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Claude Lanzmann – Es heißt zu wissen

Es heisst zu wissen

| Michael Pekler |

Eine editorische Großtat des kleinen Berliner Verlags absolut Medien: die Claude-Lanzmann-Gesamtausgabe auf DVD.

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Als Claude Lanzmann 1952 zum ersten Mal nach Israel aufbrach, teilte er die Schiffskabine mit einem Rabbi aus Marrakesch. „Er fragte mich auf Hebräisch, ob ich Jude sei“, erzählt Lanzmann später, „das Wort kannte ich, also bejahte ich, worauf er mir widersprach: In seinen Augen war ich kein Jude, denn ich beachtete nicht die Gebote. Auch kam am ersten Morgen eine Israelin in meine Kabine auf diesem israelischen Schiff, um die Kabine zu reinigen. Ich konnte es nicht ertragen, sie vor mir auf allen Vieren kriechen zu sehen, und richtete sie auf. Sie schaute mich an und hielt mich für verrückt. Sie hatte recht.“

Lanzmann hatte vor, eine Reportage aus dem Staat zu schreiben, der erst vier Jahre zuvor gegründet worden war. Ihm schwebte ein ähnlicher Bericht vor wie jener über Ostdeutschland, das er heimlich besucht und über das er für „Le Monde“ eine Serie geschrieben hatte: Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang. Auch Israel war für den französischen Juden Lanzmann eine Terra incognita, ein Land, von dem er nicht viel mehr wusste, als dass es existierte. Doch die Erfahrungen, die er in der Folge machte, ließen es nicht zu, einen Bericht zu schreiben, auch kein Buch, das er nach hundert Seiten abbrach, obgleich ihn sein enger Freund Jean-Paul Sartre ermunterte, die Arbeit fortzusetzen. Lanzmann konnte nicht schreiben. Er musste filmen. Es sollte noch zwanzig Jahre dauern, bis er 1973 seinen ersten Film über Israel drehte. Er nannte ihn Pourquoi Israël. Ohne Archivmaterial. Ohne erklärenden Kommentar. Und vor allem: ohne Fragezeichen.

Was Lanzmann nachhaltig irritierte, war die Normalität, mit der er konfrontiert war und die er bereits auf dem Schiff aus Marseille kennen gelernt hatte. Für diese Frau war es eben nichts Besonderes, auf allen Vieren den Boden zu schrubben, ebenso wenig wie später in Pourquoi Israël für die Polizistin, Juden zu verhaften. Wie man in diesem Land Juden ins Gefängnis sperren könne, will Lanzmann wissen. Sie habe eben noch keinen Araber verhaftet, meint die Frau. In einem Gespräch mit Avraham Schenker, einem Mitglied der zionistischen Exekutive, erklärt dieser Lanzmann das grundlegende Problem, das durch die Staatsgründung entstanden sei: Seit mehr als 2000 Jahren habe die Religion den Zusammenhalt des Judentums garantiert, doch nun sei ein völlig neuer Parameter aufgetaucht, eine neue politisch-geografische Realität: ein Land mit einem Namen, das so tue, als sei das alles normal.

Lanzmanns Frage nach der Normalität in Pourquoi Israël ist deshalb so wichtig, weil sie sich wie ein roter Faden durch alle folgenden fünf Filme zieht und in der „absoluten Anormalität“ (Lanzmann) eine Antwort finden wird. Als Pourquoi Israël am 7. Oktober 1973 in New York seine Uraufführung feiert, überschreiten ägyptische und syrische Truppen die Grenzen Israels und lösen den Jom-Kippur-Krieg aus. Noch im selben Jahr be-ginnt Lanzmann jenes Projekt, das er erst zwölf Jahre später, nach einer fünfjährigen Arbeit am Schnitt von 350 Stunden Material beenden wird: Shoah.

Wie Pourquoi Israël beginnt auch Shoah mit einem Lied, gesungen vom 2006 verstorbenen Simon Srebnik, 1943 mit dreizehn Jahren als „Arbeitsjude“ nach Chelmo deportiert. Und da ist sie wieder, die Frage nach der Normalität: Wie beginnt man einen neuneinhalbstündigen Film über die Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs? Mit dem Bild eines ruhigen Flusses, auf dem ein Boot dahingleitet und ein Mann ein polnisches Lied über ein kleines, weißes Haus singt. Alles hier ist „normal“ oder, wie man gerne auch sagt, „friedlich“. Aber wir wissen aus dem Vorspann des Films, dass Srebnik schon als Junge in Begleitung eines Wachmanns mehrmals die Woche das Flüsschen hinauf fuhr zu den Ställen der SS, „um dort die Kaninchen zu füttern“ – und dabei polnische Volksweisen sang. Und dass in Chelmo vierhunderttausend Juden umgebracht wurden.

Klaus Theweleit weist in seinem Text „Zur Kunst der Filme von Claude Lanzmann“ auf deren spezifischen Kunstcharakter hin und schließt damit an eine Bemerkung Simone de Beauvoirs an, die Shoah als „poetische Konstruktion“ erkannte, „wenn diese Bezeichnung bei einem solchen Gegenstand erlaubt ist“. Dieser „Kunstcharakter“ ist bei Lanzmann ein Mittel, der „Normalität“ beizukommen. Wir sehen Srebnik den Weg entlang gehen, sehen ihn stehen bleiben, mit dem Kopf nicken. „Viele Leute waren hier verbrannt“, sagt er. „Ja, das ist das Platz.“ Erst dann schwenkt die Kamera über die Wiese, lässt die Reste von Steinmauern erkennen, hört man das Vogelgezwitscher. Aber man sieht es mit anderen Augen (der Toten), erkennt die absolute Anormalität der Szenerie. Ab nun wird jeder Dokumentarfilm über den Holocaust an Bildern wie diesem gemessen werden.

