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Sidney Lumet

Mut zur Message

| Andreas Ungerböck :: Jörg Schiffauer |

Mit Sidney Lumet verstarb kürzlich der letzte Vertreter einer Generation von US-Regisseuren, für die eine prononcierte Haltung in der künstlerischen Arbeit eine Notwendigkeit war. Viele von ihnen begannen ihre Karriere beim Live-Fernsehen. Ein Rückblick auf eine allzu oft übersehene „Abteilung“ Hollywoods.

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Sidney Lumet, John Frankenheimer, Robert Mulligan, George Roy Hill, Delbert Mann, Richard Fleischer, Richard Brooks, Robert Wise … Namen wie diese stehen für eine ganz bestimmte Art von US-Filmen: Handfestes Genrekino, vom Gangsterfilm bis zum Melodram, vom Abenteuerfilm bis zur Komödie, vom Musical bis zum Agentenfilm. Es sind Regisseure, denen die Filmgeschichtsschreibung keine besonderen Kränze flicht, man subsumiert sie oft unter „Gebrauchsregisseure“ und „Handwerker“, und ihre Arbeiten werden kaum in Kinematheken gezeigt. Das ist ebenso schade wie es falsch ist, denn diese Filmemacher prägten das US-Kino von den späten Fünfzigern bis in die Achtziger wesentlich mit. Sie waren ganz bestimmt keine „Autorenfilmer“ im heutigen europäischen Sinne, aber ihre Arbeiten waren geprägt von einer klaren Handschrift und von großem handwerklichen Können, das die meisten von ihnen sich buchstäblich „von der Pike auf“ angeeignet hatten. Sie kannten das „alte“ Studiosystem aus Hollywoods Goldenen Tagen noch aus eigener Anschauung und sie hatten mit der Erneuerungsbewegung, die man im Nachhinein New Hollywood taufte, wenig bis gar nichts zu tun. Das heißt aber keineswegs, dass sie nicht verstanden, innovativ zu arbeiten: So ließ etwa Richard Fleischer in Fantastic Voyage (1966) ein Mini-U-Boot mit Mini-Besatzung durch den Körper eines schwer verletzten Mannes reisen, und die „psychedelische“ Kameraarbeit (vom vielleicht größten Hollywood-Kameramann aller Zeiten, James Wong Howe) in John Frankenheimers Paranoia-Thriller Seconds (1966) war mit ihren Verzerrungen und Unschärfen äußerst avanciert und ihrer Zeit weit voraus. Frankenheimer war auch ein Pionier der split screen, die in den Sechziger und Siebziger Jahren als das Nonplusultra moderner Bildgestaltung galt und für äußerste, atemlose Dramatik stand – sein fulminanter Rennfahrer-Film Grand Prix (1966) legt davon beredtes Zeugnis ab.

Schule des Filmemachens

Fast alle dieser Regisseure starteten ihre Laufbahn in den Fünfziger Jahren beim heute kaum noch erinnerten Live-Fernsehen, so auch John Frankenheimer (1930–2002), Robert Mulligan (1925–2008) und eben Sidney Lumet (1924–2011), vielleicht die drei prononciertesten Vertreter dieser Art von politisch engagiertem und doch unterhaltsamem Kino. Kein Zufall möglicherweise, dass alle drei aus New York City und aus ähnlichen Verhältnissen stammten (Lumet wurde zwar in Philadelphia geboren, wuchs aber in der Metropole auf).

John Frankenheimer, wiewohl der jüngste der drei Filmemacher, galt als der „König“ des Live-Fernsehens. Er führte schon in seinen frühen Zwanzigern Regie bei mehr als 140 Serien-Episoden, Fernsehfilmen und teleplays, die zumindest bis 1956 in der überwiegenden Mehrheit live aufgezeichnet wurden – angesichts des noch überaus schwerfälligen und störungsanfälligen technischen Apparates eine große Herausforderung. Mit „Playhouse 90“ (1956 bis 1960) stellte der Sender CBS – es herrschte enormer Konkurrenzdruck zwischen den großen Networks – den handelsüblichen Einstunden-Formaten 90-Minuten-Filme entgegen. Man muss sich einmal vorstellen, Filme würden heute live aufgezeichnet, ohne Unterbrechung, ohne die Möglichkeit, „nachzubessern“, ohne die Möglichkeit, bei technischen Pannen korrigierend einzugreifen – schier undenkbar.

