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Das Buch zum filmischen Reichtum

| Andreas Ungerböck |

Ein umfangreicher Reader zum modernen festlandchinesischen Kino füllt eine Lücke in der deutschsprachigen (Wissenschafts-)Publizistik.

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Kaum ein anderes „fremdes“ Filmschaffen hat sich im Westen so nachhaltig festgesetzt wie das (volks-)chinesische, zumindest was den internationalen Festivalbetrieb betrifft, der seit Zhang Yimous Berlinale-Erfolg Das rote Kornfeld (1987) oder Chen Kaiges Cannes-Sieger Lebewohl, meine Konkubine (1993) vor chinesischen Filmen geradezu überbordet. Und das ist gut so, denn wie sonst könnte man das reichhaltige Filmschaffen der Volksrepublik kennen lernen, zumal es bis heute aus dem so genannten „kommerziellen“ Filmverleih so gut wie ausgeschlossen ist. Zu behaupten, dass dieser filmische Reichtum in der relevanten deutschsprachigen Filmpublizistik adäquate Beachtung gefunden hätte, wäre stark übertrieben, aber auch auf dem wissenschaftlichen Sektor ist bzw. war die Ausbeute vergleichsweise mager. Diesem Missstand zumindest scheint jetzt abgeholfen zu sein, wenn man sich den von Karl Sierek und Guido Kirsten herausgegebenen und bei Schüren erschienenen Band „Das chinesische Kino nach der Kulturrevolution. Theorien und Analysen“ ansieht. Der Reader ist Teil der traditionell hochwertigen Reihe „Zürcher Filmstudien“, die erfolgreich von Christine N. Brinckmann herausgegeben wird. Sierek, gebürtiger Österreicher und seit vielen Jahren Professor für Geschichte und Ästhetik der Medien in Jena, und Kirsten, zunächst in Jena und später in Zürich tätig, schließen eine Lücke, schon damit, dass der Band nicht – wie üblich – ausschließlich von westlichen Expertinnen und Experten (die hier vertretenen, wie Brinckmann, Chris Berry, Paul Clark oder Bérénice Reynaud, sind über jeden Zweifel erhaben) bestritten wird, sondern überwiegend von Stimmen aus der Volksrepublik selbst oder von im Ausland lebenden und unterrichtenden chinesischen Fachkräften. Darunter etwa Rey Chow, deren Buch „Primitive Passions“ (1995) bis heute zu den Standardwerken zum chinesischen Kino zählt, oder der Architekt und Filmtheoretiker Hao Dazheng, der hier mit einem älteren, aber höchst lesenswerten Grundlagentext über die visuelle Kultur Chinas vertreten ist. Nicht alle der (chinesischen) Artikel sind neu, aber es sind wichtige Aufsätze, die nun erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Das ist kein geringes Verdienst, auch oder gerade weil sich – wie Sierek und Kirsten in ihrem Vorwort schreiben – in der Konfrontation zwischen östlichen und westlichen Autoren mitunter kontroverse Ansichten und Ansätze offenbaren. Diese Diskrepanzen in den Texten nachzuverfolgen, ist durchaus lustvoll, denn die oft „romantische“ Sicht des Westens auf das fernöstliche Kino hatte der in Hongkong wirkende Publizist Stephen Teo schon vor gut 20 Jahren als das „T.E. Lawrence-Syndrom“ der okzidentalen Filmkritik verspottet. Besonders interessant in diesem Zusammenhang: Esther Yau über die „Westliche Analyse eines nicht-westlichen Texts“, nämlich Chen Kaiges Film Gelbe Erde. Ein weiteres Verdienst des 456 Seiten starken Buches ist die klare Strukturierung in fünf Sektionen, deren jeweilige Thematik (z.B. „Die Vierte Generation: Der Beginn des Modernismus“) erschöpfend behandelt wird, mal in Einzel-Filmanalysen (Jason McGrath über Jia Zhangkes Platform), mal in Porträts (Bérénice Reynaud über Zhang Yuan), mal in grundlegenderen Untersuchungen (Lukas Foerster über die Politik des Raums im chinesischen Dokumentarfilm). Wer am chinesischen Kino interessiert ist, sollte dieses Buch kennen.