Nach Shoah, diesem gewaltigen Film und Gewaltakt, drehte Lanzmann mit Tsahal einen knapp fünfstündigen Film über die israelische Armee, nach eigenen Worten jedoch in erster Linie über die „Wiederaneignung der Gewalt durch die Juden“. Doch in Wahrheit war Shoah nicht abgeschlossen, konnte nicht abgeschlossen sein: Zu viel Material war aus unterschiedlichen, dramaturgischen wie künstlerischen Gründen nicht verwendet worden. Und seither geht Lanzmann daran, das Material weiter aufzuarbeiten, wichtige Leerstellen zu füllen: mit Un vivant qui passe über und mit Maurice Rossel, Schweizer Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes und Verfasser eines beschönigenden Berichts über Theresienstadt; mit Sobibor,
14 Octobre 1943, 16 heures
über und mit Yehuda Lerner und dessen Rolle beim Aufstand im Vernichtungslager Sobibor; und nun Le Rapport Karski mit und über Jan Karski (1914–2000), Kurier für den polnischen Widerstand.

Lanzmann hatte Karski 1978 an zwei Tagen für mehrere Stunden befragt, für Shoah jedoch nur die Aufnahmen des ersten Gesprächs verwendet. Die Rolle Karskis in Shoah ist deshalb so wichtig, weil er die Zeugenschaft, die Lanzmann immer und überall wie ein Archäologe sucht, aufgrund seiner Aufgabe als Übermittler von Nachrichten personifiziert: Karski, ins Warschauer Ghetto eingeschleust, konnte und wollte nicht glauben, was er hier sehen und worüber er berichten musste, zunächst der polnischen Exilregierung in London und auf deren Betreiben hin dem US-Präsidenten Roosevelt als wichtigstem Mann der „freien“ Welt. „But I reported what I saw“, meint er gegen Ende des Gesprächs in Shoah – und schließt damit den Bogen zu seinem allerersten Satz, den er unter Tränen abbricht: „Now I go back 35 years. No, I don’t go back.“

Man sollte sich vor Le Rapport Karski unbedingt die Aufnahmen dieses ersten Tags aus Shoah noch einmal ansehen, um zu verstehen, warum Lanzmann 25 Jahre später diesen Baustein seinem Lebensprojekt hinzufügt. Das Material des zweiten Tages, an dem Karski die Reaktionen auf seine Berichte und vor allem sein Treffen mit Roosevelt schildert, habe er damals aus künstlerischer Sicht nicht verwenden können, so Lanzmann, weil es zu diesem Zeitpunkt galt, die „Strenge der Tragödie zu wahren“. Zudem sei Karski – und diese Einschätzung bestätigt sich nach wenigen Minuten – am zweiten Tag anders aufgetreten: eloquent, beinahe staatsmännisch in seiner Rolle als Vermittler und nicht mehr als Zeuge des Grauens. Wiederholt weist Karski darauf hin, dass er sich der Bedeutung seines „Auftritts“ bewusst ist. „I understand. You want to have testimonies for historical records for some archives. So I must be very precise“, sagt er zu Beginn von Le Rapport Karski. Dass sein folgender Bericht nun erstmals als eigener Film vorliegt, ist ein Glücksfall, weil er einmal mehr auf wunderbare Weise Lanzmanns Methode zum Vorschein bringt, wie Erinnerungsarbeit funktioniert: Nicht durch das bloße Aufstellen der Kamera und das Befragen der Zeugen, sondern durch exakte Vorbereitung (die wie bei Rossel auch Überrumpelung sein kann) und durch eine kalkulierte Inszenierung, um jenen Moment zu erreichen, an dem die Worte der Zeugenschaft wie aus einem verschlossenen Gefäß hervorbrechen. In Le Rapport Karski kann man beobachten, wie sich im Laufe der Zeit Karskis Stimme verändert, wie er jene von Roosevelt imitiert, letztlich die Kamera nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bühne begreift. Lanzmann hat sein Ziel erreicht: Karski hat sich vor der Kamera die Aufgabe gestellt, noch einmal Zeugenschaft abzulegen. Denn für Lanzmann ist Karski nicht nur ein „Faktor in der Geschichts- und Geisteswissenschaft“, sondern auch eine Antwort auf die zentrale Frage: Was heißt es zu wissen?

Es kann dem kleinen Berliner Verlag absolut Medien nicht hoch genug angerechnet werden, Le Rapport Karski als Teil einer neuen Gesamtedition der Filme Lanzmanns – nach der Joris-Ivens-Ausgabe die zweite editorische Großtat des Verlags in diesem Jahr – zu veröffentlichen. Es gibt keine bessere Möglichkeit, den ungeheuerlichen Vorfällen rund um die Hamburger Aufführung von Pourquoi Israël im Oktober 2009 oder der unsinnigen deutschen Debatte rund um Lanzmanns Autobiografie „Der patagonische Hase“ die wiederholte Sichtung aller Filme entgegenzusetzen. Das menschliche Gehirn, das menschliche Begriffssystem, so Karski am Ende seines Berichts, könne nur innerhalb bestimmter Grenzen funktionieren, hauptsächlich geprägt durch unsere Umgebung: durch Wissen, Bücher und Informationen.

Er hätte auch anfügen können: durch Filme wie diesen.