Kein Wunder, dass Frankenheimer das Live-Fernsehen als seine „Schule des Filmemachens“ bezeichnete. Hier lernte man schnell und präzise zu arbeiten, denn jeder Fehler hatte unweigerlich Konsequenzen. Frankenheimer führte bei nicht weniger als 27 der 133 Episoden von „Playhouse 90“ Regie; weitere Filme der Reihe wurden von den schon erwähnten Filmemachern wie Lumet, Mulligan, Mann, Hill usw. inszeniert. Und wer da meint, Fernsehserien in hoher Qualität und mit illustrem Personal zu produzieren, sei eine Sache des 21. Jahrhunderts, der irrt. Kapazunder fanden sich auch damals in allen Sparten: Drehbuchautoren wie Rod Serling, Produzenten wie Arthur Penn (später mit Klassikern wie Bonnie and Clyde auch als Regisseur erfolgreich) oder John Houseman, Komponisten wie Alex North, John Williams oder Jerry Goldsmith, und auch der Schauspielsektor hatte einiges zu bieten, von Sterling Hayden über Peter Lorre bis hin zu Boris Karloff und – ja – Maria Schell. Auch wenn Live-Fernsehen gegen Ende der Fünfziger allmählich ausstarb und die Konservenware sich durchsetzte, so war es doch für viele jüngere Regisseure das perfekte Sprungbrett nach Hollywood: Frankenheimer drehte seinen ersten Kinofilm The Young Stranger 1957, ein message picture allererster Güte um einen von seinem Vater, einem reichen Hollywood-Produzenten (!), vernachlässigten jugendlichen Delinquenten.

Im selben Jahr gelang Sidney Lumet mit Twelve Angry Men, der nicht von ungefähr sehr viel von einem Fernsehspiel an sich hat, gleich mit seinem ersten Film ein Meilenstein, der für drei Oscars (darunter für die beste Regie) nominiert wurde. Twelve Angry Men zählt zu den großen Klassikern des Justizdramas. Das Kammerspiel um die Beratung von zwölf Geschworenen, die zu einem Urteil in einem Mordprozess kommen müssen, thematisiert nicht nur auf beeindruckende Weise die schwierige Suche nach Wahrheit, sondern zeigt auch Lumets formale Stärken. Der Film, der fast ausschließlich in einem einzigen Raum spielt, besticht nicht nur durch brillante Dialoge und hervorragende Schauspieler (Henry Fonda an der Spitze), sondern auch durch eine visuelle Auflösung, die die Spannungsbögen kongenial verstärkt und die für eine Hollywood-Produktion ungewöhnliche räumliche Beschränkung völlig vergessen lässt. Auch Robert Mulligan schuf 1957 mit Fear Strikes Out, der filmischen Adaption der Autobiografie des Baseball-Spielers Jimmy Piersall (gespielt vom 25-jährigen Anthony Perkins, drei Jahre vor Psycho), ein famoses Debüt.

Massentauglicher Anspruch

Vor allem in den Sechziger Jahren drehten Frankenheimer, Lumet, Mulligan und die anderen erwähnten Regisseure – sozusagen im Gleichschritt – ein filmisches Highlight nach dem anderen. Und sie schafften es, ihre dezidiert liberale politische Gesinnung in die Filme einzubringen: Die Kombination aus formal-dramaturgisch hochklassigem Genrefilm und klarer Haltung in gesellschaftspolitischen Fragen war ihnen allen zu eigen. Natürlich war die Mehrzahl der Produktionen Mainstream-gerecht aufbereitet, doch dieser Hand voll engagierter Regisseure gelang es, sich innerhalb des Systems beachtliche Freiräume zu verschaffen und mit ihrem message cinema kritische Positionen zu beziehen – das alles, das darf man nicht vergessen, mit durchaus beachtlichem Erfolg bei einem breiteren Publikum. Zu den bevorzugten Themen gehörte die Kritik am US-amerikanischen Justizsystem: Robert Wise zeigte in I Want to Live! (1958), angelehnt an den realen Kriminalfall um Barbara Graham, neben fragwürdigen Ermittlungsmethoden die Unmenschlichkeit der Todesstrafe auf. Richard Brooks setzte sich in In Cold Blood (1967) – basierend auf Truman Capotes gleichnamigem Tatsachenroman – mit den psychologischen Hintergründen eines vierfachen Mordes auseinander, und John Frankenheimer prangerte in Birdman of Alcatraz (1962), wiederum nach einer wahren Geschichte, auf beeindruckende Weise inhumane Praktiken des Strafvollzugs an. Im selben Jahr gelang ihm mit The Manchurian Candidate (mit Frank Sinatra und Laurence Harvey in den Hauptrollen) ein rätselhafter, düsterer Politthriller, der Linke wie Rechte gleichermaßen verstörte und als erste kritische Aufarbeitung der McCarthy-Kommunistenhysterie der Fünfziger gilt. Mit Seven Days in May (1964) äußerte Frankenheimer die Frage nach der Stabilität der Demokratie in Zeiten des Kalten Krieges.

