ray Filmmagazin » Filmfestivals » Man kann nur Weiterleben

Identities – Man kann nur weiterleben

Man kann nur Weiterleben

| Brigitte Auer :: Oliver Stangl |

Von 2. bis12. Juni findet in Wien wieder das identities Queer Film Festival statt – die Filmauswahl ist dabei spannend wie immer.

Werbung

Die Filmauswahl des identities-Filmfestivals ist auch heuer wieder so bunt wie viele der Protagonistinnen und Protagonisten der Filme. Sei es eine melancholische Komödie aus Tunesien, ein Drama aus den USA oder ein Schwerpunkt zu Brasilien: Die gezeigten Werke beweisen, dass die Themen rund um sexuelle und Gender-Identitäten internationale sind und dass mittlerweile auch in Ländern, in denen dies noch vor nicht allzu langer Zeit nicht möglich gewesen wäre, Filme zum Thema entstehen können – so ist mit Le Fil der erste tunesische Film mit Queer-Thematik zu sehen. Alternative Lebensmodelle – etwa der Kinderwunsch schwuler/lesbischer Paare – werden ebenso thematisiert wie religiöse Heuchelei oder unterdrücktes Begehren. Die Spielfilme werden durch ein hervorragendes Dokumentarfilmprogramm – darunter ein Werk über die legendäre brasilianische Performancegruppe Dzi Croquettes – und eine Reihe von Kurzfilmen aus Brasilien und Kanada ergänzt. Dass Filme mit Queer-Thematik längst keine Nischenprodukte mehr sind, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Preise, mit denen sie mittlerweile auf internationalen Festivals ausgezeichnet werden.

Gefährliche Sehnsucht

Die Filmemacherin Myriam Aziza beschäftigt sich in La Robe du soir (The Evening Dress, Frankreich 2009) mit der Sehnsucht nach Zuneigung: Die zwölfjährige Juliette ist in ihre Französischlehrerin Hélène Solenska verliebt. Diese geht zwar gekonnt mit den sexuellen Anspielungen der Pubertierenden um, die Grenzen zum Flirt verschwimmen jedoch häufiger, denn Madame Solenska scheint sich in der Rolle der schönen Helena aus der griechischen Mythologie zu gefallen, beispielsweise, wenn sie ihrer Klasse das Lied der Penelope über süße verbotene Gedanken vorsingt. Juliette ist klug, ein wenig verschlossen und behauptet von sich, keine Leidenschaften zu haben. Ihr kahles Zimmer würde das bestätigen, wäre da nicht die kleine schwarze Schachtel, in der sie alle Sehnsuchtsreliquien verbirgt. Wie das von der Lehrerin geliehene Buch, das Juliette durchforstet, Gebrauchsspuren betastet, ihren Geruch darin wiederzufinden sucht und den Geschmack eines Haares probiert. Bald jedoch steigert sich Juliettes Verehrung in Besessenheit, sie verfolgt die Lehrerin und kann mit ihren Gefühlen nicht umgehen, als sie ihren Mitschüler Antoine aus Solenskas Wohnung kommen sieht. Voller Eifersucht konfrontiert Juliette die Lehrerin in der Klasse damit, mit Antoine zu schlafen. Eine Eskalationsspirale setzt sich in Gang, die beinahe ein böses Ende nimmt. Mit den Emotionen und Ausdrucksmöglichkeiten der Erwachsenenwelt können die Jugendlichen nur unbeholfen umgehen. Sie sitzen schlecht, wie das schwarze Abendkleid von Juliettes Mutter, welches das Mädchen heimlich anprobiert.

