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Anthony Dod Mantle

Anthony Dod Mantle

„Es gibt nur eine emotionale Wahrheit“

| Philipp Döring :: Felix von Boehm |

Ein Gespräch mit dem Oscar-Preisträger Anthony Dod Mantle über falsche und richtige Kamerapositionen, veraltete Stil-Begriffe und den Alptraum 3D.

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Anthony Dod Mantle zählt zu den interessantesten und begehrtesten Kameramännern der Welt. Geboren 1955 in Oxford, studiert er zunächst in London Fotografie und schließlich Kamera am Danske Filminstitut in Kopenhagen, der Kinderstube der „Dogma“-Regisseure. Seinen ersten Kinofilm, Die Terroristen! (1992), dreht er in Deutschland unter der Regie von Philip Gröning. Mantle führt bei insgesamt drei Dogma-Filmen die Kamera, darunter auch bei Dogma#1: Das Fest (1998) – dem ersten von bisher sechs Filmen mit Thomas Vinterberg. Seine erste Zusammenarbeit mit Lars von Trier absolviert er als Location Scout für Breaking the Waves (1996); später holt Von Trier ihn als Kameramann für Dogville (2003) und Antichrist (2009). Eine langjährige Zusammenarbeit verbindet ihn auch mit Danny Boyle; für Slumdog Millionaire (2008) wurde er mit dem Oscar ausgezeichnet, vor kurzem war 127 Hours im Kino zu sehen.

Wie selten jemandem ist es Anthony Dod Mantle gelungen, sowohl kleine, anspruchsvolle Filme als auch großes Hollywoodkino zu drehen. Er interessiert sich ungemein für den technischen Fortschritt, seine Experimente mit der digitalen Technik bei den Dogmafilmen und bei Slumdog Millionaire haben die Filmästhetik nachhaltig geprägt und weltweit Nachahmer gefunden. „ray“ hat Anthony Dod Mantle in Marburg getroffen, wo er mit dem Marburger Kamerapreis ausgezeichnet wurde. Er kam direkt aus Kapstadt, wo er gerade seinen ersten 3D-Film abgedreht hatte.

Sie haben gerade Ihren ersten 3D-Film abgedreht, die Comicverfilmung Dredd. Wie war’s?
Anthony Dod Mantle: Ein Alptraum! Nein, im Ernst – es ist sehr interessant, in 3D zu arbeiten. Es hat mir gefallen, wir hatten Spaß, aber es war ein wirklicher Kampf. Eine große Kamera und ein großes Team. Ich weiß nicht, ob es gut geworden ist, aber ich habe auf jeden Fall eine Menge ausprobiert. Ich wollte etwas Unerwartetes machen. Es ist ein Genre-Film, ein Film über Gewalt und ich habe versucht, die grundlegenden Dinge darüber zu erforschen.

Wie bereiten Sie sich auf einen Film vor? Da ist ein Regisseur mit einem Drehbuch, wie entwickeln Sie ein visuelles Konzept?
Anthony Dod Mantle: Das ist von Film zu Film unterschiedlich. Regisseure sind unterschiedlich und Projekte sind unterschiedlich. Und jedes Mal muss man die visuelle Sprache erst finden, das Alphabet des Films. Danny (Boyle) zum Beispiel hat immer viele visuelle Ideen. Die erzählt er mir, und dann fragt er mich, was ich machen würde und wie ich dies oder jenes finde. Er hat immer Unmengen an Bildern und Ideen im Kopf. Lars (von Trier) kann gar nicht anders als Bilder sehen. Er ist ein unglaublich visueller Mensch, da ist man gleich schon tief in einer Welt. Harmony Korine und ich wollten das Filmalphabet komplett umkrempeln, und das haben wir bei Julien Donkey-Boy (1999) auch gemacht. Ich passe mich da sehr an den Regisseur an. Manche Kameramänner wollen stark angeleitet werden, andere lassen sich überhaupt nichts sagen; ich probiere da immer einen Mittelweg.

