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Marin Karmitz

„Besitzen kann man das Kino nicht“

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Ein Gespräch mit Marin Karmitz über Sammelwut, Besitzlosigkeit und die Flüchtigkeit des Kinos.

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Mehr als neunzig Filme hat der gebürtige Rumäne Marin Karmitz, Jahrgang 1938, seit der Gründung seiner Firma MK2 im Jahr 1967 produziert, an die dreihundert Filme hat er verliehen und auf DVD herausgebracht. Die Kinos im Besitz der MK2 bringen jährlich fünf Millionen Zuschauer in den Genuss ausgewählter Filme, die ganz selbstverständlich in Originalsprache mit Untertiteln gezeigt werden. Karmitz, der im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich floh, lehnt die nachträgliche Kolorierung von Schwarz-Weiß-Filmen ebenso ab wie er sich weigert, Synchronfassungen mit den immer gleichen Sprechern zu verbreiten. Die Produktionen aus dem Hause MK2 sind also im besten Sinne elitär – weil sie einen hohen Anspruch haben und weil sie herausfordern. Zu denken ist hier nicht nur an das Spätwerk von Alain Resnais und an Claude Chabrol, sondern auch an die Filme von Abbas Kiarostami, an die Drei-Farben-Trilogie Krzysztof Kieslowskis, an Michael Hanekes Code inconnu (Code – Unbekannt, 2000) oder an Gus Van Sants Paranoid Park (2007). Marin Karmitz ist es gelungen, nach der Nouvelle Vague in Frankreich und den großen Jahren des Filmverlags der Autoren in Deutschland die Autorenfilmkultur aufrechtzuerhalten und durch eine von ihm selbst gesteuerte politique des auteurs ganz wesentlich zu beeinflussen.

Kann man das Kino sammeln?
Nein, das kann man nicht. Und ich denke, bevor wir über das Sammeln sprechen, sollten wir es überhaupt erst einmal definieren: Natürlich kann man das Kino in Form von Filmen sammeln, wenn man ein Faible für alte Dinge hat. Für mich ist ein Sammler immer von einer Sphäre aus Antiquitäten oder Krämerei umgeben. Sammler, das sind Menschen, die alte Gegenstände aufbewahren. Insofern sehe ich mich keineswegs als Sammler. Mich interessiert nicht der Blick in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft, das heißt: die Projekte und Vorhaben von Menschen. Denn die Welt ist in Bewegung! Das heißt, es geht mir nicht darum, Filme zu sammeln, sondern Filme herzustellen.

„Filme herstellen“ – das klingt ja fast so physisch wie das Bauen von Häusern …
Ja, genauso ist es doch auch! Ich habe es jedenfalls meistens so erlebt: Ein Künstler – ganz egal, ob er Filmemacher, Maler oder Literat ist – baut ein Haus. Und diese Häuser werden durch das Aufschichten mehrerer und vor allem unterschiedlicher Steine gebaut. Manche Steine sind kleiner, andere sind größer. Aber in jedem Fall setzt sich das Haus eines Künstlers aus einem Ensemble unterschiedlicher Steine zusammen. Und nur durch dieses Ensemble ist die Statik seines Hauses gewährleistet. Wenn ich mehrere Filme eines bestimmten Regisseurs produziere oder auf DVD herausbringe, dann tue ich das, weil ich an dieser Baustelle teilhaben will. Und wenn Sie wirklich an der Entstehung eines Films teilhaben, dann ist das eine wahrhaft göttliche Erfahrung. Denn Sie werden Teil einer alternativen Realität, einer Utopie, einer anderen Welt. Hier wird etwas zustande gebracht, anstatt dass etwas zerstört wird!

 

Ist MK2 auch ein solches Haus, das sich aus kleinen und großen Steinen zusammensetzt?
Ohne die Filme gäbe es kein MK2. Insofern sind die Filme natürlich die wichtigsten Steine in meinem Haus. Und natürlich gibt es da größere und kleinere Filme. Filme, die ich besonders liebe und Filme, die mir wichtig sind, obwohl ich mich ihnen weniger verbunden fühle. Weitere Bausteine im Haus von MK2 sind aber vor allem auch der Verleih, die Kinosäle und die DVD-Edition. Das heißt, dass wir im Prinzip alle Stadien der Filmherstellung bespielen können. Dabei bleibt das Herzstück natürlich die Produktion.

Zielt die DVD-Edition eigentlich nicht genau auf das Sammeln des Kinos ab, das Ihrer Meinung nach nicht möglich ist?
(Lacht.) Ein bisschen stimmt das. Aber es geht mir hier um Gesamtwerke. Das ist schon ein großer Unterschied zu dem starren Sammeln von Gegenständen in einem Setzkasten! Bei der Präsentation von Gesamtwerken in einer großen DVD-Box interessiert mich viel eher der Gedanke, dass es wie ein Abenteuer sein kann, die gesamte Filmografie eines Filmemachers kennen zu lernen. Diese Idee kommt übrigens von meinen Lieblingsbüchern aus der Bibliothèque de la Pléiade von Gallimard, die auch stets das Gesamtwerk eines Autors präsentieren. Mich interessiert es einfach, einem Filmemacher über einen längeren Zeitraum zu folgen. Dass hier am Ende eine Sammlung von Filmen steht, ist sozusagen nur die notwendige Konsequenz, nicht aber der eigentliche Antrieb.