Regisseurin Julia Solomonoff ist mit der 2009 entstandenen argentinisch-spanisch-französischen Ko-Produktion El último verano de la Boyita (The Last Summer of La Boyita) ein ebenso stimmungsvoller wie positiver Film gelungen. Der Wohnwagen „La Boyita“ ist das Kindheitsrefugium der Schwestern Jorgelina und Luciana, doch die ältere und heftig pubertierende Luciana interessiert sich immer weniger für geschwisterliche Zweisamkeit und mehr für ihren Körper und die Auswirkungen, die dieser auf ihre männlich-jugendliche Umgebung ausübt. Jorgelina bleiben nur die medizinischen Bücher ihres Vaters, um die Veränderungen nachzuvollziehen, die um sie herum geschehen. Ferien nur mit dem Vater auf dessen Ranch kommen da sehr gelegen, auch weil Jorgelina dort Mario wiedertrifft, den Sohn der Bewirtschafter. Doch auch im Leben Marios haben große Veränderungen eingesetzt. Die Schule musste er verlassen, um seiner Familie auf der Ranch zu helfen. In seiner wenigen Freizeit bereitet er sich auf ein Pferderennen vor, ein Beweis, erklärt Jorgelinas Vater ihr, dass er nun ein Mann sei. Als sich Jorgelina und Mario immer näher kommen, vertraut er ihr an, dass er „nicht normal“ sei, nicht so wie auf den Bildern in ihrem Buch. Im ländlichen Argentinien in der Zeit der Achtziger Jahre sind Abweichungen von der Norm geschlechtlicher oder körperlicher Identitäten ein mitunter schwieriges Los. Doch mit Kampfesgeist und der Zuneigung bedingungsloser Freundschaft kann so manche Ausweglosigkeit umschifft werden.

Schöne Menschen und seelische Wunden

Le Fil (2009) bietet Gelegenheit, eine der sympathischsten Diven der Filmgeschichte in einer schönen Altersrolle zu sehen: Claudia Cardinale spielt die Mutter des jungen, franko-tunesischen Architekten Malik (Antonin Stahly-Vishwanadan), der nach dem Studium in Frankreich wieder nach Tunesien zurückkehrt. Malik ist homosexuell, schafft es jedoch zunächst nicht, sich seiner Mutter Sara zu offenbaren. Schließlich verliebt er sich in Bilal, der auf dem traumhaften Grundstück Saras Gelegenheitsarbeiten verrichtet. Der zentrale Konflikt um Maliks Homosexualität und das damit verbundene Gefühl der Ausgrenzung wird thematisch auf mehreren Ebenen ergänzt: So wurde Sara, als sie einen Araber heiratete, ebenfalls von ihrer Familie geschnitten, und Maliks Arbeitskollegin will mit ihrer Lebensgefährtin durch künstliche Befruchtung ein Kind bekommen – Malik soll sie zum Schein heiraten, um einen Skandal zu vermeiden. Maliks Outing kommt schließlich unerwartet … Regisseur und Drehbuchautor Mehdi Ben Attia setzt in seinem Langfilmdebüt auf stille, ästhetische Tableaus, in denen die schöne Landschaft und die schönen Protagonisten gut zur Geltung kommen. Als Symbol für die Beengung, die Malik vor seinem Coming Out verspürt, setzt der Filmemacher auf ein ebenso simples wie effektives Symbol: Malik fühlt sich oftmals so, als würde er einen langen Faden hinter sich herziehen. Dieser Kunstgriff verleiht dem äußerlich realistisch wirkenden Film in manchen Szenen, besonders in der ersten Hälfte, eine irritierend-traumähnliche Stimmung. Neben Cardinale als Sara, die die Homosexualität ihres Sohnes zunächst nur widerwillig zur Kenntnis nimmt, überzeugt auch Antonin Stahly-Vishwanadan als sensibler junger Mann zwischen den Kulturen, der von Kindheit an gelernt hat, seine wahren Sehnsüchte zu verbergen. Ein leiser, unaufgeregter Film zwischen melancholischer Komödie und Drama, der um Verständnis für alternative Lebensentwürfe wirbt. Das Happy End gönnt man der schwul-lesbischen Familie mit Kind umso mehr, als Le fil der erste tunesische Film mit Queer-Bezug überhaupt ist und somit eine wichtige Vorreiterrolle übernimmt.