Gibt es denn einen Dod-Mantle-Stil?
Anthony Dod Mantle: (Er verzieht das Gesicht.) In den Achtzigern, als ich studierte, ging es manchmal um einen Stil, es gab sogar Bücher darüber. Ich mochte das nie, aber natürlich gibt es einen gewissen Grad an Stil, es gibt Tendenzen, Elemente, die man wiederfindet. Aber ich denke, es sollte jedes Mal frisch sein. Es sollte sich entwickeln, es sollte neu sein.

Ich denke, es gibt in Ihren Filmen zum Beispiel ein wiederkehrendes Interesse für Bewegung – Bewegung der Schauspieler, Bewegung der Kamera.
Anthony Dod Mantle: Bewegung ist enorm wichtig. Es ist wie Atmen, das Atmen des Films. David Lynch ist ein Meister darin. Es gibt kaum einen Regisseur, der so viel davon versteht wie er. Und es ist so subtil! Manchmal macht er nur diese kleinen Bewegungen … Er ist sehr intelligent. Ich weiß nicht, wie viel ich von ihm gelernt habe, aber ich habe seine Filme sehr genau angeschaut. Er macht Sachen, die immer wieder das zerstören, was man erwartet. Sobald man beginnt, etwas zu erwarten, wird Lynch hundertprozentig alles noch einmal umstoßen.

Noch einmal zu Dredd – in 3D wird das alles doch noch komplizierter?
Anthony Dod Mantle: Ja, das stimmt – Bewegung in 3D ist eine verdammt schwierige Angelegenheit. Und nichts ist so offensichtlich, wenn man es falsch macht. Man kann schlechte Schauspieler haben, schlechtes Licht, aber für mich beeinträchtigt nichts die Geschichte so sehr wie die falsche Bewegung. Und in 3D wird das alles noch zehnfach vergrößert! In 2D kommt man mit einem kleinen Fehler vielleicht noch davon, aber in 3D – keine Chance. Der falsche Rhythmus, das falsche Tempo – in 3D ist das sofort sichtbar.  Es ist also sehr heikel, mit dieser Technologie zu arbeiten. Das war eine große Herausforderung und es geht ein wenig gegen das, wofür ich manchmal stehe – ich mochte immer diese leichte Beweglichkeit der Kamera, ein Gehenlassen. Ich wehre mich dagegen, „eingesperrt“ zu sein und zu sagen, das wird so oder so. Ich mag es, wenn es sich ein bisschen entwickelt. Aber in 3D muss man sehr überlegt vorgehen.

Etwas, was viel damit zu tun hat, ist die Perspektive. Wenn Sie ans Set kommen – wie finden Sie die genaue Kamera
position?
Anthony Dod Mantle: Manchmal muss man seinen Kopf völlig freimachen und nur die Augen aufmachen. Manchmal ist es sehr schwer, da gehe ich ein bisschen nach links, ein bisschen nach rechts – manchmal lege ich auch Schienen und verändere die Kameraposition … Es ist nicht einfach. Manchmal hat man einen guten Tag und alles geht schnell, aber dann hab ich auch immer den Verdacht, dass alles ein bisschen vorhersehbar geworden ist.

Gibt es für Sie denn so etwas wie das „richtige“, das „wahre“ Bild?
Anthony Dod Mantle: Ich weiß nicht, was ein „wahres“ Bild ist. Wahr und falsch existieren für mich nicht. Ich denke – die einzige Wahrheit, die ich habe, ist eine emotionale Wahrheit. Es muss für einen selber wahr sein. Es gibt doch keine universelle Wahrheit, oder?

Aber vielleicht gibt es einen Drang zur Wahrhaftigkeit. Wenn man zum Beispiel an Dogma denkt …
Anthony Dod Mantle: Es gibt ein dokumentarisches Element, wenn man „wirkliche“ Menschen mit in die Geschichte einbezieht, wirkliche Menschen und deren Häuser und Umgebung. Da ist eine Verletzlichkeit und du musst dich anständig benehmen, aufrichtig sein. Aufrichtig mit dir selbst. Manchmal muss man vielleicht ein bisschen schwindeln, damit man das bekommt, was man braucht. Wenn man an einen real existierenden Ort geht, dann hat man die Verpflichtung, manche Dinge „richtig“ zu machen. Aber die eigentliche Wahrheitsbedingung ist, sich selbst gegenüber treu zu bleiben.

