Ella Raidel porträtiert in ihrem Buch „Subversive Realitäten“ den großen taiwanesischen Filmemacher Tsai Ming-liang.
1992 tauchte ein Regisseur kometenhaft im internationalen Festival-Circuit auf: ein 35-jähriger, noch völlig unbekannter, aus Malaysia stammender Taiwanese namens Tsai Ming-liang. Sein erster Kinofilm, Rebels of the Neon God, war genau so, wie es der Titel versprach: ein pulsierender, vorwiegend nächtlicher Ausschnitt aus der modernen Glitzermetropole Taipeh. Stets im Schlepptau hatte Tsai seinen jugendlichen Hauptdarsteller Lee Kang-sheng (in seinen Filmen stets „Xiao Kang“, kleiner Kang), einen stoischen, wortkargen jungen Mann, mit dem ihn seit nunmehr gut 25 Jahren eine enge, fast schon symbiotische Beziehung verbindet. Ihr Verhältnis erinnert an das zwischen François Truffaut und seinem „Antoine Doinel“ Jean-Pierre Léaud (siehe auch den DVD-Classic in diesem Heft). Dass Truffaut/Léaud Tsais Ikonen sind (Léaud spielt denn auch in Tsais What Time Is It There?, 2001, und in Visage, 2009), ist unübersehbar, ebenso wie die Tatsache, dass Lee Kang-sheng in allen seinen Filmen die Hauptrolle spielt, wobei „spielen“ den Sachverhalt nur ungenügend trifft. Lee ist Xiao Kang, und er folgte seinem Mentor und Regisseur in eine immer vertracktere filmische Welt. Denn wo andere Filmemacher mit wachsendem Festivalerfolg „breiter“ werden, entschloss sich Tsai, „spitzer“ zu werden. Das Resultat sind „Autorenfilme“ reinsten Wassers, ganz im Sinne der Nouvelle Vague, nur deutlich radikaler.
Der Linzer Filmemacherin und Filmwissenschafterin Ella Raidel kommt das Verdienst zu, mit ihrer bei Schüren verlegten Dissertation die erste umfassende deutschsprachige Publikation zu diesem großen Regisseur vorgelegt zu haben, und man muss vor allem ihren Zugang bewundern. Sie hat sich nicht auf Ferndiagnosen und Sekundärliteratur verlassen, sondern ist nach Taiwan gereist, um sozusagen eine Nahaufnahme des charismatischen, kompromisslosen Mannes einzufangen. Das ist ihr außerordentlich gut gelungen: Ausgehend von grundsätzlichen, sehr kenntnisreichen Überlegungen zu den thematischen und stilistischen Merkmalen von Tsais Arbeit (wie er es etwa schafft, in hochgradig ästhetisierten Filmen „realistische“ Porträts seiner Figuren und der taiwanesischen Gesellschaft zu zeichnen, wie er es bei aller scheinbaren Distanziertheit seines Blicks zuwege bringt, tiefe Emotionalität zu erzeugen) und einem sehr persönlichen Interview, das von gegenseitiger Sympathie zeugt und einige neue Einsichten bringt, analysiert sie sein Werk Film für Film.
Das ist zwar kein neuer Ansatz, ergibt aber gerade bei Tsai Ming-liang viel Sinn, weil seine Filme sozusagen „step by step“ immer wortkarger, immer „geschlossener“ werden – und trotzdem immer unterhaltsamer. Die verquere Komik, immer schon ein Markenzeichen des Filmemachers, hat Tsai etwa in What Time Is It There?, in dem Xiao Kang in Taipeh sämtliche Uhren auf Pariser Zeit (was sonst?) stellt, zur Meisterschaft gebracht. Raidel widmet sich sorgfältig den vielen Facetten von Tsais Werk, von seinem unerschrockenen Bekenntnis zur Homosexualität (im chinesischen Raum bis heute ein Tabu), über seine kühne Dekonstruktion von Patriarchat und Kleinfamilie bis hinzu seiner Rolle als (später) Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, dem er – gemeinsam mit Edward Yang, Wu Nien-jen und Hou Hsiao-Hsien und anderen – Weltgeltung verschafft hat.