Der eigentlich mit actionreichen Filmen wie Highlander (1986) oder Resident Evil: Extinction (2007) bekannt gewordene Regisseur Russell Mulcahy zeigt sich mit Prayers for Bobby (2009) von seiner gefühlvollen Seite: Der für das amerikanische Fernsehen gedrehte Film basiert auf der wahren Geschichte von Mary Griffith, deren homosexueller Sohn Bobby (Ryan Kelley) in den Achtziger Jahren Selbstmord beging. Nach seinem (unfreiwilligen) Outing hatte die strenggläubige, presbyterianische Mutter versucht, ihren Sohn mittels Gebeten „zu heilen“ und ihn von seiner „sündhaften“ Veranlagung abzubringen. Isoliert und unter der Ablehnung seiner Mutter leidend, setzte Bobby seinem Leben schließlich ein Ende. Das Spannende an dem Film ist, dass er nicht mit der Verzweiflungstat endet, sondern eindringlich die Nachgeschichte und die Wandlung der Mutter zur Aktivistin, die sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzt, zeigt. Mary lehnt schließlich auch nicht die Religion an sich ab, sondern nur die allzu wörtliche Interpretation der Bibel. So ist Prayers for Bobby nicht nur ein Film über die innere Zerrissenheit der Titelfigur, sondern auch eine Studie über das Heilen seelischer Wunden und die Veränderungen, die Tragödien auslösen. Das intensive Spiel Sigourney Weavers, das die innere Wandlung der religiösen Hardlinerin zur toleranten Frau nachvollziehbar macht, wurde mit Emmy- und Golden-Globe-Nominierungen bedacht. Die echte Mary Griffith kann man übrigens in der letzten Szene des Films, die eine Homosexuellenparade in San Francisco zeigt, in einem Kurzauftritt sehen.

Von den Schwierigkeiten homosexueller Lebensentwürfe in diktatorischen Regimen erzählt das Regieduo Raphael Alvarez und Tatiana Issa in der mehrfach preisgekrönten Dokumentation Dzi Croquettes (2009). Die titelgebende Queer-Tanztruppe aus Brasilien hatte ihre große Zeit in den Siebziger und Achtziger Jahren und ließ sich auch von der Zensur der Militärdiktatur nicht unterkriegen – in ihren Performances übte die Truppe Kritik am Regime, indem beispielsweise Nazi-Uniformen in die Performances integriert wurden. Die Gruppe hatte dabei eine Vielzahl prominenter Fans von Mick Jagger bis Liza Minnelli (die auch im Film zu sehen ist) und war bald auch über die Grenzen Brasiliens hinaus bekannt, etwa durch fulminante Auftritte in Paris. Ein sehr unterhaltsamer Film, der auch als Zeitbild sexueller Befreiung in den Siebziger und Achtziger Jahren funktioniert und nicht zuletzt wegen des spannenden Archivmaterials überaus sehenswert ist.

Eskapismus und sexuelles Begehren

„Far is the place where you can live for real“, heißt es in Esmir Filhos Os famosos e os duendes da morte (The Famous and the Dead, Brasilien/Frankreich 2009). Vor allem wenn man gerade 16 ist, den Vater verloren hat und in einem kleinen Dorf lebt. Und so dient die virtuelle Realität des Internet gleichsam als Fenster zur Außenwelt, wie auch als Fenster zur Innenwelt anderer Menschen. Unter dem Pseudonym Mr. Tambourine Man publiziert der Protagonist melancholische Texte und träumt sich in die Welt eines mysteriösen Mädchens namens Jingle Jangle. In deren Videos lebt er Erstickungsspiele und Intimitäten mit ihrem Freund Julian mit, der eine gleichsam große, wenn auch ambivalente Anziehungskraft auf den Hauptdarsteller ausübt. Immer wieder im Fokus: die bedrohlich wirkende Stahlbrücke als Epizentrum und geheimnisvolles Symbol mancher Tragödie. Eskapismus, Identitätssuche, sexuelles Begehren und Todessehnsucht mischen sich in Esmir Filhos vielfach ausgezeichnetem Langfilmdebüt nach dem Roman von Ismael Caneppele in den verschiedenen Realitäten. Filmisch wird dies in wechselnden Formaten und Farben ausgedrückt, die die widersprüchlichen Gefühle in einen ungemein poetischen Rahmen fügen, der sich als Visualisierung von Bob Dylans Song sowie als Credo jugendlichen Alltags eignet: „Take me disappearin’ through the smoke rings of my mind / Far from the twisted reach of crazy sorrow / Let me forget about today until tomorrow.“

