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Semih Kaplanoğlu

Bal / Honig

Semih Kaplanoğlu – Ich bin ein Oppositioneller

| Daniela Sannwald |

Bal / Honig heißt der dritte Teil einer rückwärts erzählten Trilogie um den Dichter Yusuf, der heuer auf der Berlinale Premiere hatte und den Goldenen Bären gewann. Nach seinen Vorläufern Yumurta / Ei (2007) und Süt / Milch (2008) kommt Bal schließlich in Yusufs Kindheit an. Im ersten Teil, Yumurta, ist Yusuf erwachsen, lebt in Istanbul und kehrt zum Begräbnis der Mutter in seineHeimat in der westtürkischen Region Izmir zurück, wo er den gemächlichen provinziellen Lebensstil wieder schätzen lernt. In Süt ist Yusuf ein jugendlicher Schulabgänger, der seine Mutter beim Verkauf von Milch und Käse aus eigener Produktion unterstützt und kurz vor der Einberufung zum Militär steht. In Bal, der auch ohne Kenntnis der beiden anderen Teile verständlich ist und einfach eine Kindheit erzählt, ist Yusuf ein schüchterner, stotternder Junge, der nur mit seinem Vater, einem Imker, fließend spricht. Dabei sehnt er sich danach, vom Lehrer die Belohnungsnadel für gutes Lesen angesteckt zu bekommen. Eines Tages verschwindet der Vater, und Yusuf erhält schließlich die Nadel – dann jedoch bedeutet sie ihm schon fast nichts mehr. Bal spielt in der Region Trabzon am östlichen Schwarzen Meer, im 3.000 Seelen zählenden Bergdorf Çamlıhems¸in, wo es seltenen, wilden Honig gibt, der aus Bienenstöcken in hohen, alten Bäumen gewonnen wird. Dort fand Regisseur Semih Kaplanoğlu sowohl seinen siebenjährigen Hauptdarsteller Bora Altas¸ als auch die unberührten Wälder und traditionellen Gewerbe, die er für seinen wunderbaren Spielfilm brauchte.

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Warum haben Sie für die einzelnen Teile der Trilogie verschiedene Schauplätze gewählt?
Semih Kaplanoğlu: Ausgangspunkt für Yumurta und Süt war die Kleinstadt Tire im Hinterland der Ägäischen Küste; das ist meine Heimat. Von da aus haben wir für die beiden ersten Teile weitere Schauplätze gesucht. Ich wollte, dass man in Süt die voranschreitende Modernisierung der anatolischen Provinz sehen kann. In Yumurta kam es mir ein bisschen mehr auf die ländlichen Traditionen an. Für Bal aber brauchte ich Wälder; ein abgelegenes Haus am Waldrand, hohe Nadelbäume, unberührte Natur. Eine solche Location ist schwer zu finden, wir mussten lange suchen. Ich habe wieder im Ägäischen Raum angefangen, konnte dort aber keine natürliche Umgebung, wie sie mir vorschwebte, mehr entdecken. Dann habe ich am westlichen Schwarzen Meer weitergesucht und am Mittelmeer. Dort gab es zwar solche Schauplätze, aber entweder machten die Behörden Schwierigkeiten oder es handelte sich um militärische Sperrgebiete. In Çamlıhems¸in schließlich fand ich alles, was ich brauchte, sogar die Grundschule, in die Yusuf geht. Das ist schon ein sehr besonderer Ort, der aussieht, als ob das Leben und die Menschheit dort ihren Anfang genommen hätten.

Kannten Sie die Gegend vorher?
Semih Kaplanoğlu: Ich war als Kind und später als Jugendlicher einmal dort, als Tourist, ich konnte mich noch erinnern. Aber man hat einen anderen Blick, wenn man einen Schauplatz sucht. Man schaut genauer hin: auf die Lebensweise der Leute, ihren Umgang miteinander, ihre Gebrauchsgegenstände.

