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Winter’s Bone Jennifer Lawrence

Winter’s Bone

Die Knochensucherin

| Gunnar Landsgesell |

Das US-Filmschaffen findet in einigen Produktionen vergangener Jahre Bilder zur eigenen gesellschaftlichen Krise. Man könnte diese Filme auch Neo-Neorealismus nennen. Debra Graniks Thriller „Winter’s Bone“ ist in erweitertem Sinn auch so ein Fall.

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Vor ziemlich genau zwei Jahren fragte der Filmkritiker der „New York Times“, A.O. Scott, welche Form von Film das Land eigentlich brauche, um für seine durchlebte Krisenhaftigkeit die richtigen Bilder zu finden. Er verwies auf einige Independent-Regisseure wie Ramin Bahrani (Chop Shop, Good Bye Solo), Kelly Reichardt (Wendy and Lucy, Old Joy) oder Ryan Fleck/Anna Boden (Half Nelson, Sugar), deren Produktionen sich trotz minimaler Budgets, spröder production values und subjektiv gehaltener Geschichten beachtliche Wahrnehmung bis in Mainstream-Medien erarbeiten konnten. Aus heutiger Sicht ließen sich noch einige weitere, eng am Leben geführte Projekte nennen, wie die an der Grenze zu Kanada von bestechender Intelligenz und Schönheit inszenierte winterliche Erzählung Frozen River (der 44-jährigen Erstlingsfilmerin Courtney Hunt), Lance Hammers im Mississippi-Delta zäh-düster-minimalistisch angesiedelte Familienverstrickung Ballast oder eben Debra Graniks ersten Langfilm Down to the Bone. Scott sah in diesen Filmen jenen Ausdruck eines kulturellen Unbehagens eingelöst. Der Illusionsmaschine würde eine Absage erteilt, und angesichts der geplatzten Immobilienblase und der beschädigten Biografien, die sie hervorgebracht hat, sowie der damals aufbrechenden Finanzwirtschaftskrise, würde damit jener Selbstbetrug beendet, dem sich das Publikum in trautem Verbund mit Hollywood hingebe. Scott verwies somit auf das Italien der Nachkriegszeit und sprach in Analogie dazu vom Neo-Neorealismus als neuen Referenzpunkt einer filmischen Wirklichkeitsproduktion.

Neuer Realismus

Tatsächlich finden mit schöner Regelmäßigkeit US-Produktionen in die spärlichen Programmkinos des Landes und vielmehr noch in den internationalen Kino- und Festivalbetrieb, die mit ihren unkonventionellen Erzählarten, dem Blick auf randständige Milieus (die in den Konjunkturen des Neoliberalismus ohnehin drohen, zur gesellschaftlichen Mitte zu werden …) und eine vergleichsweise nackte Ästhetik für so etwas wie einen neuen Realismus sorgen. Wer Neorealismus sagt, muss natürlich auch Namen wie De Sica, Rossellini, De Santis, Lizzani, Pietrangeli nennen. Wie sehr sich ihr Erbe in den aktuellen Indie-Produktionen der USA wiederfindet, darüber waren sich Scott und ein widersprechender Diskutant dann uneins. Die kurze, heftige Kontroverse erfüllte aber ihren Zweck, verstreute Filmproduktionen in einen Wahrnehmungskontext zu bringen. Auch Debra Graniks neuer, zweiter, vielfach preisgekrönter und – spiegelt sich hier schon Scotts Forderung nach reziproker Realitätswahrnehmung? – mit vier Oscar-Nominierungen bedachter Film Winter’s Bone (er ging letztlich leer aus) passt da gut. Und auch wenn sich das italienische Subproletariat der Vierziger Jahre, forcierte moralische Haltungen, die melodramatische Form oder der neoveristische absolute Wahrheitsbegriff in nordamerikanischen Produktionen (und Gesellschaften) heute so nicht finden mögen, gibt es Anknüpfungspunkte.

