Cary Fukunaga über die langwierigen Vorarbeiten zu „Sin Nombre“, die schwierigen Dreharbeiten und seine Begegnungen mit den Mitgliedern von Mara Salvatrucha.
Wie kommt ein US-Filmstudent schwedisch-japanischer Abstammung dazu, seinen ersten Spielfilm ausgerechnet über die mörderischste Jugendgang Mittelamerikas zu drehen, noch dazu vor Ort im Süden Mexikos?
Cary Fukunaga: Nun, ursprünglich wollte ich ja Profi-Snowboarder werden. Doch mit 23 wurde mir klar, dass ich es nicht an die Spitze schaffen würde. Ich wollte aber immer der beste sein, wollte anerkannt, berühmt sein (Lacht.) So kam ich erst relativ spät auf die Idee, Filmregisseur zu werden, bekam dann auch einen Filmstudienplatz an der Universität New York. Ich hatte einen Kurzfilm (Victoria para chino) über illegale Immigranten aus Zentralamerika in Texas gemacht und dazu jede Menge Material gesammelt. Dabei fand ich zu meiner Überraschung heraus, dass nicht der Grenzübertritt in die USA, sondern die Reise auf den Dächern von Güterzügen durch Mexiko das gefährlichste an ihrer Reise war, und diese Gefahren werden im Film gezeigt. Mein Stief-vater war Mexikaner, und er war Surfer.
So fuhren wir oft für ein bis zwei Monate nach Mexiko und verbrachten dort viel Zeit am Strand. Da lernte ich schon während meiner Schulzeit die Sprache und den Umgang mit den Kids dort, wir surften und spielten Fußball. Das machte es leichter, mich mit den Gangmitgliedern zu verständigen und ihr Vertrauen zu erlangen.
Wie ging das vonstatten?
Cary Fukunaga: Ich reiste im Sommer 2005 in die südmexikanische Provinz Chiapas, sah mich dort um und erlangte die Erlaubnis, Gangmitglieder im Gefängnis zu interviewen. Zunächst zeigten sie kein Interesse, mit mir zu reden. Aber ich bin hartnäckig, kam immer wieder, und langsam vertrauten sie mir, aber das dauerte echt lange. Und in Stadtgebiete, die von Banden kontrolliert werden, spaziert man natürlich nicht einfach so rein, da braucht man Kontakte, jemanden, der die Verbindungen herstellt. Erst nach eineinhalb-jährigen Recherchen kam ich in diese Barrios, studierte die Lebensbedingungen, sprach mit Anwohnern. Acht Monate vor Drehbeginn wollte ich dann endlich eine Bande live beobachten, ihren Umgang miteinander, um das im Film authentisch darstellen zu können. Ich hatte ein noch immer aktives, einflussreiches Mitglied in Tapachulas kennen gelernt. Es bedurfte allerdings sehr viel Beharrlichkeit und Überredungskunst, bevor er ein Treffen mit der Gang arrangierte.
Eine der drastischsten Szenen im Film zeigt, wie ein Ermordeter in Stücke geschnitten und an Hunde verfüttert wird.
Cary Fukunaga: Das ist nicht erfunden, aber es ist üblicher, die Stücke zu verbrennen.
Sie sind ja selbst mit illegalen Emigranten aus Honduras auf einem Zugdach durch Mexiko gefahren.
Cary Fukunaga: Fast alle Szenen im Skript basieren auf meinen Beobachtungen dort, all die Details: wie die Leute essen, Wasser trinken, singen, sich vor dem Regen schützen, die Art, wie sie sich unterhalten, Taschenlampen in der Nacht. Wir drehten dann auch auf einem der Züge, mit dem diese Leute fahren. Dazu mussten wir dem Zugführer und dem Schaffner etwas Geld geben. Das war dann kein Problem, es ist schwer, zu Geld „nein“ zu sagen.
War die Sicherheit bei den Aufnahmen an Originalschauplätzen kein Problem? Der Filmemacher Christián Poveda war nach Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm über eine Mara-Gang in San Salvador (La vida loca, 2008; Anm.) erschossen worden.