Worin liegt Ihr ganz persönlicher Antrieb?
Es gibt da diesen wundervollen Film, Einmal wirklich leben (Ikiru, 1952), von Kurosawa Akira. Da geht es um einen Beamten, der Tag für Tag in seinem Büro zwischen seinen Aktenbergen verbringt. Als er erfährt, dass er an Krebs erkrankt ist, merkt er auf einmal, dass er die ganze Zeit vergessen hat zu leben. Er hat nichts aus seinem Leben gemacht. Also versucht er noch einmal, alles zu erleben. Er trifft sich mit Frauen, beginnt zu trinken und Geld zu verspielen, nur um zu merken, dass ihn all das auch nicht befriedigen kann. Also nimmt er einen Job als Gärtner an und verwandelt ein struppiges Grundstück in einen saftigen Garten. Das Symbol dieses Gartens trifft, glaube ich, sehr genau, worum es mir immer ging.

Sie bezeichnen sich selbst als Filmverleger. Was genau meinen Sie damit?
Am Anfang wollte ich selbst Regisseur werden. Ich habe meine ersten Filme nach Drehbüchern von Marguerite Duras und Samuel Beckett gemacht. Aber meine Filme wurden nicht akzeptiert. Und so wurde ich vom Schriftsteller zum Verleger und vom Maler zum Verkäufer. Das passiert eher selten. Meistens ist es umgekehrt. Viele Produzenten träumen davon, endlich einmal Regie führen zu können. Bei mir war es viel eher so, dass ich mich mit meinen eher schmerzhaften Erfahrungen als Regisseur den anderen Regisseuren als Produzent und eben als Filmverleger zur Verfügung stellen wollte. Ein Verleger ist zunächst einmal nichts anderes als eine Hebamme. Diese Arbeit habe ich als Produzent ausgeführt. Und neben meiner Tätigkeit als Hebamme bin ich auch noch eine Art Kinderarzt für die Filme: Denn mit dem Verleih und dem Weltvertrieb von MK2 versuche ich, den Filmen das bestmögliche Leben zu ermöglichen.

Sie betrachten die Filme also wie Ihre Kinder?
Nein. Denn eine Sache war mir immer bewusst: Ich bin nicht die Mutter der Filme. Und dieses Selbstverständnis kommt wahrscheinlich daher, weil ich von meinen Anfängen als Regisseur weiß, dass nur der Autor bzw. der Regisseur die „Mutter“ eines Films ist.

Produzieren Sie Filme, um sie zu besitzen?
Nein, es geht mir nicht um das Besitzen. Ich würde eher sagen, dass es mir darum geht, mit diesen Filmen zu leben. Es gibt so viele Dinge, mit denen ich gerne leben würde, die ich mir aber nicht leisten kann – vor allem bestimmte Kunstwerke. Also gehe ich in die Museen, um sie mir dort anzusehen. Mit der Musik ist das ganz ähnlich. Sie ist so flüchtig, dass man sie immer wieder anhören muss, um wenigstens zu versuchen, mit ihr leben zu können. Aber besitzen kann man sie nicht. Ich habe eine Sammlung von Fotografien. Das sind Fotografien, mit denen ich leben will und die ich jeden Morgen ansehen können will. Ich gehe morgens durch die Wohnung und begrüße jede einzelne von ihnen: „Bonjour, Monsieur. Bonjour, Madame. Wie geht es Ihnen?“ Ich spreche mit meinen Fotografien. Das heißt, es geht mir wirklich nicht um den Besitz der Werke, sondern um das Leben mit den Werken.

Warum lehnen Sie den Begriff des Besitzes so sehr ab?
Wissen Sie: Als Immigrant bin ich mit dem klaren Verständnis aufgewachsen, dass Besitz eher nicht wünschenswert ist, und dass man jederzeit ohne sein Hab und Gut aufbrechen können muss. Daher glaube ich tatsächlich, dass es einem besser geht, wenn man weniger besitzt. Im Übrigen bedeutet Besitz auch immer die Enteignung anderer. Denn nur, weil jemand anderer etwas hergibt, kann ich es besitzen. Diesen Gedanken finde ich schrecklich. Deswegen lehne ich es ab, nur um des Besitzens Willen etwas zu besitzen.

Das sagen Sie als Besitzer eines der größten europäischen Filmkataloge?
Klar. Denn die Filmrechte, die ich besitze, habe ich nicht um ihrer selbst willen. Es geht mir nicht um die Zinsen. Natürlich ist es großartig, die Rechte an Chaplin, Bresson, Truffaut und Resnais zu haben. Aber das Geld, das hierbei übrig bleibt, stecke ich in neue Filmprojekte.

Im vergangenen Sommer haben Sie in Arles eine Ausstellung Ihrer Fotosammlung organisiert. Woher kam dieser Wunsch, diese private Sammlung zu zeigen?
Es ging mir vor allem darum, einen neuen Blick und ein neues Verständnis für meine eigene Sammlung zu entwickeln. Ich habe mir auf einmal die Frage gestellt: Warum hast du nur diese einhundertfünfzig Fotos zusammengetragen? Was ist in deinem Kopf vorgegangen? Gibt es da irgendeine Verbindung, einen roten Faden? Ich habe also für jeden Fotografen einen eigenen Raum bespielt und das so genannte „gemeinsame Zimmer“ vom Ko-Kurator der Austellung, Christian Caujolle, arrangieren lassen. Und durch ihn und die Besucher der Ausstellung habe ich dann tatsächlich besser verstanden, was mich eigentlich an diesen Fotografien so interessierte.

Wird eine Sammlung erst dadurch sinnvoll, dass sie geteilt wird?
In gewisser Weise haben Sie Recht. Das Problem ist, dass die meisten Sammler, die ich kenne, große Egoisten sind. Sie sammeln für sich selbst. Sie kaufen bestimmte Dinge, um sie zu besitzen. Nicht so sehr, um sie zu teilen. Das ist eine Haltung, die mir ein wenig fremd ist. Denn wenn ich einen Künstler oder Filmemacher liebe, dann muss ich das zunächst einmal mitteilen.

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