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Lee Chang-dong

Koreanisches Kino

Das Geheimnis ist Nichtstun

| Thomas Abeltshauser |

Ebenfalls auf der Viennale: „Poetry“ von Lee Chang-dong. ray sprach mit dem Ex-Kulturminister der Republik Korea über wahre Schönheit hinter hässlichen Bildern.

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Lee Chang-dong ist ein Spätentwickler. Erst mit 40 Jahren wechselte er nach Zwischenstationen als Gymnasiallehrer und Schriftsteller ins Filmgeschäft und gab 1997, als 43-Jähriger, mit Green Fish sein Regiedebüt. Bereits sein zweiter Film Peppermint Candy (2000) lief international sehr erfolgreich auf Festivals. Der Nachfolger Oasis (2002) wurde in den Wettbewerb des Filmfestivals von Venedig eingeladen und später als südkoreanischer Beitrag für den Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert. 2003 wurde Lee zum Kulturminister Südkoreas ernannt, legte das Amt aber bereits im Juni 2004 wieder nieder. Sein nächster Film, der Genremix Secret Sunshine, wurde 2007 nach Cannes eingeladen und erneut für den Auslands-Oscar ausgewählt. Sein neuester Film Poetry lief ebenfalls in Cannes, wo er im vergangenen Mai mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Poetry handelt von Mija, einer älteren Dame, die mit ihrem Enkel Wook in einem kleinen Vorort von Seoul lebt und sich nebenbei um einen behinderten alten Mann kümmert. Eines Tages besucht sie spontan einen Poesiekurs im Kulturzentrum, wo sie der Tutor auffordert, ihren Alltag genauer zu beobachten. Dazu gehört auch das ganz reale Leben ihres Enkels, und sie muss erkennen, dass er offensichtlich mit dem Selbstmord eines jungen Mädchens zu tun hat.

Herr Lee, Ihr neuer Film Poetry handelt von Lyrik als einer aussterbenden Kunstform. Sie gehen aber noch weiter und sagen, das Kino selbst sei in Gefahr. Warum?
Blockbuster wie Avatar und andere Filme, die reine Unterhaltung und Spektakel sind, werden sicherlich nicht aussterben, sondern immer noch mehr Rekorde brechen. Aber Filme, die sich mit Alltäglichem beschäftigen, mit der Realität, in der wir leben und uns etwas über uns selbst erzählen, haben es schwerer und schwerer. Diese Art von Kino, für das ich mich immer interessiert habe, ist im Sterben begriffen.

Sehen Sie Filme wie Avatar also weniger als Kino, sondern eher als ein Unterhaltungsmedium etwa wie Videospiele?
Nein, natürlich ist Avatar auch Kino, aber eben ein völlig anderes Genre. Es hat nicht viel mit dem zu tun, wie ich persönlich Kino definiere.

Ihr Film handelt von Poesie und Sie versuchen, diesem Thema auch in der Inszenierung gerecht zu werden. Wie sind die dabei vorgegangen?
Es ist ein Film über Poesie, aber Poesie ist hier mehr als nur ein literarisches Genre. Sie bezieht sich auf die Kunst im Allgemeinen und das Kino im Besonderen. Ich wollte einen Film über das Kino machen. Einen Film über die unsichtbaren Dinge, die nicht kalkuliert werden können, keinen monetären Wert haben. Poesie im Film zu zeigen, ist immer schwierig, und diese Frage habe ich mir auch gestellt.

Sie zeigen Lyrik als einen kreativen Prozess, der die innere Schönheit von Dingen und Menschen entdeckt. Ihre Art von Kino steht im Gegensatz eher dafür, die dunklen Seiten zu zeigen, den Schmerz und die Verzweiflung.
Ich glaube nicht, dass es in der Poesie immer darum geht, von der Anmut einer Blume zu singen. In der Poesie geht es auch darum, das wahre Schöne in und hinter dem zu finden, was auf den ersten Blick hässlich und schmerzhaft wirkt. Dasselbe gilt für Filme. Zumindest für die Filme, wie ich sie mache.

Was hat es mit den konkreten Gedichten im Film auf sich?
Es gibt sowohl Gedichte bekannten Poeten als auch Gedichte von unbekannten Laien, darunter auch eins der Hauptfigur, das ich selbst geschrieben habe. Ich wollte ganz unterschiedliche Gedichte unterbringen und dem Zuschauer dieses Spektrum auch deutlich machen.

Schreiben Sie selbst regelmäßig Gedichte?
In meiner Jugend habe ich manchmal welche geschrieben, aber seitdem nicht mehr. Erst durch den Film bot sich mir wieder eine Gelegenheit dazu.

In einer Szene wird das deutsche Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ gesungen. Wie hat es sich in Ihren Film verirrt?
Dieses Lied von Schubert ist in Korea sehr bekannt, auch wenn die deutschsprachigen Zuschauer gleich bemerken werden, dass die Figur, die es zur Begrüßung singt, es nicht genau hinbekommt. Das mag ein wenig prätentiös wirken, aber ich wollte eher zeigen, wie rein und unschuldig diese Lyrikfans auf eine Art sind.