Robert Mulligan thematisierte mit dem enorm populären To Kill a Mockingbird (1962, nach einem Roman von Harper Lee) das Problem des Rassismus zu einer Zeit, als etliche Südstaaten noch immer an der Rassentrennung festhielten. Drei Oscars, darunter einer für den dezidiert linken Drehbuchautor Horton Foote, waren der gerechte Lohn für dieses packende Drama, das geradezu idealtypisch demonstrierte, wie mass appeal und politisches Bewusstsein sehr wohl unter einen Hut gehen. Robert Wise formulierte anhand einer historischen Episode aus dem chinesischen Bürgerkrieg in The Sand Pebbles (1966) eine verklausulierte Kritik am militärischen Einsatz der USA in Vietnam. Richard Fleischer wiederum inszenierte mit der Dystopie Soylent Green einen beunruhigend pessimistischen Thriller, der bereits 1972 das Thema Ökologie in den Mittelpunkt rückte. Und selbst in der Zeit des großen Umbruchs im US-amerikanischen Kino, den New Hollywood mit sich brachte, gelang es Alan J. Pakula, der wie Frankenheimer, Lumet und Mulligan aus New York stammte und schon als Produzent für To Kill a Mockingbird mit verantwortlich gezeichnet hatte, mit seiner Paranoia-Trilogie (Klute, 1971, The Parallax View, 1974, und All the President’s Men, 1976, der mit vier Oscars ausgezeichnet wurde) den klassischen Politthriller zu positionieren und der Atmosphäre des Misstrauens in das politische System, das seit Richard Nixons Machenschaften rund um die Watergate-Affäre vorherrschte, entsprechend Rechnung zu tragen. Nixon war das erklärte Feindbild dieser liberalen Regisseure, wie John Frankenheimer es einmal formulierte: „Wenn man die Vereinigten Staaten wirklich hätte zerstören wollen, wen Besseren hätte man dafür finden können als Richard Nixon?“

Beispiele für dieses beeindruckende Kino, das – dies nur nebenbei – auch die „saftigsten“ Rollen für große Schauspielerinnen und Schauspieler wie Susan Hayward, Robert Blake, Burt Lancaster, Robert Redford, Dustin Hoffman, Jane Fonda, Donald Sutherland, Al Pacino und viele andere mehr bereithielt, gibt es in Hülle und Fülle – sie alle wären einer umfassenden Retrospektive wert.

Unbeugsam bis zuletzt

Während viele seiner Kollegen aus der „alten Zeit“ allmählich vom modernen Blockbuster-Kino à la Star Wars überrollt wurden, hielt Sidney Lumet, auch er ein Pionier des Live-Fernsehens, unverzagt die Stellung, und mit seinem letzten Film Before the Devil Knows You’re Dead (2007) konnte der Meister noch einmal ein deutliches Zeichen setzen. Lumets Spätwerk um einen missglückten Raubüberfall, der innerhalb einer Familie eine Tragödie von shakespeareschen Dimensionen auslöst, verweist mit seiner Wucht und seiner geradezu schmerzhaften Eindringlichkeit noch einmal exemplarisch auf all jene Qualitäten, die sein Œuvre auszeichneten. Zum letzten Mal brachte Lumet die für seine Filme typischen Motive wie Schuld, Sühne und Verantwortung mit einer – vor allem die psychische Verfassung seiner Protagonisten betreffenden – Intensität ins Spiel, die im gegenwärtigen Kino so kaum noch zu finden ist. Before the Devil Knows You’re Dead brachte Lumet, dessen Arbeiten seit den Neunziger Jahren eher wechselhafte Beachtung fanden, vor allem noch einmal jene Anerkennung ein, die ihm als einem der bedeutendsten Regisseure des US-amerikanischen Kinos mehr als zustand.