Wird genau das nicht immer schwieriger? Mit all den Special Effects und der immer manipulativeren Postproduktion?
Anthony Dod Mantle: Ich werde jetzt in die A.S.C. (die US-amerikanische Gewerkschaft der Kameramänner) eintreten, mal sehen. In den letzten zwanzig Jahren sind die Gagen für die Arbeit am Set so sehr gestiegen, dass man zum Beispiel für die Farbkorrektur nicht mehr bezahlt wird. Deswegen machen das viele nicht mehr, oder sie machen ein bisschen Farbkorrektur umsonst und dann übernimmt das jemand anders. Ich persönlich liebe die Farbkorrektur. Es fasziniert mich ungemein, für mich gehört es zum künstlerischsten Teil der Arbeit des Kameramanns. Ich wache da geradezu drüber und erforsche die Farben. Ich würde das niemals aus der Hand geben. In meinen Verträgen steht immer, dass ich für die Farbkorrektur bezahlt werde, dann weiß ich, dass sie mir auch die Zeit geben, weil sie mich bezahlen müssen. Aber das ist in der Branche die Ausnahme! Man muss dafür kämpfen. Ich finde es unglaublich, einen Dreh vorzubereiten, sich einen Film vorzustellen, mit dem Regisseur und dem Szenenbildner eine Vision herzustellen, das alles aufzubauen – und es dann nicht zu Ende zu bringen. Unglaublich.

Ist das der Grund, warum Sie in Breaking the Waves beerdigt wurden?
Anthony Dod Mantle: Ich wurde beerdigt, weil Lars von Trier niemals jemandem einen Credit für das Drehbuch gibt! Denn das würde ihn Geld kosten. Als ich damals in Schottland herumgefahren bin, auf all diesen Inseln und alle Locations gesucht habe, da habe ich zahllose Orte und auch Geschichten gefunden. Und am letzten Tag hat mir jemand diese Geschichte von einer Presbyterianischen Kirche erzählt. Da gab es diesen Priester, der bei einer Beerdigung den Verstorbenen einen Sünder nannte, vor der Familie, dass er in die Hölle käme und das auch verdient hätte und so weiter. Diese Geschichte habe ich Lars erzählt. Er erwähnt das nie, aber ich war es, der diese Geschichte gefunden hat. Also ich habe ihm diese Geschichte gegeben, auf Band aufgenommen. Ich dachte, das wäre ein hervorragendes „Sprungbrett“ für die Geschichte, weil es etwas aussagt über diese Welt, die Welt von Stellan Skarsgard und Emma Watson, über die Kontraste darin … Lars arbeitete weiter am Drehbuch, dann hat er mich irgendwann angerufen und gesagt: „Nun, ich habe beschlossen, es in den Film reinzunehmen. Ich kann dir keinen Credit geben, aber ich würde deinen Namen einsetzen, okay?“ „Ja klar“, hab ich gesagt. Ich dachte, vielleicht ein Schauspielername oder so. Es war mir nicht so wichtig. Und dann hieß es da auf einmal: „Anthony Dod Mantle, you are a sinner.“ Meine Frau hat auch bei dem Film gearbeitet und sie hat geweint, mit all diesen Dod-Mantle-Särgen um sie herum. Und es ging weiter: In Zwei Helden (1996) von Thomas Vinterberg war ich Onkel Anthony, der von den Toten zurückgekommen ist, und in Dancer in the Dark tauche ich als Richter Dod Mantle auf, der Björk zum Tode verurteilt. Aber ich habe keinen Schaden davon getragen, nur tausende Fragen auf der ganzen Welt. Aber so war das. Eine wahre Geschichte.