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The Tree of Life

The Tree of Life

Das All in uns

| Pamela Jahn |

In seinem fünften Spielfilm „The Tree of Life“ wird Terrence Malick von den ganz großen Fragen der Menschheit umgetrieben und fängt den Urknall in atemberaubenden Bildern ein.

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So ein Film trifft sein Publikum nicht unvorbereitet. Sein Ruf als kinogeschichtsträchtiges Ereignis eilt ihm voraus, er schleppt ihn wie eine Art mythenumranktes Vorwort mit sich. Denn immerhin handelt es sich um einen in Cannes mit ähnlicher Hochspannung erwarteten Film wie etwa 1979 Coppolas Apocalypse Now. Am Morgen des 16. Mai war es dann so weit. Journalistenmassen drängten sich unter tumultartigen Szenen in die Pressevorführung von The Tree of Life, dem fünften Spielfilm in der mittlerweile fast 40 Jahre umspannenden Karriere von Terrence Malick. Seit seinem Debüterfolg mit Badlands (1973) dreht der 67-jährige, öffentlichkeitsscheue wie perfektionistische Groß-Visionär des US-Kinos lediglich alle fünf bis 20 Jahre einen neuen Film. Seit seinem vorigen Werk The New World sind diesmal sechs Jahre vergangen, was angeblich diversen Komplikationen bei der Fertigstellung von The Tree of Life geschuldet war, die sein zunächst für das vorjährige Festival angekündigtes Erscheinen blockierten. Zuletzt stand auch die Teilnahme am heurigen Wettbewerb auf der Kippe, weil der Filmstart in Großbritannien fatalerweise vor dem Festivaltermin angesetzt war, was in Cannes einen klaren Regelverstoß bedeutet hätte – und damit nicht nur eine arge Enttäuschung für die internationale Kritikergemeinde vor Ort gewesen wäre, sondern am Ende auch die Goldene Palme gekostet hätte.

DER MOMENT DES EINTAUCHENS

„Jeder Film hat sein Datum und seinen Ort, an dem er das Licht des Projektors erblickte – und seinem Zuschauer begegnete, in dem seine Bilder fortleben“, schrieb der kürzlich zu früh verstorbene Michael Althen (siehe auch Literaturtipp auf Seite 103), und an anderer Stelle: „Für jeden Einzelnen, der im Dunkel sitzt, laufen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimten Ort zahllose Linien aus der Vergangenheit zusammen, treffen sich kurz in der Finsternis und münden in eine Zukunft, in der vielleicht alles an diesem einen Moment hängt.“ Der Erinnerungskünstler Althen hätte sich wohl gern mit The Tree of Life beschäftigt, mit seiner Anwendung der Erkenntnistheorie auf die Wunschmaschine Kino: Woher kommt der Mensch? Wohin geht er? Und wie war das noch mal mit der Entstehung der Welt? Das sind die ganz großen Kernfragen, die sich in und vor Malicks Film ausbreiten. Es geht sowohl um die Erzeugung als auch um das Abrufen von gemeinsamen Voraussetzungen und vertrauten Emotionen. Eine Reise durch Zeit und Raum.

Mehr noch als in Terrence Malicks früheren Filmen regiert hier allein der Moment, der Augenblick des Eintauchens. In die Vergangenheit. In die Urtiefen der menschlichen Seele. In kongeniale assoziative Bilderfluten. Dabei richtet Malick sein Objektiv diesmal explizit auf die Keimzelle der condition humaine, die Familie. Aus dem tragischen Verlust eines geliebten Sohnes gewinnt der Film seine (wenn auch geringe) narrative Kraft. Und von dort geht er zurück an die Anfänge des Universums, zum Urknall, zu glühender Lava, explodierenden Gestirnen, zu wilden Wasserfällen, zu Dinosauriern und Mikro-Organismen, um am Ende in einer Gegenwart anzukommen, die noch immer die gleichen Fragen aufwirft, denn glücklicherweise verweigert sich Malick einer eindeutigen Interpretation der Mysterien, um die der Film kreist. Zusammenhänge werden in The Tree of Life zum großen Teil durch Bilder, chorale Kompositionen und den für Terrence Malick typischen Einsatz von Voice-Over geschaffen. Das Faszinierende daran ist: Man muss die Naivität, die dem Ganzen innewohnt, nicht unbedingt teilen, um die Kunstfertigkeit zu bewundern, mit der sie sich der Leinwand einschreibt.