Sidney Lumets Arbeit stand formal stets in der Tradition des klassischen Genrekinos von Hollywood, doch innerhalb dieses Rahmens griff er politisch und gesellschaftlich relevante Themen mit einer Deutlichkeit auf, die sich vom Mainstream signifikant abhob. Die größte Popularität erlangten dabei jene seiner Arbeiten, die sich mit Missständen im US-amerikanischen Polizei- und Justizsystem auseinandersetzten. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen neben Twelve Angry Men denn auch Serpico (1971), Dog Day Afternoon (1975, beide mit einem grandiosen Al Pacino), Prince of the City (1981) und The Verdict (1982). Doch Lumet hatte sich von Anfang seiner Karriere an nie gescheut, brisante Themen unterschiedlichster Art aufzugreifen. In The Pawnbroker (1964) verwies er auf die nachhaltigen Traumata, an denen die Überlebenden des Holocausts auch nach Jahrzehnten litten, in Fail-Safe (1964) auf die Gefahren einer mit Atomwaffen geführten Auseinandersetzung auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Und mit dem in einem Militärgefängnis spielendem Drama The Hill (1965) kritisierte Lumet schonungslos die in jeder Armee vorherrschenden Mechanismen von Befehl und Kadavergehorsam. Doch bei aller inhaltlichen Brisanz sind seine Arbeiten – von wenigen, bei einem so umfangreichen Schaffen aber fast unvermeidlichen Ausrutschern abgesehen –  auch und vor allem unheimlich mitreißendes, packendes Kino, das seine Spannungsmomente weniger aus üblichen handfesten Handlungsfäden schöpft, sondern in erster Linie aus den psychischen Ausnahmesituationen, in die Sidney Lumet seine Protagonisten stürzt. Denn – und das ist so etwas wie das Kernelement seiner Filme – Lumets Charaktere müssen sich ungeachtet der oft bitteren Konsequenzen ihrer Verantwortung stellen, ganz gleich wie tief ihr Fall dabei auch sein mag. Dass eine derartige psychologische Tour de force, gepaart mit einem sehr kritischen Blick auf die US-Gesellschaft, nicht immer besonders marktkompatibel war, erscheint wenig überraschend. Der Wertschätzung für Sidney Lumet hat das dennoch keinen Abbruch getan. Das manifestiert sich allein schon darin, dass die Elite von Hollywoods Schauspielerriege – Henry Fonda, Paul Newman, Al Pacino, Rod Steiger, Sean Connery, James Mason, William Holden, Richard Burton, Treat Williams und Andy Garcia, um nur einige zu nennen – sich geradezu darum riss, mit ihm zu arbeiten.

Sidney Lumet blieb von den Umwälzungen im US-Kino unbeeindruckt und verfolgte stets eine klare Linie. Seine überaus bissige Mediensatire Network (1976) wurde ein großer Erfolg und hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, seine schonungslose Abrechung mit der McCarthy-Ära anhand des umstrittenen Spionage-Prozesses um Julius und Ethel Rosenberg, Daniel (1983), fiel zu drastisch für den breiten Publikumsgeschmack aus. Mit Q&A (1990) und Night Falls on Manhattan (1997) wandte sich Lumet im Herbst seiner Karriere erneut dem bewährten Thema Polizeikorruption zu. Obwohl mehrfach nominiert, blieb Sidney Lumet der Regie-Oscar verwehrt, ehe Hollywood schließlich 2005 mit dem Academy Award für sein Lebenswerk einem der Größten des US-amerikanischen Kinos eine mehr als verdiente Würdigung zuteil werden ließ. Am 9. April 2011 starb Sidney Lumet im Alter von 86 Jahren – und mit ihm eine weitere gloriose Epoche Hollywoods.