Cary Fukunaga: Ich bin nicht so sicher, ob er von der Gang erschossen wurde. Die Behörden sagen, es war die Gang, aber vielleicht war sie es gar nicht. Wir mussten natürlich Schutzgeld zahlen, das ist ganz normal dort in den Barrios, überall gibt es da diese örtlichen Mafias, das muss man im Budget einplanen. Wir hatten einige Security-Leute, aber so wenig wie möglich, denn je mehr Bewaffnung man hat, desto mehr Bewaffnete zieht man an.
In den vergangenen Jahren gab es eine Menge Filme über solche Gangs, vor allem aus Favelas in Brasilien. Haben die Sie inspiriert?
Cary Fukunaga: Nicht wirklich. Ich wollte nicht so einen Look wie in City of God. Ich war mehr von Cassavetes oder Terrence Malick beeinflusst. Ich wollte einen natürlichen Look.
Mit Edgar Flores in der Hauptrolle des Willy und Luis Pena als stellvertretenden Bandenchef El Sol fanden Sie zwei besonders authentisch wirkende Darsteller.
Cary Fukunaga: Beide haben viel gemeinsam mit ihren Rollen. Luis wurde erstmals vor etwa sechs Jahren für einen Film gecastet, da war er 17 oder 18 und kam aus einem Hardcore-Bezirk in Mexico City. Und Edgar stammt aus einem solchen Bezirk in Tegucigalpa. Denen brauchte ich nicht zu sagen, wie sie spielen sollten, sie kannten das schon. Und solche Typen zeigen anderen Akteuren, die nicht diesen Hintergrund haben, dass tough sein nicht so sehr mit Tollkühnheit, sondern mit einer gewissen Gefasstheit zu tun hat.
Was treibt Jugendliche und sogar Kinder dazu, diesen Banden beizutreten – Armut, die mittelamerikanische Macho-Kultur?
Cary Fukunaga: Da gibt es nie einen, sondern immer mehrere Faktoren. Es sind überraschend viele Kids aus der Mittelschicht dabei, die Anschluss suchen – es liegt also nicht immer nur an der Armut. Es kommt auch darauf an, in welcher Gegend man aufwächst. Wenn man in einem Stadtteil mit starker Banden-Präsenz groß wird, ist die Wahrscheinlichkeit größer, sich mit ihnen einzulassen, durch Beeinflussung von Gleichaltrigen. Da ist auch eine Faszinationskraft, das Gefühl von Stärke, das die Gang vermittelt. Es werden besonders Jugendliche angezogen, die sich einsam oder allein gelassen in der Welt fühlen. Übrigens läuft das in Wohlstandsgesellschaften doch genauso. Da gibt es in den kapitalistischen Konzernen auch diese Gang-Mentalität mit ihren Hierarchien, Kontrollmechanismen und Angstmomenten. Da geht es auch um Macht und Einfluss. Die Aggression gibt es dort ebenfalls, nur wird sie anders ausgeübt.
Was ist Ihr persönlicher Eindruck von den Mara-Bandenmitgliedern?
Cary Fukunaga: Mit Ausnahme einiger psychotischer Typen waren die meisten von denen, die ich getroffen habe, in mancherlei Hinsicht gut, und in mancherlei Hinsicht schlecht – so wie Willy. Das waren noch Kids, aber einige hatten schon mehrere Leute umgebracht, und einige wollten mehr Menschen töten – nicht aus Lust an einem verrückten Leben in Anarchie, sondern weil diese Leute ihre Feinde waren. Doch sie konnten trotzdem noch lustig und nett sein, Geschichten erzählen. Sie wollten noch was erreichen in der Welt. Sie haben einfach ein paar falsche Entscheidungen getroffen und sich an den Kreislauf der Gewalt als etwas Normales gewöhnt. Wenn man so jung ist, ist der Gedanke an den eigenen Tod noch vage. Sie sagen zwar, morgen könnte ich sterben, aber richtig glauben tun sie es nicht. Erst wenn man über 30 ist und einem die Endlichkeit des eigenen Lebens bewusst wird, kommt die Furcht, und man möchte was anderes machen. Aber in dem Alter sind die meisten von diesen Jungs entweder im Gefängnis oder längst tot.