbildender Psychothriller, der seine Schockeffekte brillant in Szene setzt, jedoch vor allem durch seine psychologische Präzision besticht. Wie Salaire de la peur wurde auch Les Diaboliques ein großer Erfolg bei Kritik und Publikum.

Clouzot machte jedoch zunächst einen Ausflug zum Dokumentarfilm, mit Le Mystère Picasso (1956) gab der filmbesessene Regisseur einen faszinierenden Einblick in die kreativen Prozesse des von seiner Arbeit besessenen Malers. Es mag im Rückblick ein wenig überraschen, dass Henri-Georges Clouzots Werk zu beginn der Sechziger Jahre keineswegs uneingeschränkte Wertschätzung erfuhr. Obwohl etwa Le Salaire de la peur mit den Hauptpreisen der Festivals von Cannes und Berlin ausgezeichnet wurde, galt Clouzot mit seiner akribischen Arbeitsweise und seinem Hang zum Perfektionismus vor allem unter den Vertretern der Nouvelle Vague mit ihrer Vorliebe für Improvisation als geradezu altmodischer Klassizist. Dass Clouzots Filme in ihrer Präzision heute noch genauso frisch und beeindruckend erscheinen wie eh und je, während so manche Arbeiten der Nouvelle Vague mittlerweile nur mehr unter Berücksichtigung des filmhistorischen Kontexts ihre Wirkung entfalten, wirkt beinahe wie späte Gerechtigkeit.

Mit dem Gerichtssaaldrama La Vérité (Die Wahrheit, 1960), für das Clouzot Brigitte Bardot für die Hauptrolle gewinnen konnte, gelang ihm ein weiterer Erfolg, der jedoch durch den frühen Tod seiner Frau Véra, die wenige Wochen nach der Premiere im Alter von nur 47 Jahren nach einem Herzinfarkt verstarb, überschattet wurde.

Der Irrsinn des Henri-Georges Clouzot

Es dauerte vier Jahre, bis sich Clouzot seinem nächsten Projekt zuwandte, L’Enfer sollte in jeder Hinsicht ein Meilenstein seiner Karriere werden. Im Mittelpunkt des von Clouzot verfassten Drehbuches steht ein junges Ehepaar, das ein an einem malerischen See gelegenes Hotel betreibt. Doch der Mann wird von Eifersucht geplagt, die nach und nach geradezu pathologische Züge annimmt und sogar seine Sinneswahrnehmung zu verändern beginnt. Clouzot beabsichtigte, die Eifersucht als eine Art von Krankheit darzustellen, die eine zerstörerische Kraft entwickelt. Mit völlig neuartigen Farb- und Toneffekten wollte er die verzerrte Wahrnehmung seines Protagonisten auf die Leinwand bringen. Clouzots Reputation führte dazu, dass mit Columbia sogar ein Hollywood-Studio einstieg und ihm ein Budget ohne Limit zusicherte – und damit den Grundstein für das Scheitern des Projekts legte. Denn Clouzot bestand auf eine selbst für seine Verhältnisse geradezu gigantomanische Vorbereitung. Jede Kameraeinstellung sollte im Vorfeld bereits akribisch festgelegt sein, er machte wochenlang Probeaufnahmen, um Farbeffekte zu testen und seine Hauptdarsteller Romy Schneider und Serge Reggiani vorzubereiten, für die eigentlichen Dreharbeiten engagierte Clouzot gleich drei Kamerateams. Sein Perfektionismus nahm immer manischere Züge an, die sogar langjährige Mitarbeiter bei diesem Film vor Probleme stellten. Doch trotz aller Vorbereitungen kamen die Dreharbeiten nur schleppend voran, Clouzots an Selbstausbeutung grenzende Arbeitsweise forderte schließlich ihren Tribut, als er einen Herzinfarkt erlitt und die Arbeit an L’Enfer unterbrechen musste. Die Kosten drohten mittlerweile völlig aus dem Ruder zu laufen, die Produzenten stoppten die Dreharbeiten endgültig, gerade einmal 15 Stunden Material blieben als Fragment des ehrgeizigen Projekts zurück.

Es ist dem Filmhistoriker Serge Bromberg zu verdanken, dass er sich nach jahrelangen Bemühungen endlich die Rechte an dem Material sichern konnte und mit L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot einen Blick auf ein jahrzehntelang geheimnisumwittertes Kapitel der Filmgeschichte ermöglicht. Seine Dokumentation gibt anhand der wenigen gedrehten Szenen eine Idee davon, was Henri-Georges Clouzot im Sinn hatte und welch einzigartiger Film L’Enfer hätte werden können. Bromberg zeigt aber auch, dass Clouzots Besessenheit für das Projekt, dem pathologischen Verhalten seines Protagonisten – was den Grad der Manie angeht – um nichts nachstand. Romy Schneider, dafür bekannt, sich dem Regisseur ihres Vertrauens in fast masochistischer Art und Weise auszuliefern, konnte damit ganz gut umgehen, Serge Reggiani verließ – von einer mysteriösen Krankheit und dem Perfektionismus Clouzots entnervt – die Dreharbeiten.

Nach dem Debakel um L’Enfer drehte Clouzot nur noch einen Spielfilm, die Dreicksgeschichte La Prisonnière (Seine Gefangene, 1968), in der er einige der für L’Enfer vorgesehenen visuellen Konzepte einfließen ließ. Gesundheitliche Probleme machten ihm zusehends zu schaffen, er musste sich in den nächsten Jahren mit dem Verfassen von Drehbüchern begnügen, die er aber nicht mehr umsetzen konnte. Henri-Georges Clouzot starb am 12. Januar 1977 in seiner Pariser Wohnung.