Haben Sie so auch die alten Berufe des Imkers und des Seilers gefunden? Der Seiler stellt ja die besonderen Stricke her, mit denen der Imker zur Honigernte auf die Bäume klettert …
Semih Kaplanoğlu: Nein, die Geschichte handelte ja von Anfang an von einem Imker. Und die gibt es natürlich überall in der Türkei. Aber in der Gegend um Çamlıhems¸in fand ich die Tradition des dunklen Honigs, und alles war dichter, die Bäume, die Berge. Und das Handwerk des Seilers gibt es nur noch an zwei Orten, einer war in Tire, wo ich die ersten beiden Teile der Trilogie gedreht habe, von dort habe ich das Handwerk praktisch transportiert. Früher gab es das viel: In den bergigen Gegenden brauchte man Seile zum Bäumefällen und Klettern oder um die Tiere zu führen. Auch in der Seefahrt wurden sie benutzt.

Sie haben bei der Verleihung des Goldenen Bären gesagt, dass das ökologische Gleichgewicht dieser Gegend durch große Wasserkraftwerksprojekte gefährdet sei.
Semih Kaplanoğlu: Als ich die Gegend entdeckte, war das abenteuerlich, es gab keine Wege, alles war ursprünglich, leer, nur ein Dorf mit Imkern. Das war ein bisschen wie am Amazonas, teilweise ohne Elektrizität. Jetzt baut man Wasserkraftwerke, riesige Maschinen überall, sie fällen die Bäume und verlegen Leitungen, und sie verändern den Verlauf der Flüsse. Viele sind dort arbeitslos, die jungen Leute sitzen im Kaffeehaus herum; und man versucht, sie für die Projekte zu gewinnen, indem man ihnen schlecht bezahlte Arbeit gibt, aber ohne Sozialversicherung, für drei, vier Monate, und danach ist wieder nichts. Die Einwohner von Çamlıhems¸in sind ein bisschen anders drauf, sie protestieren, gehen vor Gericht. Aber die Investoren lassen sich nicht stoppen. Diese Typen machen einfach weiter und gehen mit einer immensen Geschwindigkeit vor. Es gibt ein Bündnis am östlichen Schwarzen Meer, ein bürgerliches Engagement gegen die Projekte. Vielleicht kommen von dort langsam Resultate. Leider kommt es auch vor, dass Investoren vom Staat bestimmte Gebiete pachten und dann mit Gewinn weiterverpachten, und die neuen Pächter brauchen sich nicht an irgendwelche Aufl agen zu halten, sie machen einfach, was sie wollen. Aber wenn die Entwicklung irreversibel erscheint, gibt es jedenfalls eine Reaktion der dortigen Betroffenen. Jetzt hat man angefangen, dieses ganze Geschäft ein bisschen zu kontrollieren. Einen Monat nach meiner Rede auf der Berlinale hat der Regierungspräsident einen Baustopp in Çamlıhems¸in verhängt, weil die Bevölkerung begriffen hat, dass die Flüsse austrocknen, aber es ist schon so viel investiert worden. Man weiß nicht, wie es weitergeht.

Verstehen Sie sich also als politischer Filmemacher?
Semih Kaplanoğlu: Wie jeder Mensch zu dieser Zeit in der Türkei bin ich politisch aufmerksam. Als Bürger dieses Staates möchte ich, dass solche Dinge nicht passieren. Ich bin ein Oppositioneller, aber ich möchte meine politische Position nicht definieren. In der Türkei sind diese Definitionen viel zu komplex, aber ich unterstütze bestimmte Anliegen, natürlich.

Am 12. September wird es eine Volksabstimmung über Gesetzesänderungen geben. Wie werden Sie beim Referendum abstimmen?*
Semih Kaplanoğlu: Mit „ja“ natürlich. Es gibt gerade einen merkwürdigen Propagandakrieg darum, welche Position man einnehmen soll. Das Referendum ist sehr umstritten, weil es einigen nicht weit genug geht. Bürgerrechte, Menschenrechte, all das soll geändert werden, es geht um mehr Demokratie, und ich bin Demokrat. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Nicht nur Sie, auch einige andere türkische Filmemacher haben sich in ihren jüngsten Filmen mit der Provinz befasst, mit dem Verschwinden von ländlichen Traditionen und Lebensweisen. Kann man Ihre Filme Heimatfilme nennen?
Semih Kaplanoğlu: Ich weiß, dass es in Deutschland und Österreich diesen Begriff gibt, diese Art von Filmen. Ich weiß nicht … Aber wenn man ihn anders definiert, ja, das kann sein.