Wie haben Sie Ihre Hauptdarstellerin, die koreanische Filmlegende Yun Junghee, davon überzeugt, nach 16 Jahren Leinwandabstinenz erneut vor die Kamera zu treten?
Im Grunde durch den gleichen Ansatz, den ich bei all meinen Darstellern habe. Ich will nicht, dass sie verkörpern, was ich von den Figuren aus dem Drehbuch im Kopf habe, sondern Charaktere entdecken und zum Vorschein bringen, wie wir sie aus dem realen Leben kennen. Sie sollen nicht irgendwen imitieren, sondern mir ihre eigene Wahrheit zeigen. Auch bei Yun Junghee war mir immer der Mensch wichtiger als die Schauspielerin. Ich hatte das Gefühl, dass Mija, die Figur im Film, gut zu ihrer Persönlichkeit passt. Und lustigerweise ist Frau Yuns bürgerlicher Vorname auch Mija.

Sie hat allein 24 Mal den koreanischen Filmpreis als beste Darstellerin gewonnen. Welchen Eindruck hatten Sie von ihr, bevor Sie sie trafen? Haben Sie sich ihre alten Filme angesehen?
Einige kenne ich natürlich, aber bei weitem nicht alle. Sie hat im Lauf ihrer Karriere in über 300 Filmen mitgewirkt. Damals herrschte im koreanischen Kino aber noch ein ganz anderer Stil, eine andere Art des Schauspiels. Es gab zum Beispiel noch keinen Direktton, alles wurde nachsynchronisiert. Jetzt vor der Kamera zu sprechen, war für sie komplett neu und sie hatte anfangs ihre Schwierigkeiten damit. Aber sie war sehr lernbegierig und hat sich schnell angepasst.

Sie schaffen es immer wieder, Schauspielerinnen zu Glanzleistungen zu bringen. Was ist Ihr Geheimnis?
Sollte ich ein Geheimnis haben, wäre es, absolut nichts zu tun. Das Wichtigste für einen Schauspieler ist zu fühlen, sich in die Figur hineinzuversetzen, und das reicht schon. Ich will nicht, dass sie etwas ausdrücken, sie sollen nur fühlen.

In Poetry geht es auch um Demenz. Viele Ihrer anderen Filme behandeln ebenfalls Formen von Geisteskrankheiten. Was interessiert Sie daran?
Ich kann nicht sagen, dass es mich fasziniert. Aber es ist Teil unseres Lebens. Wir alle werden irgendwann krank und müssen sterben.

Haben Sie Demenz im eigenen Umfeld erlebt? Wie haben Sie recherchiert?
Alzheimer hat im Film eine bestimmte Bedeutung. Es ist die Kehrseite von dem, was Mija eigentlich will. In ihren Gedichten erschafft sie Worte, aber zugleich vergisst sie immer mehr. Dieses Paradox, diese abgründige Ironie wollte ich zeigen. Und ja, ich habe auch ein nahe stehendes Familienmitglied, das an Alzheimer leidet.

Als das Mädchen von einer Gruppe gleichaltriger Jungen vergewaltigt wird, reagiert das Umfeld sehr merkwürdig darauf. Die Väter treffen sich, scheinbar völlig unberührt von dem Verbrechen, um „die Sache“ aus dem Weg zu schaffen. Die Jungen zeigen keine Spur der Reue und auch die Mutter des Opfers wirkt regungslos. Wollen Sie damit die Gleichgültigkeit der Gesellschaft anprangern, ist es eine Art Sozialkritik?
Es ist kein koreanisches Phänomen. Die Art, wie die Schule, die Polizei und die Medien reagieren, ist etwas, das man so oder ähnlich fast überall auf der Welt findet. Wenn Jugendliche ein Verbrechen begehen, wird es gerne vertuscht.

Das koreanische Kino ist seit einigen Jahren im Aufwind. Ist es das Ergebnis Ihrer Arbeit als Kulturminister des Landes zwischen 2003 und Ihrem Rücktritt im Juni 2004?
Es hat viele und ganz unterschiedliche Gründe, warum das koreanische Kino so in Bewegung ist. Natürlich auch wegen der staatlichen Unterstützung, aber nicht nur. Hauptsächlich liegt es aber an den jungen Filmemachern, deren Leidenschaft unvergleichbar ist.

War es merkwürdig, nach der Zeit in der Politik wieder zum Filmemachen zurückzukehren?
Im Gegenteil. Für mich war es sehr viel merkwürdiger, Minister zu sein. Das Zurückkommen war einfach.

Sie haben sich währenddessen also keine Feinde gemacht?
Ich wurde als Minister durchaus angegriffen. Aber das war eine komplizierte Geschichte, über die ich mir heute keine Gedanken mehr mache.