VÖLLIG LOSGELÖST

Es trägt vermutlich nicht unwesentlich zu Malicks singulärer Stellung als Filmemacher bei – ganz abgesehen davon, wie sich die Manie eines Perfektionisten hier in jedem Kader niederschlägt –, dass er seine cineastischen Welten kompromisslos umzusetzen pflegt (er ist einer der Wenigen, der sich das in dieser Größenordnung des Kinos erlauben kann) und sich dabei wenig um erzählerische Konventionen oder zeitgeistige Trends schert. Zwar erinnert der kosmische Auftakt von The Tree of Life frappant an Kubricks 2001: A Space Odyssey. Und nicht zufällig wurden beide Werke vom gleichen Special-Effects-Designer, nämlich Douglas Trumbull, betreut. Anders jedoch als Kubrick verzichtet Malick auf eine kühl distanzierte Erzählperspektive und beschreibt die Ontogenese als eine zum Bild gewordene Emotion, nahezu freischwebend und losgelöst von allem narrativen und dramaturgischen Ballast. Erst nach einer knappen Stunde werden zudem Umrisse einer Handlung im klassischen Sinn erkennbar. Diese spielt sich wiederum auf zwei Zeitebenen ab, und in ihrem Verlauf werden die anfänglichen, fragmentarischen Szenen eines Familienlebens nun scheinbar in eine brauchbare Form gegossen.

Zunächst noch ahnungslos ob der narrativen Zusammenhänge treffen wir auf den jungen Jack O’Brian (Hunter McCracken), der gemeinsam mit seinen zwei Brüdern, wohlbehütet von der Mutter (Jessica Chastain) und streng beobachtet vom Vater (Brad Pitt), in einer exemplarischen Vorstadtidylle im Texas der Fünfziger Jahre heranwächst. Man sieht den Jungs beim Spielen zu, begleitet sie, wie sie durch Haus und Garten streunen, ist dabei, wenn Vater O’Brian dem Ältesten das Boxen lehrt. Und dann schaut man plötzlich der Mutter über die Schulter, in dem Moment, als die Nachricht vom Tod des jüngeren Sohnes wie ein Blitzschlag auf die Familie einbricht. Ziel dieser groß angelegten Rückblende ist es, den Gefühlszustand eines Mannes zu erahnen, dem des erwachsenen Jack (Sean Penn), der zwar anscheinend mitten im Leben steht, jedoch ständig heimgesucht wird von den Erinnerungen an seine Kindheit, von Gefühlen von Trauer und Leere, Sehnsucht und Liebe, und entsprechend halt- und orientierungslos durch die Szenerien driftet, in die Malick ihn hineinverpflanzt. Und ganz ähnlich wie sein verloren wirkender Großstadtheld verharrt auch der Film nur punktuell in dieser Zeitschleife der Erinnerung. Auch hier folgt die Erzählstruktur der Logik des Traums, der Assoziation, ist die Handlung eher Elegie als Geschichte. Mit seinen wie von innen heraus leuchtenden Bildern, den warmen, vom Schleier der Erinnerung überzogenen Farben, den auf- und abschwellenden Emotionen, macht der Film mitunter den Eindruck eines in sich verschlungenen Verses, ohne Beginn und ohne Ende, poetologisch unbegrenzt. Tatsächlich folgt The Tree of Life keiner Struktur und keiner Chronologie außerhalb seiner selbst. Und doch bleibt es kein offener Film, dessen Erinnerungs- und Entwicklungsprozesse ewig weiterpulsieren könnten, auch wenn man sich das im Nachhinein am Ende gewünscht hätte. Denn hier verliert sich The Tree of Life im Extremen: Virtuosität der Form, Naturmystik und Gottessuche. Dazu werden alle Protagonisten in einer sonnendurchfluteten Neverland-Landschaft tröstlich zusammengeführt, flankiert mit überwältigungsästhetischen Chorälen. Das ist dann doch ein wenig zu viel des Guten.

Bemerkenswert ist, wie diese verschachtelte Chronik eines angekündigten Todes bei aller Melancholie, bei aller erkenntnistheoretischer Bildmagie dennoch ein erstaunlich heller Film geworden ist. Für Malick bedeutet der Tod nicht das Ende von allem, sondern eine Bewegung, einen Übergang, der immer zugleich einen Neuanfang in sich trägt. So handelt The Tree of Life vom Tod, doch geht es in ihm um das Leben. Es ist das Werk eines Regisseurs, der sechs Jahre lang an seiner Apotheose gearbeitet hat und sich dabei treuer geblieben ist, als man ihm das vielleicht zuerkennen möchte. Womöglich musste Malick diesen Film auch drehen, um doch wieder bei der Quintessenz seiner bisherigen anzukommen. Vielleicht ist The Tree of Life, dieser erstaunlich opulente Bewusstseinsstromgenerator, diese bild- und tongewaltige Gefühlsmaschine, letztlich ein Versuch der Selbsterkenntnis, für den Malick so sehr wie für das Publikum. Es mag nicht das Meisterwerk sein, das manche-Fans sich erhofft hatten. Aber es ist zweifelsohne das verstörend schöne Werk eines Meisters, dessen visuelle Essenz auch über dieses Kinojahr hinaus und nicht nur wegen der Goldenen Palme lange im Gedächtnis bleiben wird. Ein Film, der da beginnt, wo das Erzählen aufhört, und in dem das Kino zu sich selbst findet.