Ich denke, dass es eine bestimmte Sehnsucht der Filmemacher nach der verlorenen Heimat gibt, die auch Sie in Ihren Filmen ausdrücken.
Semih Kaplanoğlu: Es gibt eine Tradition der Melancholie in der türkischen Literatur: Schriftsteller wie Orhan Pamuk haben sich mit einer verloren gegangenen Zeit auseinandergesetzt. In ihren Werken gibt es eine gewisse Ablehnung der neuen Türkei. Die jüngeren türkischen Filmemacher übertragen dieses Gefühl auf verloren gegangene Orte, Räume. Sie gehen zurück in die Regionen, wo sie aufgewachsen sind, und stellen fest, dass sich alles geändert hat. Aber wir gehen jetzt alle schon auf die 50 zu, wir sind also gar nicht mehr so jung, vielleicht hängt das damit zusammen.

Der Heimatfilm nimmt, auch wenn man ihn als Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne begreift, in der Regel eine konservative Position ein.
Semih Kaplanoğlu: Ja, ich auch. Wir leben in einer schönen, vielfältigen, reichhaltigen Welt und in der Türkei in einer multikulturellen Gesellschaft, und die muss erhalten bleiben. Als Intellektuelle müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass das geschieht. Also bin ich als Intellektueller in diesem Sinne konservativ.

Sollte die Türkei der EU beitreten?
Semih Kaplanoğlu: Das liegt ja nicht allein an der Türkei, aber das wäre natürlich eine wichtige Sache. Wir müssen die Standards der EU erreichen, was demokratische Strukturen und Menschenrechte betrifft. Aber es geht ja nicht nur darum, die Bedingungen der EU zu erfüllen, das muss auch von innen kommen. Gleichzeitig sollte die EU transparenter sein; es scheint, dass sie sich nicht in die Karten gucken lassen will, was den Türkeibeitritt betrifft. Wir müssen uns auf jeden Fall gegenseitig noch besser kennen lernen. Wahrscheinlich aber würde die EU mit der Türkei als Mitglied noch bunter werden, die Türkei würde zur kulturellen Vielfalt der EU beitragen, sie um Sprachen und kulturelle Traditionen bereichern. Da könnte etwas Gutes herauskommen. Aber das weiß man jetzt nicht.

Sie werden sicher häufig mit der Frage nach der Situation der Frauen in der Türkei konfrontiert.
Semih Kaplanoğlu: Meines Erachtens leben die Frauen in der Türkei teils unter schlechteren, teils unter besseren Bedingungen als in Westeuropa. Was die Menschenrechte betrifft, sind in der Türkei nicht nur die Frauen schlechter dran, das ist keine Frage. Aber die Frauen treten bei uns immer mehr in Erscheinung, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht, auch wenn viele Westeuropäer denken, dass wir rückständiger werden. Aber, und das ist das Wichtigste: Sie studieren, arbeiten, nehmen am sozialen Leben teil, und ich denke deshalb das Gegenteil.

Frauen spielen in Ihren Filmen keine große Rolle. Abgesehen von Melegin düsüsü / Angel’s Fall (2004), haben Sie bisher keine Frauengeschichte erzählt.
Semih Kaplanoğlu: Das ist wahr. Das sagt meine Frau auch: immer nur Männer, keine Frauen. Ich denke aber über ein neues Projekt nach, das wird wahrscheinlich eine Liebesgeschichte sein, die in Istanbul spielt. Ich habe noch kein Drehbuch geschrieben, aber langsam werde ich mich dran setzen. Ich würde auch gern einen historischen Film drehen, der im Osmanischen Reich spielt. Was ich davon zuerst mache, weiß ich noch nicht. Sowieso muss ich natürlich eine Finanzierung finden.

Aber das dürfte doch nach dem Goldenen Bären nicht mehr so schwierig sein.
Semih Kaplanoğlu: Doch, wenn ich wirklich künstlerische Freiheit haben will, schon. Und ich will keine Produzenten haben, sondern selbst produzieren.

* Die regierende islamisch-konservative AK-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will mit der Änderung Machtbefugnisse des Parlamentes stärken und Rechte der Bürger in der Türkei ausbauen. Zugleich soll die Macht von einigen staatlichen Institutionen beschnitten werden, die weitgehend von der Opposition, etwa den Kemalisten, kontrolliert werden. Es geht beispielsweise um die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und die Einschränkung der Macht von Militärgerichten. Die Änderungen gelten als eine Voraussetzung auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Die Verfassung der Türkei wurde 1982 vom damaligen Militärregime diktiert.