Nur ein konkreter Querverweis: Was Enno Patalas in seiner „Geschichte des modernen Films“ über Viscontis Provinzdrama Ossessione (1943) schrieb, gemahnt geradezu an die Prämissen von Graniks Projekt. Über die stete Bezogenheit von Natur und Milieu gelange man zur sozialen Existenz des Menschen, Natur fungiere nicht als pittoreske Auskleidung, sondern als prägende Kraft. Daraus erwächst eine Tiefe, die im Realismus gründet, ohne die Bedeutsamkeit dramaturgischer Zeichen zu vernachlässigen. Von Viscontis anthropomorphen Ideen zu Graniks erklärtem Ziel, den Handlungsort von Winter’s Bone als visual anthropology aufzubauen, ist es nicht weit. Granik hat, der Buchvorlage von Daniel Woodrell (dem Autor der Romanvorlage zu Ang Lees Ride with the Devil) entsprechend, ihre Geschichte in den winterlichen Ozark Mountains angesiedelt: eine der wohl vielen entlegenen Gegenden Missouris, ein Raum mit kulturellen Signifikanzen, die Granik akribisch für ihre Realismusproduktion wie auch den Doppelcharakter für die Thrillerstruktur einbezieht. Das Haus der Hauptfigur ist eine Blockhütte wie zu Siedlerzeiten. Auf der Veranda baumeln an Schnüren aufgefädelte Knochen. Der Widerhall von Schüssen, heulende Hunde, verhangene Fenster, Holzhütten mit Schutzwällen aus Schrott, braune Waldlandschaften im Winter. Die Natur, in der das Publikum die Protagonistin vorfindet, könnte kaum feindlicher und zugleich kaum erdiger sein. Nutzkleidung oder Sweater, bevorzugt mit Hirsch oder mit Adler, schwere Schritte, amerikanische Flaggen. Ein Stück Horn an der Halskette. Ein Land entdeckt sich im Bild quasi neu.

Im Mittelpunkt von Winter’s Bone steht eine junge Frau, Ree (vielleicht in der Rolle ihres Lebens: Jennifer Lawrence), die mit ihren beiden Geschwistern und ihrer verstummten, vermutlich depressiven Mutter in einem der vereinzelten Blockhäuser dieser Waldlandschaft lebt. Der Vater ist verschwunden. Als meth cooker, also als Hersteller einer als extrem zerstörerisch geltenden synthetischen Droge namens Methamphetamine, verhaftet, hat der Vater im Moment seines Untergangs als Bürgschaft noch Haus und Grund mitgenommen. Der Zeitrahmen des Films gibt Ree sieben Tage Zeit, um den Vater zu finden, sonst verliert die Familie ihr Zuhause. Sie macht sich auf den Weg, sucht Nachbarn auf und trifft auf eine Mauer des Schweigens, Hintergründe unklar. Das ist dem Plot des Films geschuldet, der das Gerüst eines Thrillers und selbst Elemente des Horrorfilms bereithält, gibt aber – Stichwort Realismus – auch einen Hinweis auf den transgressiven Charakter dieser Figur selbst: Mädchen sollten ihre Nase nicht in Dinge stecken, die außerhalb ihres zugewiesenen sozialen Spielraums liegen. Auch oder gerade nicht in einem Umfeld, dessen rauer Traditionalismus unter dem Eindruck möglicher Drogenverstrickungen zu einer grundsätzlich feindlichen Haltung verkümmert ist.

So verlängern sich beim Autorinnen-Team Granik und Anne Rosellini (zugleich Graniks Koproduzentin) Situationen wie jene, in der Ree die rein männlich dominierten Hallen einer Rinderauktion betritt, in lebensbedrohliche, drastisch dargestellte Lektionen. Gewalt liegt in diesem Film überhaupt ständig in der Luft. Die Autorinnen setzen Eskalation aber sehr punktuell ein. Sie sind spürbar darum bemüht, die Frage struktureller Gewalt als Teil ihrer visual anthropology nicht durch stete Exzesse verschwinden zu lassen. Immer wieder schälen sie Bilder aus der Erzählung, an denen sich die Ambiguitäten der Situation ihrer Protagonistin ablesen lassen. Eine gesellige Runde, in der Country Music praktiziert wird, betritt Ree wie selbstverständlich, nur um feststellen zu müssen, dass sich diese augenblicklich in einen fremden Ritus verwandelt. Abweisende Blicke und aus dem Mund einer beeindruckend herben Sängerin die Lyrics: If I was a sparrow, I would fly away. Ungefähr so lautet die Botschaft.