Ebenfalls aus Brasilien stammt Roberto Moreiras Quanto dura o amor (Paulista, 2009). Der Film erzählt die Geschichte dreier Bewohnerinnen und Bewohner der Avenida Paulista in São Paulo, von ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und der Suche nach Liebe. Die Schauspielerin Marina hat es satt, das Rotkäppchen im Kindertheater zu geben und lässt ihren Freund Caio in ihrer ländlichen Heimat zurück, um ihr Glück in der Stadt zu versuchen. Doch bald lockt nicht mehr nur eine Rolle in Tschechows „Onkel Wanja“ sondern auch Justine, eine ebenso unberechenbare wie unwiderstehliche Musikerin. Marinas Mitbewohnerin Suzana, einer aufstrebenden Scheidungsanwältin, werden derweil Avancen von ihrem Arbeitskollegen Gil gemacht. Das zieht jedoch Komplikationen nach sich, denn als sie sich in ihn verliebt, muss sie ihm die Wahrheit über Veränderungen sagen, die in ihrem Leben stattgefunden haben. Der Autor Jay schließlich ist in die Prostituierte Michelle verliebt, kann sich den Stundentarif für ihre Zuneigung jedoch nur selten leisten und versucht sie mithilfe seiner Poesie zu überzeugen, dass er der Richtige für sie ist. Wünsche und Begehren, die dem Realitätstest nicht standhalten, lassen die Protagonistinnen und den Protagonisten stranden – „high and dry“, wie in Marinas Lieblingslied, dem gleichnamigen Song von Radiohead. Es geht darum, etwas zu wagen, bei dem man womöglich nicht anders kann, als zu verlieren, und trotz allem wieder Mut zu schöpfen. Oder wie es bei Tschechow heißt: „Was kann man machen? Man kann nur weiterleben.“
Maria Clara Spinelli (Suzana) übrigens wurde als erste Trans-Person Brasiliens für ihre schauspielerische Leistung mit mehreren internationalen Filmpreisen ausgezeichnet.

Auch im Kurzfilmprogramm ist Brasilien mit spannenden Arbeiten vertreten: Der mit mehreren Preisen ausgezeichnete Professor Godoy (2009) etwa handelt von der Liebe eines alternden Mathematikprofessors zu einem Schüler, der mittels Formeln und Gleichungen mit ihm flirtet, während Um par a autro (One for Another, 2009) vom Kinderwunsch eines schwulen Paares erzählt, der völlig überraschend erfüllt wird. Preisgekrönte Werke gibt es auch im Programm „Schöne traurige Jungs“ zu sehen, das sich Kurzfilmen aus Kanada widmet und das unter anderem Werke von Jamie Travis, einem der spannendsten kanadischen Filmemacher der Gegenwart, zeigt. Große Empfehlung: Travis’ Why the Anderson Children Didn’t Come to Dinner (2003), ein eigenwilliges Familienmärchen, das der Kritiker Chas Bowie mit einer Mischung aus The Royal Tenenbaums und The Addams Family verglich. Künstlerisch stark ist auch die Dokumentation Edie & Thea: A Very Long Engagement der beiden Regisseurinnen Susan Muska und Gréta Ólafsdottir, die die Geschichte eines lesbischen Paares aus New York nachzeichnet, das nach einer über 40-jährigen Beziehung schließlich in Kanada heiratet. 22 Festivalpreise sprechen für die Qualität dieses überaus berührenden Films über wahre Liebe.