Gegen den Strom

Die Schönheit, die Filme wie Wendy and Lucy, Ballast oder Winter’s Bone ausstrahlen, ist nicht allein in ihrer Ästhetik, etwa in der unheimlichen Stille oder empfundenen Ferne ihrer Landschaften zu finden, sondern auch in ihrer relativen Langsamkeit. Reichardt und Hammer setzen ihre Zeitökonomien etwa gegen handelsübliche Dramaturgien, sie lassen Dinge geschehen. Beim Publikum soll sich ein Gefühl von Echtzeit einstellen. Bei Winter’s Bone verhält sich das anders, der Film hat nicht alle Zeit der Welt, er befindet sich vielmehr im Kampf gegen die Zeit. Ree hat eine Woche, um ihren Vater zu finden. Granik geht mit diesen Spannungselementen behutsam um, um ihre akribisch aufgebauten Milieus nicht in einen Rhythmus zu hetzen, der diesen zuwiderläuft. So arbeiten die Zeichen dieser Kulturlandschaft, die improvisiert wirkenden Holzhäuser, die Wellblechverschläge und gestapelten Autoreifen, die gewetzten Messer angesichts eines zu häutenden Tieres, die sogar einen Polizisten zum Rückzug animieren, vor allem auch die dürren Mimiken der Menschen (gänzlich im Gegensatz zu jener von Ree) konsequent daran, den Spannungsbogen des Plots zu fördern und gleichermaßen zu unterlaufen, ihn zu bremsen. Wo Genre-Produktionen nach zeichenhaften Warnungen und Zuspitzungen suchen, vergisst Granik darüber nicht die Einbettung im Leben. So werden letztlich auch zwei ästhetische Formen verfolgt, die sich gegen Ende in einem märchenhaften Outro egalisieren. Ob das die Glaubwürdigkeit oder Stimmigkeit dieses Erzählens kippen lässt, oder ob damit ein anthropologisches Versprechen eingelöst wird, muss dann wohl jeder Zuseher für sich beurteilen. Immerhin, ein sprechender Fuchs kommt in diesem Film nicht vor. Am Ende steht trotz fairy tale eine Wahrheit, die unausgesprochen und vielfach teil- und interpretierbar einen Fall so oder so zu seinem Ende bringt. Dann soll das Leben im Wald, um ein Tabu reicher, seinen Fortgang finden. Granik versetzt die Handlung mit einigen ermutigenden Momenten, Ree ringt etwa damit, sich nicht auf die Regeln dieser maroden Gesellschaft einzulassen. Diese Widerborstigkeit findet sich auch in anderen neo-neorealistischen Produktionen als unpathetische Haltung wieder, die durch keine Sentimentalitäten mit den Hegemonien der (Film-)Industrie versöhnt werden will.

Man denke an Ramin Bahranis Figuren, etwa den Mann mit dem rollenden Verkaufsstand aus Man Push Cart oder den kleinen Jungen in Chop Shop, der sich am Willets Point, einem Kfz- und Schrottplatz, der wie aus den ärmsten Ökonomien der Welt wirkt, durchschlägt. Bei all diesen Filmen geht es nicht um die Darstellung des Leids, sondern um eine bestimmte Haltung, die letztlich auch die Position einer Kulturproduktion ausdrückt. Bei Granik oder Bahrani kommt diese aus einer praktischen Vernunft, die nicht Barrikaden erklimmen will, sondern sich gegen den Lauf eines Lebens stellt.

Für Granik speziell hat sich die Droge mit ihren Zumutungen als wirkmächtigste Allegorie dafür offenbar angeboten, ohne dass sich die Filmemacherin aber besonders für übliche Repräsentationen interessiert. In Down to the Bone ist das soziale Umfeld der Protagonistin bemerkenswerterweise noch intakt. Vera Farmiga hat Familie, Job, Freunde, Haus, Hoffnung. Granik hat also nicht den Fokus auf übliche Elendsszenarien eingestellt, sondern erzählt von einer Frau, die noch etwas zu verlieren hat. Das verbindet Farmigas Figur mit jener von Ree und trennt sie von exploitativen Filmen (wie Larry Clarks Kids), die ihre Akteure unverkennbar als Junkies zum Leben erwecken. Eine klare Verschiebung der production values gibt es in Graniks zwei Filmen. Die recht nackten Alltagssets – Farmiga arbeitet als Supermarkt-Kassiererin, und ein ähnlich blasses Licht begleitet sie durch den restlichen Film – gibt es in Winter’s Bone nicht. Hier dominieren die Zeichen einer erdigen Kultur mit eigenen Gesetzen, in denen selbst Schule und Militär fast als extraterritoriale Einrichtungen erscheinen.

Es gibt aber auch Humor in Winter’s Bone, auf der Eichhörnchenjagd etwa: Rees Anweisung an ihre beiden Geschwister, ganz leise zu sein, weil sich nur dann die Eichhörnchen zeigten, quittiert der Kleine mit einem kräftigen Niesen. Den erlegten Tierchen das Fell abzuziehen und sie zu auszuweiden, ist hingegen wieder ein mehrfach verwertbares Bild: visual anthropology, irritierende Nahrungsvorsorge in der weltgrößten Wirtschaftsnation, die Gewöhnung an die Waffe schon für Kinder und, nicht zu vergessen, als eines dieser Sinnbilder des Films: Hier wird jemandem das Fell über die Ohren gezogen. Die Gedärme in der Hand fragt der kleine Bruder: „Do we eat these parts?“
„Not yet“, sagt Ree.